9punkt - Die Debattenrundschau

Zusammensein im Rudel

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.09.2016. Die Abschreckungskraft internationalen Rechts ist nirgends so wirkungslos verpufft wie in Syrien, konstatiert der New Yorker. Die Nicht-Intervention des Westens hat den Konflikt nicht befriedet, sondern nur zur Intervention aller anderen Kräfte geführt, meint die Welt. Die EU könnte mit der Steuerforderung an Apple neues Terrain bei der europäischen Öffentlichkeit gewinnen, hofft politico.eu. Verspielen könnte sie ihr Ansehen dann gleich wieder mit der Europäisierung des Leistungsschutzrechts für Presseverleger, fürchtet Zeit online. Slate.fr erinnert an den Gründungsvater des Dschihadismus, Sayyid Qutb, der vor fünfzig Jahren vom Nasser-Regime exekutiert wurde.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.09.2016 finden Sie hier

Politik

Syrien hat das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert. Deshalb kann der Internationale Strafgreichtshof nicht von sich aus tätig werden, schreibt Ben Taub im New Yorker, der feststellt, dass die "Abschreckungskraft internationalen Rechts nirgends so wirkungslos verpufft wie in Syrien... Der UN-Sicherheitsrat hat zwar das Recht, das Gericht aktiv werden zu lassen, aber internationales Strafrecht ist ein relativ neues und fragiles Unterfangen und hängt in einem verstörenden Ausmaß von geopolitischen Gegebenheiten ab. Als im Jahr 2014 eine Maßnahme diskutiert wurde, die dem ICC Rechtsprechung in Syrien ermöglicht hätte, wurde sie von Russland und China blockiert. Seit 2011 ist inzwischen keine Minute vergangen, in der die syrische Regierung nicht zahlreiche, gleichzeitige und ausgedehnte Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hätte."

Richard Herzinger konstatiert zum Syrien-Krieg in der Welt: "Das Desaster, in das der Westen vorhersehbar hineingeriet, wird nicht auf Syrien beschränkt bleiben. Denn er hat nicht verstanden, dass seine Nichtintervention diesen Konflikt nicht beruhigt, sondern nur bewirkt, dass alle anderen außer ihm darin intervenieren. Es verändert das gesamte weltpolitische Gleichgewicht zuungunsten des Westens."
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Europa

Ein Gutes hat die Steuerforderung der EU an Apple schon mal, schreibt Tim King bei politico.eu: Margrethe Vestager ist durch ihr Verfahren an Details aus dem ganz privaten Steuerdeal zwischen Irland und Apple gekommen: "Die Publikation von Details aus der Steuerregelung dürfte Vestager in ihrem Kampf um den Rückhalt europäischer Konsumenten bestärken. Ihre Enthüllung, dass die Firma im Jahr 2014 nur fünfzig Euro Steuern pro Million Euro Gewinn zahlte und dass Apple International in Irland, wo es seine Gewinne  vereinnahmte, keinerlei Infrastrukturen und Personal hatte, mögen bei Steueranwälten und Buchhaltern keinen Punkt machen - aber in der europäischen Öffentlichkeit werden sie eine große Rolle spielen."

Nicht auf die Populisten hören, Europa muss sich noch enger vereinen, meint Joschka Fischer in der SZ. Denn mit der Wende sei, ohne dass wir es gemerkt haben, das pazifische Zeitalter angebrochen: "Die zentrale Achse von Weltpolitik und Weltwirtschaft verschiebt sich vom Atlantik in den Pazifik, also weg von Europa. Welche Macht oder Mächte wird (oder werden) diese neue Weltordnung gestalten? Wie friedlich wird es dabei zugehen? Welche Institutionen wird sie hervorbringen? Wird der Westen in diesem Prozess der Neugestaltung überleben? Und was wird aus dem alten Europa werden? Was aus dem Transatlantismus im 'pazifischen Zeitalter'? Für das alte Europa droht sich ganz aktuell das historische Fenster zu seiner Einheit zu schließen."
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Urheberrecht

Günther Oettinger, Digitalkommissar der EU-Kommission möchte das deutsche Leistungsschutzrecht für Verlage gern europäisieren, informiert Eike Kühl auf Zeit online, in der Hoffnung, dass es dann endlich was bringt. Oettingers Wunschprogramm liest sich laut einer "jüngst geleakten Richtlinie", als hätten die Verleger den Entwurf im Hinterzimmer selbst ausgearbeitet: "Um die Zukunftsfähigkeit der Verlagsindustrie zu gewährleisten müssen die Rechte die 'Reproduktion und Bereitstellung' im Internet abdecken. Was die Schutzdauer für Presseerzeugnisse angeht, geht der Entwurf sogar noch über das deutsche Leistungsschutzrecht hinaus. 20 Jahre lang - hierzulande ist es ein Jahr - sollen Verlage die Rechte zur Vervielfältigung sowie zur öffentlichen Wiedergabe und Zugänglichmachung der Nachrichten erhalten. Entsprechend würden selbst jahrzehntealte Archivtexte von Suchmaschinen wie Google nicht mehr mit Snippets ohne Zustimmung der Verlage angezeigt werden können."

Die FAZ hat Justus Haucaps Antwort auf Adrian Lobes Vorwürfe, ein Gutachten zur Ausweitung der Bildungs- und Wissenschaftsschranke im Urheberrecht als Teil der "IT-Lobby" erfasst zu haben, online gestellt. Haucap erklärt, warum eine solche Schranke seiner Ansicht "erlösneutral" für die Verlage ausfallen wird. Zuerst aber wehrt er sich gegen die Unterstellung, ein "Gutachten aus Lobbyhand" Googles erstellt zu haben: "Weil wir auf einer Seite unseres 140 Seiten umfassenden Gutachtens als eine von insgesamt mehr als hundert Quellen eine Studie zitieren, die sich auf einem Portal befindet, dessen Mitgründer für eine andere Initiative Geld von Google erhalten hat, soll es sich bei uns um ein 'Gutachten aus Lobbyhand' handeln? Das ist starker Tobak. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Es gab bei uns keinerlei Interessenkonflikte, abgesehen davon, dass ich als Wissenschaftler an einem funktionsfähigen Markt für wissenschaftliche Fachliteratur sowie ihrer Verbreitung und Nutzung interessiert bin."
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Geschichte

Für die NZZ hat sich Ronald D. Gerste im neu eröffneten National Museum of African American History and Culture in Washington umgeschaut. Dem Museum, das die Leidensgeschichte der Sklaverei bis zur Bewegung Black Lives Matter erzählt, wünscht er ehrliche, differenzierte Kuratoren, die aller political correctness zum Trotz auch mit Details umgehen, "die unbequem sind und nicht ins große Narrativ passen. Wird man beispielsweise den Namen von Anthony Johnson finden, werden die Besucher über sein Leben etwas erfahren? Johnson war im eigentlichen Sinne ein Pionier. Er prosperierte um die Mitte des 17. Jahrhunderts dank seiner Tabakplantage und gilt als der erste Besitzer einer größeren Zahl von Sklaven auf dem späteren Staatsgebiet der USA. Sein ursprüngliches Heimatland war Angola. Der erste Sklavenhalter war schwarz."

Vor fünfzig Jahren wurde der islamistische Theoretiker Sayyid Qutb von den Schergen des Nasser-Regimes, das ihn zuvor folterte, exekutiert. Für Antoine Hasday in Slate.fr ist Qutb der Gründungsvater des Dschihadismus, dessen Prinzipien er in mehreren Büchern formuliert hat: "Als erstes stellt er fest, dass die politischen Regimes in den muslimischen Ländern, ob demokratisch oder nicht, illegitim sind und das Volk in 'Dschahiliya" halten (islamischer Begriff, der 'Zustand der Ignoranz' bedeutet). Er schlägt eine Avantgarde nach dem Vorbild der Gefährten des Propheten vor, die diese illegitimen Institutionen durch Gewalt und Dschihad zerstört. Diese Wahl ist die Eigenheit des Dschihadismus in der islamistischen Galaxie. Die 'islamischen' Parteien bejahen die Beteiligung an Wahlen, um das System von innen zu verändern. Die 'quietistischen' Salafisten lehnen politische Aktion ab. Die Dschihadisten wollen einen gewalttätigen Aufstand."
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Gesellschaft

Die Dokumentation "Football Under Cover" zeigt, wie vor zehn Jahren ein Fußballspiel zwischen Kreuzberger Fußballerinnen mit der iranischen Frauen-Nationalelf vorbereitet wurde - und es kam tatsächlich zustande. Zum Auftakt des Frauenfußball-Kulturfestivals Discover Football hat am Mittwoch Abend endlich das Rückspiel stattgefunden, schreibt Alina Schwermer in der taz: "Dass die Iranerinnen mittlerweile regelmäßig Freundschaftsspiele austragen und sogar in Qualifikationsspielen antreten, war eine direkte Folge jenes Spiels. 'Die Partie hat enorm geholfen', sagt Spielerin Niloofar Basir, die schon damals in der Dokumentation eine prominente Rolle spielte. 'Wir machen große Schritte nach vorn.' Trotzdem war die Organisation des Rückspiels ein zehn Jahre währender Kraftakt: Zweimal durften die Iranerinnen nicht anreisen; und auch diesmal ist nicht die iranische Nationalelf angetreten." In der SZ schreibt Ronny Blaschke über Discover Football und die historische Partie.

Akzeptieren wir den Primaten in uns, dann finden wir Erfüllung, schreibt der Physiker Hans Widmer in der NZZ und erklärt die Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Affe: "Familientisch, Weihnachtsgans, Galadiner mit launigen Tischreden und Château Pétrus: Das ist schon auch Füttern, doch im Grunde ist es Anlass fürs Zusammensein im Rudel, allenfalls dafür, vor einem Rudel zu glänzen."

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