9punkt - Die Debattenrundschau

Es liegt sehr viel Ungewisses in der Luft

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.03.2024. Putin lässt sich am Wochenende seine "Wiederwahl" fabrizieren. Aber der Krieg kommt nicht noch, er ist schon, schreiben Daniel Cohn-Bendit und Claus Leggewie in der taz. Eine Gesellschaft, die ihre "Verletzlichkeit" ins Zentrum stellt, endet im Zwang, fürchtet die Juristin Frauke Rostalski in der Zeit. Was Judith Butler betreibt, ist eine Auslöschung der Differenzen im Namen der Fluidität, diagnostiziert Jan Feddersen in der taz. Aufruhr an der Saar: Nach der Absage einer Candice-Breitz-Ausstellung im November geht's immer noch drunter und drüber, berichtet der Saarländische Rundfunk.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.03.2024 finden Sie hier

Europa

Am Wochenende lässt sich Wladimir Putin seine Wiederwahl fabrizieren. Inna Hartwich porträtiert ihn in der taz als einen "Gekränkten", der sich rächt. Auf der Meinungsseite der taz schreiben Daniel Cohn-Bendit und Claus Leggewie: "Putins Angriff gilt nicht allein der 'Rückeroberung' (wie er es sieht) der Ukraine, er gilt auch den westlichen Demokratien als freiheitliche Lebensform. Sehr wirksam hat Russland den Spaltpilz in die Europäische Union gepflanzt, die Erosion der Nato betrieben und nicht zuletzt gemeinsam mit China eine Allianz des Globalen Südens gezimmert. Das sind keine Vorbereitungen für einen Krieg, das ist er bereits, noch angeheizt durch nukleare Vernichtungsdrohungen."

Dass das mit dem Krieg wörtlich zu verstehen ist, zeigt der Angriff auf den Nawalny-Mitarbeiter Leonid Wolkow in Litauen. Mit einem Hammer wurde er krankenhausreif geschlagen, berichtet unter anderem das russische Oppositionsmedium meduza.io: "Einige Stunden vor dem Angriff auf ihn sprach Leonid Wolkow mit Meduza über die Bedrohungen, denen Nawalnys Mitarbeiter nach dem Tod des Oppositionellen ausgesetzt sind. 'Das größte Risiko ist jetzt, dass sie uns alle umbringen', sagte er. 'Aber das ist ja offensichtlich.'"

Der russischen Schriftsteller Maxim Ossipow, der seit 2022 in Amsterdam lebt, schreibt in der FAZ vor der "Wiederwahl" des Tyrannen eine Hommage auf Alexej Nawalny. Seine Depression aber kann er kaum verbergen: "Die Gesellschaft ist in einen Zustand der moralischen Katastrophe, der Ohnmacht abgetaucht, der wiederum bei Männern besonders ausgeprägt war. Weder ein Rückzug ins Berufs- oder Privatleben noch die Emigration retten vor dieser Katastrophe. Ja, es gibt den kleinen Freundeskreis, es gibt Facebook, das uns die öffentlichen Institutionen ersetzt und die Illusion erzeugt, dass wir mit Freunden zu tun haben; aber wenn man genauer hinschaut, sieht man, wie unser russisches Leben dahinschwindet."

Der Papst hat den Ukrainern neulich empfohlen die weiße Fahne zu hissen und mit Putin zu "verhandeln". Das ist bestenfalls als "sanftmütige Fürsorge getarnter Zynismus", konstatiert Richard Herzinger in seinem Blog: "Nein, Papst Franziskus redet nicht aus Naivität und Ahnungslosigkeit den Machthabern im Kreml nach dem Munde. Mit seiner Verdrehung der realen Verhältnisse legt er nahe, der Schlüssel zum 'Frieden' liege in Kiew und nicht etwa bei den Kriegsverbrechern in Moskau. Damit übernimmt er das Propagandakonstrukt des Kreml, das suggeriert, am Willen zum Frieden mangele es der Ukraine und nicht etwa dem putinistischen Terrorstaat, dessen einziger Daseinszweck Krieg und Vernichtung sind. Es verwundert nicht, dass die hiesigen lagerübergreifenden Putin-Quislinge und Kreml-Appeaser, von Sahra Wagenknecht bis Michael Kretschmer, dem Papst vehement zur Seite springen."

Dem Beispiel Nawalnys folgend kehrte 2021 der ehemalige Präsident Georgiens, Mikhail Saakashwili, nach Georgien zurück, wo er sofort verhaftet wurde. Im The Insider-Interview spricht er mit Sofia Adamova über seine Haftbedingungen und einen Gift-Anschlag auf ihn. "Viele Wochen lang ging es mir im Gefängnis sehr gut, und plötzlich wachte ich nachts mit sehr hohem Fieber, starkem Schüttelfrost, Schweißausbrüchen und Erbrechen auf. Ausschlag am ganzen Körper. Diese Symptome hielten über viele Wochen an. Mein ganzer Körper brannte, von innen und außen." Letztlich fordert er, den gegenwärtigen Präsidenten Iwanischwili zu sanktionieren: "Iwanischwili muss sanktioniert werden. Er führt das Land als sein persönliches Lehen. Jeder Gesetzesverstoß, jede größere Korruptionsquelle, jede pro-russische Tendenz und jede Initiative politischer Gefangener geht von ihm aus. Eine Sanktionierung könnte alle Probleme lösen."
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Ideen

Buch in der Debatte

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Frauke Rostalski, 39, ist Rechtsprofessorin in Köln und Mitglied im Deutschen Ethikrat. Im Verlag C. H. Beck erscheint dieser Tage ihr Buch "Die vulnerable Gesellschaft". In einem Zeit-Essay wendet sie sich gegen eine Machtübernahme des Snowflakes - sie spricht vornehmer von Ethik der Verletzlichkeit. Menschen, die sich in erster Linie als "vulnerabel" definieren, neigten "dazu, die Lösung darin zu suchen, dass nicht sie selbst, sondern andere für sie die Risikoabwehr übernehmen. Damit die besonders effektiv ausfällt, spricht vieles dafür, direkt den Staat in die Bresche springen zu lassen, ihm die Aufgabe zuzuordnen, sich schützend vor seine Bürger zu stellen, sie vor Risiken weitestgehend zu bewahren. Die vulnerable Gesellschaft erweist sich vor diesem Hintergrund als besonders risikoavers und dabei zugleich als besonders offen gegenüber staatlicher Regulierung zum Schutz der einzelnen Bürger."

Was Judith Butler betreibt, ist eine Auslöschung der Differenzen im Namen der Fluidität, kritisiert Jan Feddersen in der taz. Ohne mit der Wimper zu zucken stellt sie darum Fakten, etwa die Geschlechterdifferenz oder auch schlicht die Vergewaltigung israelischer Frauen in Frage, aber es geht auch um andere Differenzen, etwa den Klassengegensatz, so Feddersen: "Es ist insofern kein Wunder, dass Judith Butlers (und mit ihr die vieler anderer Theoretikerinnen*) wachsende Popularität in Academia mit dem Niedergang des Sozialismus, besser: mit der Abwicklung marxistischer Denkweisen an den westlichen Universitäten zu tun hat. In linken Denkschulen ging es um Interessen, um Kämpfe - nicht um Identitäten, es ging schlicht um Klassenkämpfe, nicht jedoch ums Ringen günstigerer Performanzchancen für Mittelschichtskinder."
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Politik

Der israelische Dramatiker und Autor Joshua Sobol bleibt trotz allem im Zeit-Gespräch mit Peter Kümmel optimistisch, hofft auf vernünftige Palästinenser und darauf, dass die Siedler-Bewegung nicht komplett ausrastet: "Falls es zur Anerkennung eines palästinensischen Staates durch Israel kommen sollte, könnte ich mir vorstellen, dass fanatische Siedler versuchen werden, die Situation außer Kontrolle geraten zu lassen. Ich glaube aber nicht, dass es zum Bürgerkrieg kommt. In unserem Land gilt der Bürgerkrieg als der letzte Schritt vor der totalen Zerstörung. Gleichwohl: Es liegt sehr viel Ungewisses in der Luft. 2025 wird ein entscheidendes Jahr in der Geschichte Israels sein. Entweder es kommt zu einem radikalen Politikwechsel, oder aber es wird fürchterlich. Sehr viele Menschen reden ernsthaft über Auswanderung - sollte es zu massenweiser Auswanderung kommen, wäre das eine existenzielle Krise."
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Stichwörter: Sobol, Joshua, Israel

Kulturpolitik

Es gehörte zu den Post-Documenta-Scharmützeln: Im letzten November sagte das Saarlandmuseum eine Ausstellung der südafrikanischen Künstlerin Candice Breitz ab. Der Grund: Breitz hatte nach den Hamas-Pogromen Israel kritisiert, wie es sich für Künstler aus dem "Globalen Süden" gehört. Die Absage der Ausstellung kam damals nicht gut an. Elke Buhr nahm sie in Monopol als Zeichen, "dass die Freiheit der Debatte dramatisch schrumpft". Und im Saarland ist der Aufruhr immer noch nicht vorbei. Museumsdirektorin Andrea Jahn wurde vor einigen Tagen gegangen. Sie musste die Entscheidung gegen Breitz vertreten - war aber dagegen gewesen, wie geleakte Chat-Protokolle vor einigen Tagen bewiesen. Gegenüber der Künstlerin hatte Jahn ihren Widerwillen vor einer Absage bekannt: "Die Ministerin geht immer noch davon aus, dass ich mit ihr einer Meinung sei, nachdem sie mir jegliche Interviews verboten hat. Ich habe versucht, sie zu erreichen, um ihr mitzuteilen, dass dies nicht der Fall ist!" Gestern kam es bei einer aktuellen Aussprache im Landtag zu einer hitzigen Debatte, berichtet  Johann Kunz auf der Website des Saarländischen Rundfunks. Die CDU warf Kulturministerin Christine Streichert-Clivot (SPD) Führungsversagen vor: "Streichert-Clivot wies den Vorwurf der Lüge vehement zurück. Sie räumte allerdings ein, Jahn habe bei der Absage im November 'durchaus unprofessionell' gehandelt. Die Ausstellung sei fälschlicherweise auf der Website und der Presse angekündigt worden, ohne dass die Künstlerin einen Vertrag erhalten habe." Die Chatprotokolle werden hier zitiert. Auch in den Artnews gibt es einen Bericht.
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Breitz, Candice, Saarland, Hamas

Gesellschaft

Der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty erklärt den überall blühenden Rechtspopulismus mit einem Gefälle zwischen Metropolen und Provinz, denn die Arbeitsplätze in der Industrie seien eher auf dem Land als in den großen Städten verloren gegangen und die Menschen fühlten sich zurückgelassen, sagt er im Gespräch mit Marcus Gatzke und Mark Schieritz in der Zeit: "Es geht dabei um die Qualität der öffentlichen Infrastruktur in den vergangenen Jahrzehnten. Ich meine damit Dinge wie den Zugang zu hochmodernen Krankenhäusern oder Universitäten. Die stehen häufig in den Städten. Das war vor dreißig oder vierzig Jahren nicht so problematisch, es reichte aus, wenn es in einer Kleinstadt ein gutes Gymnasium gab oder einen guten Arzt. Sehr wenige Leute gingen an die Universität. Heute ist das anders, und da haben die Leute in der Großstadt einen Vorteil. Und gleichzeitig werfen die Städter der Landbevölkerung vor, sie seien mit ihren Autos und Häusern verantwortlich für den Klimawandel, während sie selbst für ein Wochenende nach Barcelona fliegen."

Auf Social Media sind gerade die sogenannten "tradwifes" (Unser Resümee) sehr beliebt, weil sie ein traditionelles Mutterbild vermitteln. Im Welt-Interview mit Hannah Lühmann spricht die Kulturwissenschaftlerin Barbara Vinken über diesen Trend, der durch Corona an Kraft gewonnen hat. "In Deutschland ist die Familie seit Luther das Heilige, die Institution des Allgemeinwohls - und des Überlebens. Wir haben nie an etwas anderes geglaubt. Wir glauben an die Familie. Und die ist natürlich in der Coronazeit irrsinnig überlebenswichtig geworden. Wenn die Kinder plötzlich nur noch zu Hause sind, weil es draußen nichts mehr gibt und sie nur in der Familie leben können. Familie heißt: Die Mutter arbeitet für das Essen, für die Erziehung, für die Kinder und der Vater versucht, das Geld ranzuziehen, das ist eben leider so. Dieses Bild hat sich während Corona noch einmal extrem verstärkt."
Archiv: Gesellschaft