9punkt - Die Debattenrundschau

Und schleuderte einen Stein

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.10.2023. Für die taz gibt es keine Alternative: "Die Hamas muss jetzt zerstört werden." Das Trauma wird Israel für immer verändern, schreibt Eva Illouz in der NZZ. In der SZ sagt der Nahosthistoriker Eugene Rogan voraus, dass die Hamas für ihr Morde in der arabischen Welt "trotzige Anerkennung" bekommen wird. Die Mordaufrufe der Hamas für den gestrigen Freitag hatten Wirkung: In Frankreich wurde der Lehrer Dominique Bernard erstochen. In Berlin sind jüdische Kinder gestern zuhause geblieben - aus Angst vor Angriffen. Auch jene Feuilletondebatten, die die letzten Jahre dominierten, stehen in neuem Licht: Kann es sein, dass die "Weltoffenheit" genozidalen Diskursen galt? Die Aufarbeitung beginnt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.10.2023 finden Sie hier

Politik

Ganz nüchtern stellt Eva Illouz in der NZZ fest: "Das Verbrechen, das sich in Israel ereignet hat, ist nicht wie andere Massaker. Der Feind, der tief in die Privatsphäre der Zivilbevölkerung eindrang, und die Tatsache der anhaltenden Lähmung des gesamten Systems haben eine traumatisierende Erfahrung des Terrors bewirkt. Die Hamas hat bewiesen, dass sie in ihrer Fähigkeit zu Terror und Meuchelmord sogar den Islamischen Staat übertrifft. Dieses Trauma wird die politische Kultur Israels wahrscheinlich auf unumkehrbare Weise verändern. Israel wird nicht mehr sein, was es bis zum 7. Oktober 2023 gewesen ist."

Für Ariane Lemme gibt es in der taz keine Alternative: "Die Hamas muss jetzt zerstört werden. Nicht nur für die Sicherheit des israelischen Staats, sondern auch für die Menschen im Gazastreifen, die seit Jahren Geiseln ihrer islamistischen Führung sind." Ebenfalls in der taz schreibt der 94 Jahre alte Schrifsteller und Holocaustüberlebende Ivan Ivanji, der stets ein Israelkritiker war: "Ich fühle mich zum ersten Mal seit meiner Befreiung aus dem Konzentrationslager vor 78 Jahren als Jude."

Die taz-Korrespondentin Judith Poppe ist aus Israel nach Berlin zurückgekommen und erzählt in einem sehr persönlichen Text darüber. Aber sie wird auch politisch und benennt die Beschwichtigungspolitik der Netanjahu-Regierungen, die mehr mit den Siedlern und der Westbank beschäftigt waren, gegenüber der Hamas: "Geld aus Katar kam als Bargeld in Koffern in den Gazastreifen, ein Versuch der Netanjahu-Regierungen, die Zeiträume brüchiger Waffenstillstände möglichst lang zu halten. Den Konflikt verwalten, lautete die Strategie der rechten Netanjahu-Regierungen. Und die Menschen glaubten ihm, dass dies der Weg war, ihnen Sicherheit zu bringen. Doch selbst diejenigen, die daran harsche Kritik übten, die Besatzung kritisierten und für Gespräche mit den Palästinenser*innen waren, richteten sich in einer zwar prekären, aber vermeintlich doch irgendwie existierenden Sicherheit ein."

Ein Interview, das Judith Poppe mit Shikma Bressler, einer der wichtigen Stimmen der israelischen Demokratiebewegung, führt, macht deutlich, in welchem Ausmaß Netanjahu das Land Israel durch seine innenpolitischen Spiele gefährdet hat: "Wir hatten eine eigene Ministerin für Nachrichtendienste, Gila Gamliel - aber was war ihre Rolle? Sie hat nichts mit Geheimdiensten zu tun, verfügt über keinerlei Fachwissen. Wie zum Teufel konnte Netanjahu sie für diese Rolle nominieren? Und wo bleibt die interne Kritik daran, wenn niemand diese Fragen stellt?"

Der Jurist und Schriftsteller Yishai Sarid schreibt in der SZ eine Hommage auf die 74-jährige Friedensaktivistin Vivian Silver, die offenbar zu den Entführten im Gaza-Streifen gehört. "Viele Jahre lang initiierte und leitete sie zivile Projekte, um Araber und Juden einander näherzubringen, setzte sich für die Rechte palästinensischer Arbeiter ein und mobilisierte humanitäre Hilfe für die Bewohner von Gaza. Doch den Kriminellen, die sie entführt haben, und deren Anführern ist das alles egal. Sie sind nicht an Frieden oder Koexistenz interessiert. Sie sind nicht einmal bereit, die Namen der Geiseln, die sie in ihrer Gewalt haben, preiszugeben, um ihre Angehörigen zu demütigen. Der Gedanke an sie und die anderen Entführten bricht mir das Herz."

Der islamische Neofaschismus der Hamas hat auch in Bagdad viele Anhänger, wie dieses Video zeigt:
Ist das die "trotzige Anerkennung", von der der Nahosthistoriker Eugene Rogan im SZ-Gespräch mit Moritz Baumstieger spricht? "Der Hamas wird trotzige Anerkennung gezollt werden. Während wir im Westen nach 9/11 schockiert waren, wie man auch nur irgendetwas Gutes am Massenmord von Zivilisten finden kann, machte sich in der arabischen Welt eine gewisse Genugtuung breit. Dass es jemand gelungen war, die Verteidigungslinien einer Macht zu durchdringen, deren Politik man als feindlich gegenüber der muslimischen und arabischen Welt empfunden hatte. Ähnliches könnte ich mir auch jetzt vorstellen: Trotzigen Respekt dafür, dass die Hamas diese Attacke organisieren und die scheinbar am besten gesicherte Grenze der Welt überrennen konnte."

Sollte Israel Gaza total blockieren, "wäre das eine Verletzung des humanitären Völkerrechts und unter Umständen von Menschenrechten", sagt die Völkerrechtlerin Anne Peters im ZeitOnline-Gespräch mit Lenz Jacobsen. Zu einer Verurteilung Israels würde es aber nicht kommen, glaubt sie. Den Opfern werde nach solchen Massakern ein größerer Spielraum zugesprochen: "Beispielsweise haben sich die USA nach den Angriffen vom 11. September für den Afghanistan-Krieg auf ihr Selbstverteidigungsrecht gegen Al Qaida berufen. Das wurde damals kaum kritisiert, obwohl sie damit das Recht überdehnten. Der Terrorangriff war abgeschlossen, und er war auch nicht eindeutig Afghanistan als Staat zuzurechnen - aber die Gegenwehr traf die afghanische Infrastruktur und Bevölkerung. Das zweite berühmte Beispiel ist die Kosovo-Intervention der Nato ohne UN-Sicherheitsratsbeschluss 1999."
Archiv: Politik

Europa

Fast auf den Tag genau drei Jahre nach dem Mord an Samuel Paty, an jenem von Hamas ausgerufenen Blutfreitag, wurde in der nordfranzösischen Stadt Arras unter "Gott ist groß"-Rufen ein Lehrer umgebracht. Es handelt sich um den Französischlehrer Dominique Bernard, einen großen Julien Gracq-Liebhaber, wie es heißt, der beim Versuch starb, den Mörder aufzuhalten. Weitere Personen sind verletzt.

Charlie Hebdo bringt Augenzeugenberichte. Die Schülerin Ava "konnte den Angreifer aus nächster Nähe sehen: 'Ich sah draußen einen Mann mit einem oder zwei Messern und vor ihm einen Mann, der versuchte, ihn mit einem Stuhl zurückzudrängen. Der stellvertretende Schulleiter kam hinzu und versuchte, ihn aufzuhalten.' Das junge Mädchen beobachtet mit atemlos diese ungeheuer gewalttätige Szene. 'Als ich mich umdrehe, steht da mein Sportlehrer, der außer Atem ist. Er schreit mich an: 'Geh hoch! Hochgehen! Er blutete, sein Hals blutete, sein Mund blutete, seine Nase blutete.'"

Jüdische Kinder sind wegen der Mordaufrufe der Hamas für den gestrigen Tag kaum in die Schule gegangen. Der Tagesspiegel zitiert aus einem Brandbrief zweier Lehrer an einem jüdischen Gymnasium, die sich nicht ausreichend geschützt fühlen und die Lebenslügen deutscher Poltiik anprangern. Sie fordern "die Verantwortlichen der deutschen Politik auf, die Verbindungen zwischen Migrations- beziehungsweise Flüchtlingspolitik und der Verbreitung von antisemitischen und israelfeindlichen Gedankengut unverblümt und tabulos zu erforschen, zu benennen, daraus erforderliche Konsequenzen zu ziehen und dementsprechend zu handeln."

Der Tagesspiegel zitiert auch aus warnenden Berliner Polizeipapieren: "Die interne Gefahrenprognose der Polizei nennt als Ziele für Attacken jüdische und israelische Einrichtungen. Für sie und US-Einrichtungen gilt eine erhöhte Gefährdungslage. Zudem warnt die Polizei vor Angriffen 'auf erkennbar israelische und jüdische Personen im Stadtgebiet (…) durch pro-palästinensisch gesinnte Personen'. Bei einer Verschärfung des Nahost-Konflikts sei mit Attacken auf israelische Einrichtungen mit Molotow-Cocktails, Schüssen und Erstürmungsversuchen zu rechnen."

Viele jüdische Gemeinden in Deutschland schützen sich lieber mit israelischen Sicherheitsleuten, die sie privat bezahlen, erzählt Ronen Steinke in der SZ. Das sei zwar in den Gemeinden selbst umstritten. "Man muss aber konstatieren: Es ist nicht Jux und Tollerei, was die Gemeinden jetzt in vielen Städten dazu bringt; es ist ein nagender, hässlicher und leider nicht ganz grundloser Zweifel. Wenn es hart auf hart kommt, wer wird sich den Kugeln islamistischer Angreifer in den Weg stellen: die nur sparsam bezahlten, nur sparsam ausgebildeten Tarifbeschäftigten des landespolizeilichen Objektschutzes, oder doch eher junge israelische Kerle, die 'ihre' Leute beschützen?"

Der Islamische Staat hat zwar Sympathisanten, aber er ist ein Outcast, schreibt Deniz Yücel in der Welt. Ganz anders sieht es mit der Hamas aus, und Yücel attackiert unter anderem die Islamverbände in Deutschland: "Dass kein islamischer Verband in Deutschland die Hamas als terroristisch zu verurteilen bereit ist, ist zwar ihr Recht. Für die Politik entspringt daraus jedoch nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, Konsequenzen zu ziehen."

================

In Polen stehen Wahlen an, die schicksalhaft sind und es doch kaum in die Wahrnehmung schaffen. Die Historikerinnen Kornelia Kończal und Stephan Lehnstaedt fordern in der taz ein Deutsch-Polnisches Haus, aber unter Bedingungen: "Dieses Haus müssen die Deutschen für sich bauen. Es soll weder als ein diplomatisches Zeichen noch als eine Reaktion auf Forderungen der PiS, noch als Ablass in der Reparationsdebatte gemeint sein. Dann hätte es seinen Zweck verfehlt. Das Deutsch-Polnische Haus wird vielmehr einen Beitrag dazu leisten, dass die Deutschen ihre polnischen Nachbarn und deren Befindlichkeiten endlich besser verstehen."
Archiv: Europa

Ideen

Auch jene Feuilletondebatten, die die letzten Jahre dominierten, also die Mbembe-Debatte, die Moses-Debatte, die Debatte um das "Weltoffen"-Papier (siehe weiter unten in Kulturpolitik) und die Documenta-Debatte stehen durch die Hamas-Pogrome in neuem Licht. Kann es sein, dass die "Weltoffenheit" genozidalen Diskursen galt? Die Protagonisten dieser Debatten haben sich bisher kaum zu Wort gemeldet - sie arbeiten sicher noch an ihren Argumenten. In einigen Zeitungen beginnt heute die Aufarbeitung.

Da ist etwa der beliebte Apartheid-Vorwurf gegen Israel. Dass jemand an einem "Centre for Transcultural Studies" lehrt und nicht ihn glaubt, ist eine Auffäligkeit. Tom Würdemann, der als Nahostwissenschaftler am Institut dieses Namens in Heidelberg forscht, ist so ein Fall. "Der Vorwurf der 'Apartheid' ist seit Jahrzehnten ein Favorit linker Feinde des jüdischen Staates", schreibt er in der FAZ. "Nicht nur, aber insbesondere diejenigen Kräfte greifen auf ihn zurück, die in den vergangenen Tagen die genozidale Gewalt der Hamas als angeblichen 'Befreiungskampf' legitimiert haben… Die Milieus der 'Palästina-Solidarität' um die BDS-Bewegung schlagen unisono den Bogen vom Apartheidvorwurf zum Ruf nach dem Verschwinden des Staates Israel 'from the River to the Sea'. Dass damit ein säkulares Palästina 'für alle' gemeint sei, wird dann entlarvt, wenn das gleiche Milieu die Gräueltaten der Hamas rechtfertigt oder bejubelt. Den Worten derjenigen, die Israel als Apartheidstaat delegitimieren, folgen also auch Taten. Solange das so ist, wird und muss die Offenheit für Kompromisse in Israel gering sein."

Die akademische Linke konnte eliminatorischen Hass und legitime politische Freiheitsbestrebungen allzu oft nicht auseinanderhalten. Und nebenbei stellt sich heraus, dass nicht nur Deutsche den Juden den Holocaust nicht verzeihen konnten. Auf einen der Ursprünge dieses Denkens kommt Jan Küveler in der Welt zurück, Edward Saids berühmtes Orientalismus-Buch. "Im Juli 2000 besuchte Said den Süd-Libanon, von wo sich Israel nach vielen Jahren gewaltvoller Auseinandersetzungen, provoziert von der erstarkenden Hisbollah, soeben zurückgezogen hatte, und schleuderte einen Stein auf einen verlassenen israelischen Wachturm. Es habe sich um einen Kieselstein gehandelt, rechtfertigte er sich später, und um eine rein symbolische Geste der Freude. Die Wiener Freud-Gesellschaft, die um die Kraft symbolischer Gesten weiß, lud ihn daraufhin von einem Vortrag aus. Said schrieb entrüstet: 'Freud wurde aus Wien vertrieben, weil er ein Jude war. Jetzt werde ich vertrieben, weil ich Palästinenser bin.' Ein scharf konturierter Moment grotesk übersteigerter Selbst-Viktimisierung, wie sie seither allgegenwärtig geworden ist."

===========

Konservatismus ist jene Doktrin, die sich nicht als solche benennt, weil sie sonst zugeben muss, dass es Alternativen geben könnte. Lange Zeit konnte die CDU so agieren, als brauchte sie kein Programm, sagt der Soziologe Armin Nassehi im Gespräch mit Jan Feddersen von der taz: "Sie war als Regierungspartei, als die sie sich verstand, die pure Inklusion. Es ist ja gerade das Besondere des Konservativen, auf Begründungsprobleme verzichten zu wollen, um mit Kontinuitätsunterstellungen arbeiten zu können. Die Konservativen müssen nach ihrem Selbstverständnis nichts gegen irgendjemanden durchsetzen, weil sie quasi die Kontinuität der Welt verkörpern."
Archiv: Ideen

Kulturpolitik

Slogans wie "Decolonize Israel" wie sie von VertreterInnen aus der Kulturszene geliket oder geteilt wurden und werden, "liefern die verbale Steilvorlage für die hemmungslos ausagierte Gewalt palästinensischer Attentäter", schreibt Chris Schinke in der taz: "Dessen sollten sich eigentlich auch die Funktionäre großer Kultureinrichtungen und -institutionen bewusst sein, die 2020 im Rahmen der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit einen pathosreichen Bühnenauftritt hinlegten, der ihr allzu hilfloses Ringen mit der Israel-Boykottbewegung BDS samt dazugehörigem Bundestagsbeschluss offenbarte." Dabei heiße es hinter vorgehaltener Hand aus dieser Szene oft: "Positionierungen … seien schlichtweg nicht möglich, da sonst der Kreis aus Mitstreiter:innen, Friends und Allies abtrünnig werde und man sich im schlimmsten Fall Boykotte einhandle, zuvorderst von Künstlerinnen und Künstlern aus dem Globalen Süden. Sorry, aber das ist einfach Humbug. Und auf weirde, patriarchale Weise auch eine Bevormundung der so Assoziierten."

Außerdem: In einer "Friedensbotschaft" der SZ erklärt Daniel Barenboim, warum er mit seinem Diwan-Orchester jetzt erst recht weitermachen will.
Archiv: Kulturpolitik