Efeu - Die Kulturrundschau

NUR KUNST IST CHEF

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23.05.2017. Die Filmkritiker wohnen in Cannes dem von Michael Haneke inszenierten Untergang des Westens durch die Frivo­lität der Reichen bei. Die ersten Reaktionen auf die neue "Twin-Peaks"-Staffel sind zwiespältig. Der Tagesspiegel übt sich in der beliebten Knausgard-Erfolgs-Erklärung. Jonathan Meese bringt im Standard auf 23 Seiten seine Wagner-Thesen zu Papier. Die taz staunt in Hannover über die atomaren Blumen der Petra Kaltenmorgen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.05.2017 finden Sie hier

Film


Frivole Reiche: Szene aus Michael Hanekes "Happy End"

Wenn nun ausgerechnet Michael Haneke, der unbestrittene Großmeister des Feelbad-Kinos, seinen neuen Film "Happy End" nennt, kann darin nur gallige Ironie liegen, vermuten die Kritiker. Der Film mit Jean Louis Trin­ti­gnant schließt an Hanekes letzten Film "Amour" an und spießt eine großbürgerliche Familie nach allen Regeln der Kunst auf, erfahren wir. Auf Artechock lobt Rüdiger Suchsland den formal brillanten, von Sarkasmen durchsetzten Film, dessen Familienaufstellung Suchsland als Kritik an der "satu­rierten Gesell­schaft" auffasst: Das hat mitunter komödiantische Aspekte, doch das "Thema ist ernst: Der Untergang des Westens durch die Frivo­lität der Reichen und die Unfähig­keit, die eigenen Ideale zu leben, wie der, sich andere zu geben. Denn das Private ist auch bei Haneke immer politisch. Krise ohne Alter­na­tive, res publica amissa, Anomie." In der FAZ beklagt Verena Lueken die Routine, mit der Haneke sein Programm abspielt, und die distanziert-brutale Perspektive, die der Regisseur einnimmt.

Dominik Kamalzadeh vom Standard zeigt sich unterdessen irritiert von Hanekes Entscheidung für die Form des "Pastiche": "Der Film wirkt wie das Fazit eines an pessimistischen Diagnosen reichen Werks: kein Happy End, sondern ein exakt konstruiertes, aber auch seltsam geläufiges Haneke-Kompendium, in dem Wiedergänger früherer Arbeiten sich zu einem finalen Requiem aufraffen. ... 'Happy End' ist ein Planspiel, das im Kern fast schon sarkastisch wirkt." Für SZ-Kritiker Tobias Kniebe fehlt es dem Film an der "radikalen, ästhetischen wie erzählerischen Geschlossenheit", die man von dem Regisseur sonst gewohnt war und "dort, wo der Film die Welt von Teenagern und Social Media berührt, wird sein mangelnder Kontakt zur Gegenwart offensichtlich". Ähnlich sieht es Andreas Busche im Tagesspiegel: "Man hat das alles von Haneke schon zwingender gesehen, 'Happy End' wirkt wie ein Potpourri bewährter Ideen."

Im Perlentaucher schreibt Lutz Meier über den Haneke-Film und über die Netflix-Debatte in Cannes: "Das alte Kino, so scheint es, kommt an den neuen visuellen Formeln nicht mehr vorbei, aber verdaut hat es sie auch noch nicht so recht. Dazu passt, dass in Cannes allen Ernstes erhitzt darüber diskutiert wird, ob Werke, die für Netflix (oder den Konkurrenten Amazon) gefertigt wurden, überhaupt auf dem Filmfest gezeigt und bewertet werden dürfen."

Weiteres von der Croisette: Das Festival kommt nicht recht in Schwung, schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel - wirklich überzeugende Filme haben derzeit noch Seltenheitswert. In der taz resümiert Tim Caspar Boehme seine Filmsichtungen des Wochenendes. Verena Lueken berichtet im FAZ-Blog von einer "öden" Masterclass mit Clint Eastwood. Mehr aus Cannes auf kino-zeit.de, Artechock und critic.de.


Wieder da: David Lynch als schwerhöriger FBI-Ermittler Gordon Cole in dritten Staffel der Kultserie "Twin Peaks"

Und dann war da noch das andere Großereignis: David Lynchs "Twin Peaks" ist zurück! Das Comeback sei zwar "auf der Höhe der Zeit, wirkt aber gleich wie ein Klassiker", schreibt Michael Hanfeld in der FAZ. Uneinig sind sich die Kritiker allerdings über den Look: "Sieht immer noch aus wie damals", meint Catrin Ströbele auf ZeitOnline ist dann aber doch enttäuscht, "dass Lynch altbekannte Bilder so lange ausschlachtet, bis sie vollends ihren Grusel verlieren. Ihm sind offensichtlich auch keine adäquaten neuen eingefallen." John Tatlock von The Quietus hat allem Anschein nach eine andere Serie gesehen:  "Eines der wichtigsten Erkennungsmerkmale der alten Staffeln waren die seifenopernartigen Momente, die von Badalamentis eindringlicher Musik noch verstärkt wurden - von ihnen fehlt jede Spur. Stattdessen herrschen Stille, unbehagliches Schweigen und ein geradezu quallvoller Mangel an Pathos vor. Nicht nur fehlt es an einer konventionellen Geschichte, auch Hinweise darauf, wie sich das Ganze anfühlen soll, sind nicht auszumachen. Die einstige Romantik der Serie ist dahin. Stattdessen gibt es da eine unheimliche Kälte und Brutalität."

Ähnlich schreibt auch Matt Zoller Seitz auf Vulture über das Comeback. Und dieser hochgepegelte Horror ist im übrigen auch der Grund dafür, warum Welt-Autorin Hannah Lühmann so enttäuscht ist: Die Serie spielt plötzlich über weite Strecken in New York und das "gemütliche Grauen, das in den Nebeln von Twin Peaks zuhause ist", ist ihr damit abhanden gekommen.

Weiteres: Im Filmdienst porträtiert Kathrin Häger den Kameramann Emmanuel Lubezki. Christian Schröder schreibt zum Tod des Schauspielers Gunnar Möller. Besprochen wird ein neuer Piratenfilm mit Johnny Depp, der mal wieder die Figur des Jack Sparrow gibt (SZ).
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Musik

In der NZZ stellt Ueli Bernays neuen Mundart-Rock vor. Die Spex bringt Eindrücke von Bryan Ferrys Berliner Konzert.

Besprochen werden ein Konzert des Arditti Quartetts (Tagesspiegel), Nick Hakims Album "Green Twins" (Pitchfork) und ein Konzert des Schwedischen Radio-Sinfonieorchesters (NZZ).
Archiv: Musik

Bühne

Jonathan Meese, dessen Wagner-Interpretation "Mondparsifal Alpha 1-8 (Erzmutterz der Abwehrz)" bei den Wiener Festwochen uraufgeführt wird, hat vorab schon mal auf 23 handschriftlichen Seiten seine Thesen über Wagner, die Figur des Parsifal, Ideologien und Politik niedergelegt, meldet der Standard, der sich die Seiten exklusiv sichern konnte. Hier eine Kostprobe: "Richard Wagner ist der große Entheiliger. Richard Wagner kennt nur Kunst und Kunst kennt nur Richard Wagner. Kunst ist die Erzlösung. Kunst ist die ZUKUNFT, NUR KUNST IST CHEF"

Außerdem: In der taz berichtet Robert Matthies über das Festival "Theater der Welt" in Hamburg.

Besprochen werden Nora Schlockers Adaption von Bov Bjergs Roman "Auerhaus" am Deutschen Theater Berlin (nachtkritik), Aribert Reimanns "Medea" an der Komischen Oper Berlin (Berliner Zeitung, taz), Necati Öziris Stück "Get Deutsch Or Die Tryin''" am Berliner Gorki-Theater (taz), Barbara Freys Adaption von Robert Walsers Roman "Jakob von Gunten" in Zürich (FAZ), Michael Thalheimers "Die Perser" in Wien (SZ) und Romeo Castelluccis Münchner Inszenierung von Richard Wagners "Tannhäuser" mit Kirill Petrenko am Pult ("übersubventionierter Münchner Murks", ätzt Jan Brachmann in der FAZ, Reinhard J.Brembeck ist in der SZ hingerissen: Kirill Petrenko und die Sänger seien in "Höchstform" und Castellucci "träumt, intensiv und genau auf die Musik hörend, den 'Tannhäuser' aus der Perspektive des Titelhelden", "Musikalisch liefert man einen Wohlfühl-Wagner", schreibt Joachim Lange im Standard, Marco Frei findet das Ganze in der NZZ durchwachsen, aber mit Höhepunkten).
Archiv: Bühne

Literatur

Anlässlich der Veröffentlichung der deutschen Ausgabe von "Kämpfen", dem letzten Band aus Karl Ove Knausgards autobiografischem Romanprojekt "Min Kamp", wagt sich Steffen Damp im Tagesspiegel an das mittlerweile beliebte Feuilletongenre der Knausgard-Erfolgs-Erklärung: Wie kam es dazu, dass ein Millionenpublikum einem Autor-Ich auf mehreren tausend Seiten unter anderem beim exzessiven Windelnwechseln zuguckt? Damps Schluss: "Der paradoxe Gestus der Uneindeutigkeit und beständigen Selbsthinterfragung, gepaart mit einem aufs Höchste gerichteten Anspruch und einem penetranten Mitteilungsbedürfnis, macht Knausgards Projekt zu einem paradigmatischen Dokument seiner Zeit. ... Knausgard macht im Prinzip nichts anderes als ein Facebook-User mit seiner Timeline: Er veröffentlicht eine kuratierte Version seiner eigenen Biografie. Er macht sein Leben als eine Art literarisches Breitbild-Selfie transparent, teilt es mit anderen und nennt es Roman, um sich auf die Gestaltungslizenzen künstlerischer Freiheit berufen und sie zugleich untergraben zu können." Besprochen wird das Buch in NZZ und Berliner Zeitung.

Weiteres: Der Tagesspiegel bringt einen vor 70 Jahren im eigenen Blatt erschienenen Text von Max Frisch.

Besprochen werden die Ausstellung "Im Rausch des Schreibens - Von Musil bis Bachmann" im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien (NZZ), Rachel Kushners "Telex aus Kuba" (Tagesspiegel), Georges Haldas' Gedichtband "Der Raum zwischen zwei Wörtern" (NZZ), Saleem Haddads "Guapa" (SZ) und die ersten deutschen Ausgaben von Walt Whitmans wiederentdecktem "Jack Engle"-Roman, deren Übersetzungen Tobias Döring in der FAZ miteinander vergleicht.

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Ruth Klüger über Jane Hirshfields "Am fünften Tag":

"Am fünften Tag
verbot man den Wissenschaftlern,
die die Flüsse studierten,
..."
Archiv: Literatur

Kunst

Petra Kaltenmorgen, Gifts and Gaps (1), � Petra Kaltenmorgen
Beeindruckt und den Kopf noch voll von Assoziationen kommt taz-Kritiker Radek Krolczyk aus einer Ausstellung der Künstlerin Petra Kaltenmorgen im Sprengel Museum in Hannover: "Die Arbeiten legen stets nahe, da sei etwas Großes zu Ende gegangen wie die Zivilisation oder gleich die ganze Menschheit, möglicherweise hat ein Atomkrieg alles Leben auf der Erde vernichtet. Das strahlt etwa ihre Fotoserie 'Materia' von 2010 aus, in der Petra Kaltenmorgen vor schwarzem Hintergrund Blumen zeigt. Zunächst wirken sie, belegt mit einem leicht aschigen Grau, als seien sie der letzte Rest irdischen Lebens. Dann aber entdeckt man die Spannung in den Stielen und Blättern und ihre bunten Blüten beginnen zu leuchten wie Sterne in der Nacht."

(via 3quarks) Das ist wirklich gruselig! Ein gewisser Olly Gibbs hat einige Klassiker der Kunstgeschichte im Rijksmuseum mit FaceApp aufgeheitert:





Wenn Fotojournalismus nur abbildet, wird er untergehen, glaubt Lars Boering, CEO der World Press Photo, im Gespräch mit Katrin Schregenberger (NZZ). Ihm "ist klar, in welche Richtung sich Fotojournalismus - und Journalismus im allgemeinen - entwickeln muss: Er muss Lösungen präsentieren, Wege aufzeigen. Und er muss interaktiv funktionieren. Die alleinstehende Fotografie sei schon heute kaum überlebensfähig. Für Boering ist das eine Frage des Erwachsenwerdens: 'Die Fotografie ist noch ein Baby und sie benimmt sich wie ein Baby', sagt er. Nun sei es an der Zeit, zu wachsen, intelligenter zu werden. Die Zeit sei reif für 'visuelle Storyteller', wie Boering sie nennt."
Archiv: Kunst