9punkt - Die Debattenrundschau
Madaniya!
Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Politik
So schnell kann's gehen: Afghanistan ist schon aus den Schlagzeilen verschwunden. Die Frauen, Oppositionellen, ethnische Minderheiten, Homosexuelle interessieren hier niemanden mehr, notiert Hasnain Kazim, der immer wieder Videos von Steinigungen zugeschickt bekommt, bei Zeit online. "Längst sind Frauen aus dem öffentlichen Raum verschwunden. Frauen dürfen nicht mehr zur Arbeit oder in die Universitäten, Mädchen in den meisten Regionen nicht mehr in die Schulen - und wenn, dann nur bis zur vierten Klasse. Proteste von mutigen Frauen gegen die neuen Machthaber finden längst nicht mehr die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Journalistinnen, die im August noch auf dem Bildschirm erscheinen durften, um zu zeigen, dass diesmal alles anders werde als in den Neunzigerjahren, als die Taliban erstmals in Afghanistan herrschten, sind ihre Jobs längst los. Viele von ihnen sind ins Ausland geflüchtet. Richterinnen und Staatsanwältinnen wurden nach Hause geschickt, keine einzige Frau befindet sich in der Regierung. Ebenso finden ethnische Minderheiten wie beispielsweise die schiitischen Hazaras keine Repräsentation."
Bemerken ausländische Berichterstatter das Fehlen der Frauen auf den Straßen nicht, fragt im Guardian entgeistert Emma Graham-Harrison angesichts vielfältiger Berichte über die "Normalität" zu der Afghanistan zurückgekehrt sei. "Eine der führenden Zeitungen der USA brauchte vier Tage, um über die Ankündigung der Taliban zu berichten, Mädchen den Besuch einer weiterführenden Schule de facto zu verbieten. Am 20. Jahrestag der Anschläge vom 11. September auf Amerika fragte sich ein prominenter männlicher Korrespondent in Kabul auf Twitter, ob 'wir vielleicht heute damit beginnen können, zu heilen und voranzukommen'. Die afghanischen Frauen fragten sich einfach, ob sie wieder studieren oder arbeiten oder gar ihr Haus sicher verlassen könnten. ... Die Vereinten Nationen ernannten einen Mann zum Leiter des UN-Frauenbüros in Kabul. Als die Taliban das Verbot der Sekundarschulbildung für Mädchen einführten, gab die UN-Kinderhilfsorganisation Unicef eine Erklärung ab, in der sie zunächst die Wiedereinführung des Schulunterrichts nur für Jungen begrüßte, bevor sie sich 'besorgt' über die Zukunft der Schulbildung von Mädchen äußerte. ... Dies ging einher mit zu vielen Berichten, die den Eindruck erweckten, dass die Rechte der Frauen ein Nischenthema sind, das andere Frauen interessiert und über das sie am besten berichten sollten, und nicht eine dringende Menschenrechtskrise."
Gesellschaft
Wie viele Deutsche bereits Omikron haben, fragen Manuela Heim und Felx Lee in der taz die Virologin Isabella Eckerle. Keine Ahnung! "Wir haben in Deutschland nicht so einen guten Überblick über die zirkulierenden Varianten wie etwa Großbritannien oder Dänemark, die insgesamt viel mehr sequenzieren (also die Proben genetisch untersuchen, Anm. der Red). Hinzu kommt, dass die Daten dazu vom Robert-Koch-Institut recht zeitverzögert veröffentlicht werden. Wir wissen also nicht genau, wie viel Prozent der Infizierten sich bereits mit der Omikron-Variante angesteckt haben. Die neuesten Daten sind etwa zwei Wochen alt. Da lag der Anteil noch bei 0,5 Prozent. Von Großbritannien und Dänemark wissen wir, dass sich der Anteil der Omikron-Infizierten alle zwei bis drei Tage verdoppelt. In London etwa liegt der Anteil bereits bei etwa 70 Prozent."
Im Interview mit Michael Thaidigsmann von der Jüdischen Allgemeinen tröstet der südafrikanische Virologe Barry Schoub: "Wir werden das Virus nicht ganz eliminieren können, es wird immer da sein. Wann die Pandemie vorbei sein wird, hängt also auch davon ab, wo man die Messlatte anlegt. Wir befinden uns heute definitiv in einer besseren Situation als noch vor einem Jahr, und in zwölf Monaten werden wir viel besser dastehen als jetzt."
In einem sehr instruktiven FAZ-Artikel erzählt der argentinische Autor Martín Kohan, wie sich Inflation anfühlt. Zunächst einmal versichert er, dass die Wirtschaftswissenschaftler, auch wenn sie so gern Expertenmienen aufsetzen, nicht den geringsten Schimmer haben, wie das Phänomen eigentlich zu erklären ist. Seit Ewigkeiten leben die Argentinier zwischen dem "Gespenst der falschen Stabilität" und dem "der entfesselten Hyperinflation". Es ist zur Mentalität geworden: "In Argentinien wird der Dollar-Kurs täglich in den Nachrichten bekanntgegeben, manchmal zusammen mit dem Wetterbericht, manchmal zusammen mit den Lottozahlen. (Zu beidem weist er tatsächlich eine gewisse Verwandtschaft auf.)"
Ideen
Europa
Wer droht, muss im Ernstfall auch bereit sein, dieses Drohung wahrzumachen, sonst bringt das nichts, meint der Politologe Herfried Münkler mit Blick auf Russland im Interview mit der FR. Er plädiert für weniger Drohungen und mehr Realpolitik, dabei umstandslos die Ukraine und Belarus opfernd: "Man müsste akzeptieren, dass es eine Einflusszone Russlands gibt und eine von Europäischer Union und Nato. Die überlappen einander. Das Ziel bestünde darin, eine stabile Pufferzone herzustellen, zu der ganz sicher die Ukraine und Belarus gehören. Sie stehen zwischen den beiden großen Akteuren. So stoßen die nicht unmittelbar aufeinander. Das liegt doch auch in unserem Interesse. ... Wir sollten uns nicht auf eine Auflösung dieser Pufferzone durch eine Willenserklärung der ukrainischen Bevölkerung einlassen. Ziel westlicher, zumal deutscher Politik muss es sein, zu verhindern, dass wir den nach wie vor zutiefst gekränkten, verunsicherten, sich betrogen fühlenden Russen geopolitisch zu nahe kommen. Wir müssen ihre Rationalität, nicht ihre Irrationalität steigern."
Geschichte
Medien
Der Wiener Zeithistoriker Oliver Rathkolb erzählt in der FAZ die lange Geschichte der "Inseratenkorruption" in Österreich. Sie basiert auf der Presseförderung: Es gibt einerseits eine direkte Subvention von Medien, andererseits Inserate des Staats, die nach einem bestimmten Schlüssel verteilt werden. Boulevardmedien sind allein wegen ihrer Auflage bevorzugt. "Von 2013 bis Mitte 2020 verwandte die österreichische Regierung 117,2 Millionen Euro an Steuermitteln auf Inserate - vorzugsweise in Boulevardmedien. Die Bundesregierung in Berlin hingegen gab im selben Zeitraum nur etwas mehr - 129,8 Millionen Euro - aus. Pro Kopf der Bevölkerung gerechnet, ergab das für das Jahr 2013 in Österreich 1,82 Euro, in Deutschland waren es zehn Eurocent."