9punkt - Die Debattenrundschau

Ja, dann ist das eben so

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.04.2024. Im Tagesspiegel diskutieren Nicole Deitelhoff und Peter Neumann über das Einfrieren des Kriegs gegen die Ukraine. In der SZ erklärt Marina Winkler, was sich hinter der russlandfreundlichen Rhetorik der slowakischen Regierung verbirgt: Das Ziel, den Rechtsstaat zu zerstören. Die taz entnimmt einer neue Studie, welche Strapazen Frauen auf sich nehmen müssen, die abtreiben wollen. Zwanzig Jahre Kopftuchverbot in Frankreich haben der Islamophobie die Türen geöffnet, glaubt der Guardian. Auf dem inzwischen aufgelösten Palästina-Kongress in Berlin wäre die Vernichtung des Staates Israels geplant worden, meint die FAZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.04.2024 finden Sie hier

Europa

Schon 1980, als die SPD sich gegen die Unterstützung der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc entschied, sei sie vom Kurs abgekommen, sagt der Historiker Jan Behrends, einer der Unterzeichner des Brandbriefs gegen die Russlandpolitik der SPD (Unser Resümee), im FR-Gespräch, in dem er allerdings auch Merkels Russlandpolitik in Erinnerung ruft: "Die Russlandpolitik unter Merkel wurde im Kanzleramt gemacht und nicht im Auswärtigen Amt. Deshalb wird man die Kanzlerin nicht aus ihrer Verantwortung lassen können für Nord Stream, für Minsk und für die mangelnde Hilfe für die Ukraine. Was die SPD angeht, ist es die Tradition der Ostpolitik gewesen, die zu dem Glauben führte, wenn man Russland nur entgegenkommt, würden wir eine Art ewigen Frieden in Europa erreichen. Die SPD hat nicht verstanden, dass in Putins Russland Entgegenkommen als Schwäche gewertet wurde und Schwäche zu weiterer Aggression führt. Außerdem hat die SPD vor 2022 ignoriert, dass Russland heute eine revisionistische Macht ist, die bereit ist, die Ordnung in Europa durch Krieg zu verändern."

Behrends verlangt auch klarere Kommunikation von Olaf Scholz, was beim Kanzler allerdings noch nicht angekommen zu sein scheint. Im taz-Gespräch schließt Scholz immerhin Gespräche mit Putin auf unabsehbare Zeit aus, verspricht weitere Waffenlieferungen an die Ukraine und lässt eine Spur von Kritik an der Russlandpolitik der letzten Jahre erahnen: "Der russische Machthaber Putin will Grenzen mit Gewalt verschieben. Damit bedroht er die gesamte Friedensordnung Europas. Und das, was er jetzt tut, hat er lange vorher angekündigt. In Aufsätzen und Reden behauptete er, Belarus und die Ukraine seien keine eigenständigen Länder, sondern gehörten zu Russland. Wir alle hätten das wörtlich nehmen sollen."

"Der Westen verhält sich wie ein Dinosaurier. Er versucht mit aller Kraft, die Welt so einzufrieren, wie sie in den 1990er Jahre war", sagt der Politikwissenschaftler Peter Neumann im Gespräch, das der Tagesspiegel mit ihm und der Politologin Nicole Deitelhoff geführt hat. Für den Krieg in Nahost sehen beide Hoffnung, wenn regionale Akteure wie Katar und Saudi-Arabien eingreifen. Düsterer sieht es für die Ukraine aus, die weiterhin massiv von der Unterstützung des Westens abhängt. Neumann prognostiziert: "Die Ukraine wird 2025 wahrscheinlich in eine Situation gezwungen werden, wo es für sie am besten ist, wenn der Konflikt dort eingefroren wird, wo er steht. Das ist natürlich nicht wünschenswert." Deitelhoff erwidert: "Ob es zu einem solchen Einfrieren kommt und auf welchen Stand das erfolgt, oder ob Russland vielleicht doch Verhandlungsbereitschaft zeigt, weil ihm die Luft ausgeht, wird davon abhängen, wie weit der Westen mit seiner effektiven Unterstützung geht. Dafür ist es aber nicht nur nötig, die Kapazitäten hochzufahren, sondern in eine offene Debatte darüber einzusteigen, was das kostet und warum es das vielleicht dennoch wert ist."
 
Zu sehr wurde in der europäischen Öffentlichkeit auf die russlandfreundliche Rhetorik des slowakischen Premierministers Robert Fico und des Präsidenten Peter Pellegrini geachtet, warnt die Historiker Marina Winkler in der SZ. Dahinter verberge sich viel mehr, nämlich die Zerstörung der Demokratie in der Slowakei, die bereits mit dem Umbau von Staatsanwaltschaft und Polizei begonnen habe: "Das Ziel ist klar: Die zahlreichen der Korruption angeklagten Politiker im Umkreis der Regierung sollten der Strafverfolgung entgehen. Fico und andere Regierungspolitiker halten mit ihren Plänen nicht hinter dem Berg. Sie haben bereits angekündigt, auch die Gerichte einschließlich des Verfassungsgerichts kontrollieren zu wollen. Auch die Leitung des Geheimdienstes haben sie im Visier, ebenso den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Kritische freie Medien werden aggressiv beschimpft und finanziell unter Druck gesetzt, ebenso wie NGOs und individuelle Stimmen aus der Zivilgesellschaft."

Der schon im Vorfeld äußerst umstrittene israelfeindliche Palästina-Kongress in Berlin (Unsere Resümees), der für drei Tage angesetzt war, ist nach etwa zwei Stunden aufgelöst worden, nachdem per Video eine Rede des palästinensischen Autors Salman Abu Sitta gestreamt wurde, gegen den in Deutschland ein politisches Betätigungsverbot vorliegt. Für ZeitOnline fasst Christian Vooren die Ereignisse um den Kongress zusammen, dessen Rednerliste sich las, wie "wie ein Namensverzeichnis bekannter Antisemiten und Antizionisten. Als einer der Topredner war außerdem der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis erwartet worden, er wollte sich per Livestream zuschalten. Fragen von Journalisten sowie deren bloße Anwesenheit waren auch nicht erwünscht, nur ein paar wenigen Vertretern linker bis linksextremer Medien sollte Zugang gewährt werden. Also sind viele Menschen den Nachmittag über damit beschäftigt, ihre karierten Tücher möglichst flächendeckend vor möglichst viele Kameras zu halten, um die Sicht zu versperren."

Salman Abu Sitta ist jener palästinensische Autor, der kürzlich "bekannt hat, dass er, wäre er nur jünger gewesen, sehr gerne teilgenommen hätte an den bestialischen Massakern des 7. Oktobers, von denen sich der ganze Kongress offenbar nicht distanzieren will", klärt Claudius Seidl in der FAZ auf: "Man überspitzt also nur ein bisschen, wenn man sagt, dass hier erste Vorarbeiten zur Planung der Vertreibung und Ermordung sehr vieler Juden geleistet werden sollen. (…) Was für ein Unsinn, werden, wenn die Konferenz doch noch verboten wird, die üblichen Aktivisten und BDS-Leute sagen; es kommen doch auch Wissenschaftler und Theoretiker, die in ihren Kreisen weltberühmt sind; und dass sich Deutschland damit noch weiter provinzialisiere und zum Gespött der Welt mache. Worauf man nur antworten kann: Ja, dann ist es eben so. Besser das Gespött der Welt sein als der Ort, an dem auf die Vernichtung des Staats Israel hingearbeitet wird."

Gemeldet wird außerdem, dass Unbekannte bei Dussmann auf der Friedrichstraße sämtliche ausliegenden Exemplare von Philipp Peyman Engels Buch "Deutsche Lebenslügen. Der Antisemitismus, wieder und immer noch" beschädigt haben. Marie Schmidt meint dazu in der SZ: "Solche Fälle zu bagatellisieren und schlimmstenfalls zur Alltäglichkeit werden zu lassen, würde bedeuten, dass die Autorinnen und Autoren der angegriffenen Bücher jedes Mal an Sicherheit und Alltäglichkeit einbüßen. Dass Lesungen und Veranstaltungen jüdischer Schriftstellerinnen und Autoren von Sicherheitspersonal begleitet werden müssen, ist schon jetzt mühsame Realität."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Aufsehen erregte diese Woche nicht nur ein Bericht, der zu dem Schluss kommt, die grundsätzliche Rechtswidrigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen sei "nach verfassungs-, völker- und europarechtlicher Prüfung 'nicht haltbar'"(Unser Resümee). Es wurden auch die Ergebnisse der Elsa-Studie vorgelegt, in der ein Team um die Fuldaer Wissenschaftlerin Daphne Hahn die prekäre Versorgungslage von ungewollt Schwangereren untersuchte, berichten Patricia Hecht und Dinah Riese in der taz: "Mehr als jede vierte Frau musste mehr als eine Einrichtung kontaktieren, um einen Termin für einen Abbruch zu bekommen. 15 Prozent mussten für den Eingriff weiter als 50 Kilometer fahren, mitunter sogar weiter als 100 Kilometer. Was auch daran liegt, dass die Zahl der Ärzt*innen, die Abbrüche vornehmen, seit Jahren sinkt. Rund 100.000 Abbrüche gibt es jedes Jahr, aber nur rund 1.100 Stellen melden derzeit, dass sie diese durchführen - die Zahl hat sich seit 2003 fast halbiert."

Das 2004 in Frankreich verabschiedete Kopftuchverbot hat "einer unerbittlichen Islamophobie Tür und Tor geöffnet, die sich in einer Fixierung auf das Aussehen muslimischer Frauen und Mädchen verkörpert", behauptet die französische Journalistin und Autorin Rokhaya Diallo im Guardian: "Hidschab tragende Sportlerinnen wurden inzwischen aus den Teams ausgeschlossen und durften ihren Sport nicht ausüben, auch nicht bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris. Ironischerweise dürfen französische Sportlerinnen in ihrem eigenen Land keinen Hidschab tragen, während die Regeln des Internationalen Olympischen Komitees Frauen aus anderen Ländern erlauben, mit Hidschabs anzutreten. Unternehmen in Privatbesitz sind nicht wie der öffentliche Sektor an die Regeln des Laizismus gebunden. Doch die Verwirrung ist so groß, dass viele so tun, als ob sie es wären, wie eine Kontroverse in dieser Woche über die Behandlung einer Hidschab tragenden Aushilfskraft in einem Schuhgeschäft in Straßburg zeigte. Laizismus, konzipiert zum Schutz der Freiheit, ist zu einem Instrument der Belästigung, Demütigung und Ausgrenzung geworden."
Archiv: Gesellschaft

Politik

In der taz wirft Andi Schoon einen Blick auf das wechselhafte Verhältnis zwischen Israel und Südafrika: Schon um die Jahrhundertwende waren viele osteuropäische Juden vor Pogromen nach Südafrika geflüchtet. "Die Nürnberger Gesetze des NS-Regimes brachten dann nach 1933 zahlreiche jüdische Flüchtlinge just in dem Moment nach Südafrika, als der Afrikaanernationalismus im Land mit dem Hitlerfaschismus zu sympathisieren begann. Als letztes Flüchtlingsschiff erreichte 1936 der Dampfer 'Stuttgart' mit mehr als 500 jüdischen Deutschen an Bord Kapstadt, empfangen von einer antisemitischen Protestdemonstration. Danach legte die südafrikanische Regierung eine Quote für jüdische Flüchtlinge fest und erklärte sie sogleich für ausgeschöpft. Im aufkommenden Kalten Krieg verstärkte sich eine diffuse Identifikation zwischen Israel und dem weißen Südafrika. Der Beginn der institutionalisierten Apartheid war im Mai 1948 genau mit der Staatsgründung Israels zusammengefallen. Südafrika war eines der ersten Länder weltweit, das Israel anerkannte."

Auf den Seiten Bilder und Zeiten der FAZ schaut Frauke Steffens indes auf die amerikanischen Debatten über die amerikanischen Juden. "Das Goldene Zeitalter der amerikanischen Juden geht zu Ende" hatte The Atlantic bezugnehmend auf einen Artikel von Franklin Foer über wachsenden rechten und linken Antisemitismus in den USA getitelt, während der jüdische Journalist Peter Beinart in der New York Times die amerikanischen Juden aufrief, "ihren linken oder liberalen Überzeugungen Vorrang vor der Loyalität zu Israel zu geben." Steffens schreibt dazu: "War die Kritik der älteren Generation an Israel noch 'aus Liebe geboren', wie es auch Foer formuliert, sehen Demoskopen unter den Jungen deutliche Veränderungen. Vor drei Jahren fand etwa das 'Jewish Electorate Institute' heraus, dass achtunddreißig Prozent der amerikanischen Juden im Alter von unter vierzig der Aussage zustimmten, Israel sei ein 'Apartheid-Staat'. Im November waren dem Institut zufolge neunundvierzig Prozent der jüdischen Wähler zwischen achtzehn und fünfunddreißig Jahren gegen weitere amerikanische Militärhilfen an Israel."
Archiv: Politik

Ideen

Die "per Staatsräson abgestützte Verbotspraxis ist auch eine Selbstbeschädigung", kommentiert Stefan Reinecke in der taz nicht nur die Ausladung von Nancy Fraser: "Faktisch trifft diese Antiantisemitismus-Cancel-Culture auffällig oft linke Jüdinnen wie Breitz, Gessen oder Fraser. Genau jene Medien, die sonst heftig vor links-woker Cancel-Culture warnen, winken diese hier lässig durch. Jürgen Kaube stellt in der FAZ treuherzig fest, mit einer 'Einschränkung der Meinungsfreiheit' habe der Fall Fraser gar nichts zu tun. Auch diese rhetorischen Nebelkerzen können nicht verhüllen, dass sich hier rasant eine Verbotspraxis verfestigt."
Archiv: Ideen

Geschichte

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Der britische Journalist Sathnam Sanghera hat ein Buch über das britische Empire geschrieben. Im NZZ-Gespräch erklärt er, wie widersprüchlich dessen Vermächtnis ist: "Man kann nicht abstreiten, dass es die Verbreitung der Demokratie gefördert hat - zum Beispiel in Indien oder Australien. Das Empire schuf auch massive geopolitische Instabilität in Palästina, Nigeria, dem Irak oder dem Sudan. Das Empire war involviert in den Sklavenhandel, aber später auch an dessen Abschaffung beteiligt. Es hat die freie Presse und gleichzeitig deren Zensur verbreitet."


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In ihrem Buch "Eisernes Schweigen" erzählt Traudl Bünger von ihrem Vater, dem rechtsradikalen Aktivisten Heinrich Bünger, der im Rahmen des Südtirolkonflikts 1962 einen mörderischen Bombenanschlag in Verona verübt hat. Im FAS-Gespräch versucht sie dessen Motive zu ergründen: "Bei allem, was ich über meinen Vater weiß, komme ich nicht umhin, anzunehmen, dass es ihm auch um das deutsche Volk und um Deutschland gegangen ist. Die Ostgebiete zum Beispiel waren immer ein Thema für ihn, zeit seines Leben ist er 'zu den Polen' gefahren und nicht 'nach Polen'. Ich hatte mit einem Historiker Kontakt, der die These vertritt, dass Teile der frühen Rechtsradikalen der jungen Bundesrepublik ihre Sehnsucht nach einem großen Deutschland, nach den Ostgebieten mit Südtirol sublimierten. An die Ostgebiete kam man nicht ran. Aber in Südtirol, da gab es den Konflikt, auf den man sich draufsetzen konnte. Südtirol wäre dann also eine Art Ersatzbefriedigung für die verlorenen Ostgebiete gewesen."
Archiv: Geschichte