Außer Atem: Das Berlinale Blog

Dieses Außerirdische im Sozialen

Von Nikolaus Perneczky
08.02.2014. Ken Loachs Filme überzeugen immer dann, wenn sich der Charme der Realität in sein Freund-Feind-Schema einschleicht. Bei seinen frühen Arbeiten geschieht das häufiger. Einige Eindrücke von der Hommage
Weit über fünfzig Arbeiten für Film und Fernsehen hat Ken Loach seit den frühen Sechzigerjahren realisiert: ein mitlaufender, ungebrochen klassenkämpferischer Kommentar zur britischen Nachkriegsgeschichte. Mit "The Spirit of '45", zu sehen auf der letztjährigen Berlinale, hatte Loach dann so etwas wie den Gründungsmythos zu seinem Weltbild nachgereicht; in diesem Jahr verleiht ihm das Festival den goldenen Ehrenbären fürs Lebenswerk, aus welchem Anlass eine sehr bescheidene Auswahl seiner Filme als "Hommage" präsentiert wird (dem Vernehmen nach bei mieser Kopienlage, aber wer sucht, wird auch im Netz fündig).

Das politische Koordinatensystem – Ächter werden sagen: das Freund-Feind-Schema – von Ken Loach ist sich über die Jahre treu geblieben: aufrechte Arbeiter, Migranten, Spanienkämpfer hier, rückgratlose Kapitalisten, Geldeintreiber, Funktionäre da. Nicht dass er ganz falsch läge. Aber wie diese Figuren ein ums andere Mal den immer gleichen Mechanismen eingepasst werden, die Loachs moralinsaure Passionsgeschichten antreiben, kann auf Dauer auch politische Sympathisanten in die Verzweiflung treiben. Was genau sich die Berlinale dabei gedacht hat, auf die Ehrung Claude Lanzmanns im vergangenen Jahr nun ausgerechnet Ken Loach folgen zu lassen, der in letzter Zeit vor allem mit unglücklichen Verlautbarungen zum Nahostkonflikt aufgefallen ist (den Anstieg antisemitischer Gewalt in Europa bezeichnete er als "not surprising and understandable")? Wahrscheinlich: gar nichts.




Man kann viel gegen Ken Loach vorbringen. Aber man kann von ihm doch mindestens genauso viel lernen über die britischen Zustände im letzten halben Jahrhundert. Vor allem unter den früheren und hierzulande weniger bekannten Arbeiten sind noch Entdeckungen zu machen. Der früheste Film der Auswahl ist "Cathy Come Home", von Loach 1966 im Rahmen des BBC-Fernsehspiels "The Wednesday Play" realisiert. Eine junge Frau irgendwo aus der Provinz sitzt im Bus auf dem Weg nach London. Eigentlich ist es ihr egal wohin, nur raus aus der ländlich-kleinbürgerlichen Beklemmung. In kleinen, charmanten Vignetten erzählt Loach, wie Cathy sich verliebt, heiratet, mit ihrem Mann, einem Bauarbeiter, die erste gemeinsame Wohnung bezieht. Just als Cathy zum ersten Mal schwanger wird erleidet ihr Mann einen Arbeitsunfall – und der allmähliche, bis in die Obdachlosigkeit führende soziale Abstieg, den der Rest des Films schildern wird, nimmt seinen Lauf.

Loachs zahnradartiges Gesellschaftsmodell ist hier zwar schon in Stellung gebracht, aber es wird immer wieder ausgeglichen beziehungsweise suspendiert von dokumentarischen Einsprengseln, die sich unvermittelt in die – selbst improvisiert wirkenden –Spielszenen mischen. Was enge, undichte und unzureichend beheizte Wohnräume aus ihren Bewohnern machen: das ist das eigentliche Thema dieses erschütternden Kolportagestücks, das nach der Reihe in die Slums, Wagenburgen und staatlichen Auffanglager von London führt. Loach filmte an Originalschauplätzen und, so stelle ich mir vor, in Zusammenarbeit mit den Anrainern, deren Geschichten mitunter ins Drehbuch eingelassen wurden oder sich schlicht als nicht genau zuordenbarer Off-Kommentar über die Bilder legen. Diese Durchlässigkeit von "Cathy Come Home" gegenüber der Welt kündet von einem ganz anderen Begriff von Milieustudie als man ihn aus Loachs späteren Filmen kennt, wo jeder Ausdruck von Spontaneität sofort in seinen politischen Implikationen dingfest gemacht und stillgestellt wird.

Auch Cathy selbst ist interessanter als viele spätere Loach-Figuren, weil sie der Arbeiterklasse (und später dem Lumpenproletariat), in deren Mitte sie lebt, nicht von Geburt zugehört, sondern sich, ganz am Beginn des Films, gleichsam zu diesem Leben entscheidet. Bis kurz vor dem bitteren Ende wird sie an ihrem Entschluss festhalten: nie habe sie in dem "respectable home" ihrer Herkunft solche Liebe und Solidarität erfahren wie unter den Ärmsten der Armen. Das ist nah an der Armutsromantik, aber doch etwas ganz anderes: eine Freiheit in höchster Not, von der doch kein Glanz zurückfällt auf die falsche Welt. Cathys berückendes Lächeln in Großaufnahme ist, wie man so schön sagt, "nicht von dieser Welt". Es ist genau dieses Außerirdische im Sozialen, was dem nachmaligen Großmeister des kitchen sink realism später leider abhanden kam.




Der zweite Film in der kleinen Reihe, ebenfalls noch aus den Sechzigern, ist Loachs zweiter Spielfilm (nach "Poor Cow"); mit ihm gelang Loach damals der internationale Durchbruch. In seinen schönsten, freigestellten Momenten hat "Kes" einige Ähnlichkeit mit Bill Douglas' semiautobiografischer schottischer Trilogie, vor allem mit deren Auftakt, "My Childhood" von 1972. In beiden Filmen ist der soziale Grundrealismus von Verunreinigungen und Störsignalen durchzogen, die jeweils etwas mit der kindlichen Perspektive darauf zu tun haben – und bei Loach außerdem mit der gezielt unwahrscheinlichen Setzung, dass der Arbeiterjunge Billy den feudal anmutenden Zeitvertreib der Falknerei für sich entdeckt. An Douglas reicht Loach dennoch nie heran, zu vorsortiert und kalkuliert bleibt jeder von Billys Ausbruchsversuchen: man weiß immer ganz genau, welche Lektion als nächstes kommt.

Noch eine Fernseharbeit, die das Wiedersehen lohnt, vom Anfang der Achtziger: "The Gamekeeper", wie "Kes" auf einem Roman von Barry Hines basierend, sieht auf den ersten Blick aus wie ein prozedural interessierter Dokumentarfilm. Titeleinblendungen geben Auskunft über die jahreszyklisch variierenden Aufgaben und Verantwortungen eines Wildhüters in South Yorkshire, wo adelige Landgüter an den sozialen Wohnbau rund um die Stahlstadt Sheffield grenzen: "Spring: Collecting and incubating the Pheasant eggs" oder "October: The Pheasants are ready", womit der Beginn der Jagdsaison markiert ist. Zum dokumentarischen Gestus passt die nüchterne Bildregie. Ellipsen strukturieren den Fortgang der Erzählung als hätte diese ein hier nicht vollständig zu rekonstruierendes Eigenleben, gesprochen wird (wie schon in "Kes") im breiten Dialekt der Yorkshiremen.

Aber "The Gamekeeper" wäre kein Film von Ken Loach, wenn es dabei ein Bewenden hätte. Bald schon zeichnen sich die ersten politischen Verwerfungen ab, ist es doch eine der vordringlichen Aufgaben des Wildhüters George, Wilderer und andere Eindringlinge aus den umliegenden Arbeitersiedlungen vom Anwesen des Lord Dronfield fernzuhalten. Überall wo Loach hinschaut, tun sich die Abgründe der britischen Klassengesellschaft auf – sogar in jener mittelenglischen Landschaft, die in "Kes" noch als naturschöner Sehnsuchtsort besetzt war.

Didaktisch folgt "The Gamekeeper" dem erwachenden Bewusstsein seines Protagonisten, der sich aber doch auch sperrt gegen die Heldenrolle in diesem auf produktive Weise verfehlten politischen Schaustück. One step forward, two steps backward: so Georges Gangart durch den an Veranlassungen zum Klassenkampf reichen Plot, nicht direkt ein Vollsympath, aber in seiner irgendwie ländlichen Trägheit doch intim und berührend charakterisiert. In einer Szene verirrt sich sein Dachshund in einem Fuchsbau, und George müht sich bis in den aufziehenden Abend hinein mit einer Schaufel ab, ihm einen Ausgang zu graben. So viel Sorge zeigt er um seine Mitmenschen selten, aber Loach (oder vielleicht auch einfach: das Bildmaterial) entzieht Georges Tierliebe solcher naheliegenden Kritik und besteht auf einem Rest, der auch mit den didaktischen Absichten des Films nicht mehr zu verrechnen ist: "There there, my little bugger!"

Nikolaus Perneczky

Alle Informationen zu den Filmen der Ken-Loach-Hommage hier. Termine für "The Gamekeeper" hier, für "Cathy" hier und für "Kes" hier.