Literatur / Sachbuch

Geschichte


Man wundert sich zwar ein bisschen, dass ein Buch als so bahnbrechend gelten kann, das die NS-Verstrickung einer deutschen Regierungsbehörde untersucht. Aber der Widerhall, den die 900-Seiten-Studie der von Joschka Fischer eingesetzten Historikerkommission erfahren hat, war doch eindeutig: Der Bericht "Das Amt und die Vergangenheit" ist bedeutend, denn noch nie wurde die Rolle des Auswärtigen Amts so gründlich und so schonungslos untersucht. Nach der Lektüre war für Nils Minkmar in der FAZ klar, dass das Auswärtige Amt insgesamt als "verbrecherische Organisation" eingestuft werden muss, in der FR registriert auch Arno Widmann mit Entsetzen, wie bereitwillig, wie offen und selbstbewusst das Auswärtige Amt am Holocaust mitgewirkt haben. Wie diese beiden Kritiker fragen sich auch Alexander Cammann in der Zeit und Joachim Güntner in der NZZ, wie die deutschen Diplomaten in der Nachkriegszeit das Bild von einer sauber gebliebenen Elite, die im Zweifel Schlimmeres verhindert habe, durchsetzen konnten. Aber wie unverfroren sie dies betrieben haben, wie sie ihre Mitwirkung am Holocaust verschleiert und ihre Nachkriegskarrieren organisiert haben - auch das stellt diese Studie in aller Ausführlichkeit dar.

Britische Historiker treiben ihren deutschen Kollegen regelmäßig die Tränen in die Augen: Weil sie so souverän erzählen können! Und weil sie große Globalgeschichten schreiben können, ohne Oswald-Spengler-haft zu werden. Große Bewunderung also für John Darwins Buch "Der imperiale Traum" das die Geschichte großer Reiche von 1400 bis 2000 erzählt. Ein "gewichtiger Beitrag" zur Weltgeschichte, meint Dirk van Laak in der Zeit. In der SZ schätzt Detlev Claussen besonders den multiperspektivischen, ganz un-eurozentrischen Blick des Autors, der die Welt auch aus Sicht der Chinesen, Japaner oder Inder schildert. In der NZZ betonte Herfried Münkler den erstaunlich ökonomischen Fokus dieser Imperialgeschichte.

Beachtung fand auch der britische Historiker Thomas Asbridge mit seiner Geschichte der "Kreuzzüge" Darin vertritt er die These, dass die Folgen der Kreuzzüge eigentlich überschätzt sind. Trotz aller päpstlichen Predigten und Legenden von Richard Löwenherz und Saladin, folgenreicher als der große "Zusammenstoß der Kulturen" waren die venezianischen Handelsstützpunkte in der Levante. Sehr erfrischend findet dies der Historiker Valentin Groebner in der Zeit. In der FAZ genießt Michael Borgolte diese subtile Kreuzzugsgeschichte, aber mit Vorsicht. In der SZ verwirft Christian Jostmann das Buch als stilistisch und methodologisch altväterlich.

Wie die Faust aufs Auge passt "Der Hauslehrer" in die Debatten um Kindesmisshandlungen in Kirche und Reformpädagogik. Der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner beleuchtet darin den Fall des Hauslehrers Andreas Dippold, der die ihm anvertrauten Söhne des Berliner Bankiers Rudolf Koch solange prügelte, bis einer von ihnen starb. Zunächst stieß der Lehrer noch allseits auf Verständnis - die Söhne galten als verweichlicht und masturbierten! -, doch im Laufe des Prozesses gegen ihn wurde er zur sadistischen Bestie stilisiert und der Dippoldismus als Krankheitsbild für pathologisches Prügeln eingeführt. In der Zeit lobte Elisabeth von Thadden das Buch als Lehrstück, das niemandem etwas beibringen will, aber alle klüger mache. In der SZ nennt es Jutta Person ein "Meisterstück. Nur Hans Ulrich Gumbrecht zeigt sich in der NZZ unzufrieden: Er hätte sich eine These gewünscht.

Ergriffen berichten die Rezensenten von Daniel Mendelsohns Buch "Die Verlorenen" Der amerikanische Kritiker und Altphilologie begibt sich auf die Suche nach seinen im Holocaust ermordeten Verwandten: den Fleischhändler Schmiel Jäger aus dem galizischen Bolechow, seine Frau Esther und ihre vier Töchter. Akribisch recherchiert Mendelsohn ihre Geschichte, reist in die Ukraine, nach Australien und Israel, spürt einstige Bekannte und Nachbarn auf, die dem Schrecken entkommen sind. In der FAZ zeigt sich Nils Minkmar sehr beeindruckt von Mendelsohns literarischem Talent, aber auch sehr aufgewühlt von der bewegenden Geschichte: "Obwohl dies ein besonders gutes Buch ist, muss man es manchmal weg legen." In der FR fühlt sich Angela Gutzeit manchmal schier erschlagen von der Fülle der Fakten und Fäden.


Biografien

Man muss sich auf einige unerklärliche Wendungen und Widersprüchlichkeiten gefasst machen in der dramatischen Lebensgeschichte des Simon Wiesenthals, die der israelische Historiker Tom Segev nach Sichtung der 300.000 pedantisch geordneten Dokumente aus dem Nachlass in seiner Wiesenthal-Biografie erzählt: die Haft im Konzentrationslager Mauthausen, die Jagd auf Eichmann, Bormann, Mengele und ungefähr achthundert weitere Altnazis, der tiefe Humanismus, die Egomanie, das Desinteresse an der Lage der Palästinenser, die Freundschaft mit Albert Speer, die Feindschaft zu Bruno Kreisky - wie passt das alles zusammen? In der FR lobt Renate Wiggershaus Segevs Darstellung, die all diesen Widersprüchlichkeiten Rechnung trage, als "bravourös und sensibel". Im Tagesspiegel bescheinigt Igal Avidan dem Biografen Empathie und kritisches Urteilsvermögen gleichermaßen und vor allem die erfolgreiche Trennung von Fakten und Legenden. In der taz führte Ulrich Gutmair ein interessantes Interview mit Segev, der darin den Österreichern ordentlich eins mitgibt: "Sie haben es überhaupt nicht verdient, dass es so einen Wiesenthal gab in Österreich."

Auch Jürgen Peter Schmieds Biografie des schillernden Publizisten "Sebastian Haffner" wurde überwiegend positiv aufgenommen. In der SZ sieht Stephan Speicher hier einen Mann porträtiert, der bei allen wechselvollen Geschicken nach dem Krieg nicht immer klug, aber meist mit Gespür für Dramatik und großem sprachlichen Talent urteilte. Vielleicht war Haffner einfach zu künstlerisch veranlagt für einen Journalisten oder gar einen Historiker, überlegt Speicher. In der Zeit kann Alexander Cammann nach Lektüre der Biografie gewisse feuilletonistische Ambitionen des 13-Jährigen Haffner zu Protokoll geben: "Ich empfinde direkt Wollust, wenn man sich so um mich aufregt."


Politik

Ganz klar das meistdiskutierte und meistverkaufte Buch der Saison: Thilo Sarrazins "Deutschland schafft sich ab" Sarrazin hätte mit seiner Diagnose einer gescheiterten Integrationspolitik neuen Schwung in die Debatte bringen können. Aber er machte es den Zeitungen leicht, diesen Punkt zu ignorieren. Sie beschäftigten sich fast ausnahmslos mit seinen fragwürdigen Thesen zu Vererbung, Intelligenz und der genetischen Beschaffenheit verschiedener Kulturen. Einen Überblick über die verschiedenen Positionen zu dem Buch haben wir im September gegeben.

Noch ein Stich ins Wespennest: Alice Schwarzers Band "Die große Verschleierung" versammelt verschiedene, zum großen Teil bereits vor einigen Jahren veröffentlichte Beiträge zur Debatte um Kopftuch, Islam und die Rechte von Frauen. Den Herren der Feuilletons sträubten sich die Nackenhaare: In der FAZ warf Patrick Bahners Schwarzer "jakobinischen Feminismismus", Islamfeindlichkeit und Sympathien für Sarkozy vor, in der SZ erkannte Thomas Steinfeld auf Männer- und Fremdenfeindlichkeit. Iris Radisch empfiehlt in der Zeit das Buch dagegen als wichtigen Beitrag zur etwas aus der Bahn gelaufenen Integrationsdebatte. In der Presse stellte sich Anne-Catherine Simon hinter Schwarzer. Hingewiesen sei auch noch einmal auf "Das Ende der Geduld" der Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig. Bis zu ihrem Selbstmord war sie umstritten und wurde von sozialpädagogisch gesonnenen Journalisten in die rechte Ecke gestellt. Nach Sarrazin galt sie dann aber als positives Gegenbeispiel. Ein ausführliches Porträt Heisigs lässt sich in der ARD-Mediathek nachhören. Und Necla Kelek porträtierte Heisig für Emma.

Mit ihrer Streitschrift "Der Konflikt" war Alice Schwarzers französische Schwester, die Feministin Elisabeth Badinter, zwar auf vielen Kanälen vertreten, aber eine Debatte hat sie trotzdem nicht wirklich entfacht. Wogegen Badinter anschreibt, ist der wachsende Druck, der auf Frauen im Namen der guten und natürlichen Mutterschaft ausgeübt wird, der sie drängt, so lange wie möglich das Kind zu stillen, die Windeln wieder zu waschen und den Brei selber zu kochen. Eine Allianz aus Ökologen und Reaktionären sieht Badinter am Werk, die die Frauen an Heim und Herd fesseln und in Frankreich Verhältnisse wie in Deutschland, Italien und Japan einführen wolle. In der taz stellt sich Barbara Vinken, selbst Autorin eines Buchs über den Mythos der "Deutschen Mutter", ganz auf Badinters Seite, gibt aber zu bedenken, dass hierzulande der Konflikt zwischen Frau und Mutter längst zugunsten der Mutter entschieden ist - zumindest ideologisch, wenn auch nicht nach der mickrigen Geburtenrate! Hier eine

Wolfgang Kraushaars Buch "Verena Becker und der Verfassungsschutz" hat weniger die Feuilletons beschäftigt als die politischen Seiten, kein Wunder, birgt es doch immerhin den Stoff für eine Staatsaffäre in sich: Der Hamburger Soziologe, der sich sehr um die Aufarbeitung von 1968 und die RAF verdient gemacht hat, geht dem Verdacht nach, dass Verena Becker bereits wesentlich länger als bisher bekannt als Informantin für den Verfassungsschutz gearbeitet hat, nämlich bereits zu der Zeit, als die RAF das Attentat auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback plante und durchführte. Hieb- und stichfeste Beweise hat Kraushaar für diese ungeheuerliche Vermutung nicht, Indizien durchaus, meint Wolfgang Gast in der taz und findet die Darstellung nicht unplausibel. Skeptisch bleibt dagegen Frank Bachner im Tagesspiegel, der allerdings auch auf die nach wie vor bestehenden Ungereimtheiten in diesem Fall hinweist. Hier eine


Kunst

Warum sehen die modernen Museen in Paris, London und New York eigentlich alle gleich und so geordnet aus? Wie im Zoo die Elefanten nach den Nashörnern kommen, meint der Kunstkritiker Christian Demand in seinem Buch "Wie kommt die Ordnung in die Kunst?" so hängen in Museen fein säuberlich von einander getrennt die Kubisten und die Suprematisten, die abstrakten Expressionisten und die Pop-Artisten. Ein schönes Ende für den Tornado, der die Moderne einmal sein wollte! Nachdem sich Demand in "Die Beschämung der Philister" bereits die Verbandelung von Kunstbetrieb und Kritik vorgeknöpft hat, nimmt er nun die Ausstellungspraxis ins Visier. In der Zeit reibt sich Hanno Rauterberg die Hände vor Freude über so viel kunstkritische Angriffslust. In der FAZ goutiert Peter Geimer zwar Demands kämpferische Schrift, vermisst aber in den Konsequenzen etwas Sprengkraft. In Art.net nennt Jörg Scheller Demand eine der wichtigsten Stimme im Kunstdiskurs und weiß es sehr zu schätzen, dass dieser sich trotz Professur den kritischen Blick auf den Betrieb bewahrt hat.

Echte Fans hat dieses Hörbuch mit Originaltonaufnahmen von Martin Kippenberger gefunden. "I was born under a wand'rin' star" versammelt Kippenbergers Gespräche mit Diedrich Diederichsen über seine Kunst, meist vor dem Hintergrund einer sehr authentischen Kneipenakustik. Eine Offenbarung! In der SZ beschreibt Holger Liebs die berauschende Wirkung des Hörens: "Es ist ein neues Sehen, das sich einstellt." In der Zeit ging Alexander Cammann auf die Knie: Hier seien die Kunst und das Sprechen über sie noch heilig! Nur einmal kurz besprochen wurde die Wiederauflage von Tanizaki Jun'ichiros berühmtem Essay "Lob der Meisterschaft" von Arno Widmann in der FR, dies aber sehr ehrfürchtig. Jun'ichiro verteidigt darin japanische Ästhetik und das handwerkliche Prinzip der Könnerschaft gegen das westliche Ideal der Kunst als intellektuelle Leistung.


Literatur und Philosophie

Prägt die Sprache das Weltbild? Determiniert sie Denken und Verhalten der Menschen? Die großen und ewigen Fragen der Linguistik nimmt sich Guy Deutscher in seinem Buch "Im Spiegel der Sprache" vor, und die Kritiker von FAZ bis SZ folgten ihm mit großer Freude. Zum einen, weil Deutscher nicht nur für einen Linguisten bemerkenswert unterhaltsam, wie Ulrich Greiner in der Zeit versichert. Zum anderen wegen der vielen faszinierenden Beispiele. So erzählt Deutscher etwa vom peruanischen Regenwaldstamm der Matse, die immer genau angeben müssen, aus welcher Quelle sie eine Information haben. Oder von den australischen Guugu Yimithirr, die keine Wörter für rechts und links haben, aber einen unschlagbaren Orientierungssinn: Sie geben alle Orte in Himmelsrichtungen an. (hier ein Auszug in der NYT)

Für Proust-Fans: Eric Karpeles' "Marcel Proust und die Gemälde aus der Verlorenen Zeit" versammelt alle Gemälde, die in seinem Recherche-Monumentalwerk vorkommen. Genial findet diese Idee Tobias Schwartz in der taz. In der NZZ schätzt Luzius Keller besonders, dass hier die großen Kunstwerke von Vermeer bis Botticelli, die Prousts Ästhetik prägten, genauso vertreten sind wie all die mittelmäßigen, denen im Salon der Madame Verdurin gehuldigt wurde. Für Barthes-Fans: In der FAZ hat Jochen Schimmang mit einer wahren Hymne Roland Barthes' "Mythen des Alltags" begrüßt, die nun erstmals vollständig vorliegen - 46 Jahre lang waren ihm 34 der 53 Texte auf Deutsch vorenthalten worden. Reinste "Lust am Text" verspricht Schimmang.

In Theater- und Kunstkreisen steht der italienische Philosoph Giorgio Agamben nach wie vor hoch im Kurs, nachhaltige Anhängerschaft sichert ihm eine sehr eigene Mischung aus Systemkritik, Widerstandspathos und Theologie. In "Herrschaft und Herrlichkeit" schließt Agamben Machttheorie mit Engelsforschung kurz und stößt damit auf teils ratlose teils wütende Kritiker. Irgendwie anregend, aber doch ein bisschen lax findet die taz Agambens Denkens. In der Zeit sieht Claude Haas bei Agamben vor allem viel Selbstherrlichkeit und alle Theorie zur "schlechtgeführten Mülldeponie" degradiert. In der SZ widmete sich Johan Schloemann in einem weitausholenden Text Agambens starker Wirkung, findet viel Gelehrtes und Lehrreiches in dem Buch, verwirft es aber letztlich wegen "plattester Medien- und Demokratiekritik, ja Demokratiefeindlichkeit". In der NZZ hingegen zeigte sich Bernhard Lang sehr angeregt von dieser "Kriegserklärung an die Herrschaft".

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