Die ungarische Schriftstellerin Anna Menyhért hat sich in Literaturlehrbüchern für die ungarischen
Gymnasien auf die Suche nach
Schriftstellerinnen gemacht - mit einem ernüchternden Ergebnis: Sappho wird zwar in mehreren Lehrbüchern erwähnt, doch dann vergehen über 2.000 Jahre, in denen Frauen nicht zu schreiben scheinen. Die nächste Autorin ist Emily Brontë, etwas später kommen die ungarischen Dichterinnen
Margit Kaffka und
Ágnes Nemes Nagy, in einem alternativen Lehrbuch dürfen die Schüler sogar etwas über
Sylvia Plath erfahren. Aber das war's dann auch. Im ungarischen Kanon,
stellt Menyhért fest, haben Autorinnen keinen Platz: "Die Frage ist nicht nur, was in der Vergangenheit geschah und weshalb wir die Schriftstellerinnen vergessen haben, sondern auch, wer dazu berechtigt ist, die Vergangenheit zu repräsentieren. Wenn heute niemand darüber spricht, bleibt die
weibliche Tradition stumm. Und noch wichtiger als das 'ob' ist, wie wir über die Autorinnen sprechen. Umgeben wir sie mit Geschichten, in denen ihre Tätigkeit oder Persönlichkeit abgewertet wird, oder versuchen wir sie derart zu lesen, dass sie sich aus den Schubladen der geschlechterbasierten Voreingenommenheiten befreien und den Weg zu einer
lebendigen Tradition finden können. Dieser rückwirkende Aufbau einer Tradition wäre die Garantie dafür, dass die weibliche Literatur von heute nicht ins Vergessen gerät. Die Schriftstellerinnen von heute brauchen Vorgängerinnen, damit sie, sich auf diese stützend, später selbst Tradition werden können."