9punkt - Die Debattenrundschau

Irgendetwas läuft da gewaltig schief

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.08.2017. Das Berliner Festival Pop Kultur wird von der Israel-Boykottbewegung BDS attackiert, weil Israel 500 Euro Reisekosten zugeschossen hat - und tatsächlich sagen einige Bands ab, berichtet die taz. Eine HBO-Dokumentation über Charlottesville macht im Netz Furore - wir binden sie ein. Die Zeit beschreibt, wie ein ganz Linker mit ganz Rechten spricht und dann über die innere Verwandtschaft staunt.  In der NZZ wiederholt Mark Lilla seine Vorwürfe gegen die modische Linke, die Zeit liest Lillas neues Buch.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.08.2017 finden Sie hier

Politik

Eine etwa zwanzigminütige HBO-Doku über Charlottesville macht Furore auf Facebook und Youtube, schreibt Lina Rhrissi  bei Le Monde. Der Autorin Elle Reeve ist es gelungen, einigen Akteuren der extremen Rechten mehrere Tage lang vor den Ereignissen von Charlottesville zu folgen. "Der Film beginnt mit Bildern von Neonazis mit Fackeln, sie skandieren 'Jews will not replace us!'. Ihnen gegenüber antirassistische Demonstranten, die rufen  'No nazi! No KKK! No fascist USA!' Einige Aktivisten der extremen Rechten, bis an die Zähne bewaffnet und mit Helmen und Schilden ausgerüstet, schlagen ihre unbewaffneten Gegner mit Stöcken."

Hier Reeves Film:



Der Courrier international veröffentlicht einen aufrüttelnden Leitartikel von Morin Yamongbe aus dem bukinabesischen Internetmagazin Wakatsera. Yamongbe schildert die schwachen Kräfte der in der Gruppe G 5 Sahel zusammengeschlossenen Länder, die den immer stärker wütenden Terrorismus des Islamischen Staats kaum abwehren können - am Wochenende gab es in Ouagadougou ein Attentat mit 18 Toten. Während die Länder kaum die Mittel haben, eine internationale Truppe gegen die Terroristen aufzustellen und die EU und Frankreich zu wenig hinzuschießen, "sind die Terroristen sehr aktiv. Sie schlagen ohne Schonung zu und machen Hoffnungen auf eine Entwicklung dieser armen und verschuldeten Länder zunichte, wo die Einwohner oft genug nicht in der Lage sind, dreimal am Tag zu essen. Manchmal ist es in einer Stadt wie Ouagadoudou schwierig, auch nur einmal am Tag zu essen zu finden. Und dann die konstante Angst, dass man an der nächsten Straßenecke in die Luft gejagt wird. Wie jene 18 Tote am 13 August im Café Aziz Istanbul in Ouagadougou, das nur 200 Meter vom Cappuccino entfernt liegt, jenem anderen gastfreundlichen Ort, der am 15. Januar 2016 von Terroristen angegriffen wurde."

Wie kann Bill Gates 4,6 Milliarden Dollar an seine Stiftung spenden und dennoch der reichste Mensch der Welt bleiben, fragt Arno Widmann in der FR: "Anfang des Jahres meldete Oxfam, dass die acht reichsten Menschen der Welt so viel Geld haben wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Irgendetwas läuft da ganz offensichtlich gewaltig schief. Bill Gates gibt seit vielen Jahren sehr viel Geld aus für die Abschaffung der Armut. Aber mit Geld scheint das nicht zu schaffen zu sein. Die Superreichen werden jedes Jahr noch reicher und erhöhen den Abstand zum Durchschnitt immer mehr."
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Internet

Ein Film von Hamed Abdel-Samad und Henryk Broder über Seyran Ates' liberale Moschee in Berlin ist von Youtube gelöscht worden, nachdem ein islamistischer Prediger intervenierte, meldet die Bild-Zeitung: "Grund für das Verschwinden: Der islamistische Prediger Eyad Hadrous hatte sich bei Youtube beschwert, dass in dem Film gegen das Urheberrecht verstoßen werde. Tatsächlich werden Ausschnitte aus einer Rede Hadrous eingespielt. Doch die Stellen sind als Zitate mit Quelle gekennzeichnet - mit dem eindeutigen Hinweis auf eine Predigt, die bei Youtube abrufbar war!" Bei Bild wird der Film weiter gezeigt.
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Europa

Der Schutz regionaler Lebensmittelprodukte in Europa spielt bei den TTIP-Verhandlungen der EU mit den USA eine große Rolle. In der FAZ ist Uwe Ebbinghaus auch gar nicht grundsätzlich dagegen, aber ein bisschen Heuchelei pflegen die Europäer hier schon. Man betrachte nur den Schinken: Parma, Serrano und Schwarzwälder werden kurioserweise drei unterschiedlichen Kategorien zugeordnet. Während der Parmaschinken alle Produktionsstufen in seiner Region durchlaufen muss, kann das Fleisch des Schwarzwälder Schinkens auch aus einem anderen Land kommen ... Beim Serrano-Schinken hingegen genügt sogar schon die Einhaltung eines bestimmten Rezepts, er kann in jedem Land der Welt produziert werden. Wie vielen Europäern aber sind diese Unterschiede beim Kauf wohl bewusst?"
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Stichwörter: TTIP, Schwarzwald

Gesellschaft

Das vom Berliner Senat ausgerichtete Festival Pop-Kultur wird von einigen arabischen Bands boykottiert, weil der israelische Staat 500 Euro Reisekosten zugeschossen hat, berichtet Jens Uthoff in der taz. Die Initiative "Boycott, Divestment and Sanctions" (BDS) hat darum die hundert Künstler des Festivals aufgefordert, dem Ereignis fernzubleiben. "Potzblitz! Der israelische Staat versucht sich also durch Reisekostenzuschüsse weißzuwaschen. Wie hinterhältig", kommentiert Juri Sternburg dazu.

Der Druck durch die Boykott-Kampagne ist seit Jahren gewachsen, schreibt Jonas Engelmann in einem Hintergrund zu "BDS": "Stars aus allen kulturellen Gebieten von Snoop Dogg über Judith Butler und Carlos Santana bis Jean-Luc Godard finden sich dort, Israelboykottbefürworter für jede Zielgruppe. Sobald die Tour eines westlichen Musikers auch einen Termin in Israel enthält, stehen BDS-Aktivisten mit offenen Briefen auf dem Plan und schaffen Druck."
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Kulturpolitik

Ratlos in der Schlossattrappe. Die zahlreichen Chefs des Humboldt-Forums sitzen fest, analysiert Jens Jessen in der Leitglosse des Zeit-Feuilletons, denn wohin sie sich in dem an sich weitläufigen Gebäude auch wenden, sie stoßen auf den Kolonialismusvorwurf: "Ursprünglich war die Präsentation außereuropäischer Kulturzeugnisse dazu gedacht, den Argwohn zu widerlegen, mit dem Hohenzollernschloss sollten preußische (pfui Teufel!) Traditionen gefeiert werden. Jetzt hat sich die Argumentation gedreht. In der neueren Perspektive taugen die Zeugnisse kolonialen Sammeleifers nicht mehr zur Entgiftung, sondern es wird im Gegenteil eine neuerliche koloniale Beherrschungsgeste unterstellt."
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Humboldt Forum

Ideen

Adam Soboczynski liest für die Zeit das Buch "Die Angstmacher" von Thomas Wagner, einst Redakteur der Jungen Welt (gegen die sich das Neue Deutschland wie ein Kampfblatt des Neoliberalismus ausnimmt). Und nach Soboczynski stellt Wagner in seinen Gesprächen mit Protagonisten von ganz Rechts eine echte Wahlverwandtschaft fest: "Thomas Wagner findet bei den Neuen Rechten überhaupt eine Vielzahl an Stimmen, die das alte, für den Autor attraktive Lied der Kapitalismuskritik und des Antiimperialismus singen, während die postmaterialistische Linke sich mit letztlich belanglosen Befindlichkeitsthemen wie Gender-Mainstreaming befasst. Man lernt in diesem durchaus anregenden Buch: Nicht die Linke ist der Hauptgegner der Neuen Rechten, sondern das liberale Bürgertum. Nicht die Rechte ist der Hauptgegner der orthodoxen Linken, sondern das liberale Bürgertum."

Der New Yorker Philosoph Omri Boehm liest ebenfalls für Zeit Mark Lillas neues Buch "The On­ce and Fu­ture Li­be­ral", in dem Lilla weiterhin darauf beharrt, dass die Gender-Linke an dem Aufstieg Trumps Mitschuld trägt (unsere Resümees dazu). Boehm positioniert sich recht unklar zu dieser These, verweist aber auf ein sehr altes Zitat Richard Rortys, das umso seherischer war: "In 'Achieving Our Country' (deutsch: Stolz auf unser Land), einem einst äußerst umstrittenen Traktat, das heute als wiederentdecktes Orakel zitiert wird, beschwor Rorty die Linke, den Identitätsliberalismus über Bord zu werfen und sich wieder auf eine patriotische Politik à la Roosevelt zurückzubesinnen: Ansonsten 'werde es einen Bruch geben', und die Amerikaner würden 'einen starken Mann wählen wollen, der ihnen verspricht, dass unter ihm die feinen Bürokraten, raffinierten Anwälte, überbezahlten Anlageberater und postmodernistischen Professoren nicht mehr das Sagen haben werden'."

In der NZZ wiederholt Lilla seine Vorwürfe an die modische Linke: "Die Frage lautet: Warum? Warum sind gerade diejenigen, die behaupten, für den großen amerikanischen Demos zu sprechen, so gleichgültig, wenn es darum geht, an dessen Gefühle zu rühren und sein Vertrauen zu gewinnen? Warum haben die Linksliberalen im Wettbewerb um eine amerikanische Vision einfach aufgegeben?"
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Medien

In der FAZ zeichnet Rainer Meyer den Skandal um das Memo des Google-Mitarbeiters James Damore nach, dem in einem Medienhype immer wieder Sexismus vorgeworfen wurde (mehr hier), bis endlich mal jemand das Memo wirklich las: "Unter Führung von The Atlantic tauchten unangenehme Fragen nach den Stellen im Memo auf, die all die weitreichenden Unterstellungen belegen sollten. The Federalist dokumentierte, wie CNN die eigenen Beiträge umschrieb und die Bezeichnung 'anti-diversity' strich - offensichtlich, weil Damore nicht nur gegen seinen Arbeitgeber, sondern auch gegen die Medien klagen kann."
Archiv: Medien
Stichwörter: Damore, James, Sexismus, Diversity, Cnn