Magazinrundschau - Archiv

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215 Presseschau-Absätze - Seite 9 von 22

Magazinrundschau vom 14.08.2012 - Nepszabadsag

Die ungarische Schriftstellerin Anna Menyhért hat sich in Literaturlehrbüchern für die ungarischen Gymnasien auf die Suche nach Schriftstellerinnen gemacht - mit einem ernüchternden Ergebnis: Sappho wird zwar in mehreren Lehrbüchern erwähnt, doch dann vergehen über 2.000 Jahre, in denen Frauen nicht zu schreiben scheinen. Die nächste Autorin ist Emily Brontë, etwas später kommen die ungarischen Dichterinnen Margit Kaffka und Ágnes Nemes Nagy, in einem alternativen Lehrbuch dürfen die Schüler sogar etwas über Sylvia Plath erfahren. Aber das war's dann auch. Im ungarischen Kanon, stellt Menyhért fest, haben Autorinnen keinen Platz: "Die Frage ist nicht nur, was in der Vergangenheit geschah und weshalb wir die Schriftstellerinnen vergessen haben, sondern auch, wer dazu berechtigt ist, die Vergangenheit zu repräsentieren. Wenn heute niemand darüber spricht, bleibt die weibliche Tradition stumm. Und noch wichtiger als das 'ob' ist, wie wir über die Autorinnen sprechen. Umgeben wir sie mit Geschichten, in denen ihre Tätigkeit oder Persönlichkeit abgewertet wird, oder versuchen wir sie derart zu lesen, dass sie sich aus den Schubladen der geschlechterbasierten Voreingenommenheiten befreien und den Weg zu einer lebendigen Tradition finden können. Dieser rückwirkende Aufbau einer Tradition wäre die Garantie dafür, dass die weibliche Literatur von heute nicht ins Vergessen gerät. Die Schriftstellerinnen von heute brauchen Vorgängerinnen, damit sie, sich auf diese stützend, später selbst Tradition werden können."

Magazinrundschau vom 26.06.2012 - Nepszabadsag

Nach mehreren zweifelhaften, politisch jedoch umso markanteren Literaten der Horthy-Ära bzw. aus dem rechten, antisemitischen Lager der Zwischenkriegszeit soll nun offenbar auch Otto Prohászka, Kleriker und Antisemit (1858-1927), ein Denkmal in Budapest bekommen. Der Publizist Iván Bächer wundert sich nur, dass diese Aufwertung Prohászkas durch die politische Klasse, die an der Ideologie und der Kultur der Horthy-Zeit Gefallen findet und daran scheinbar nur zu gern anknüpfen will, nicht schon früher gekommen ist: "Wir schreiben das Jahr 2012, leben aber im Jahr 1920. [...] Nichts ist natürlicher als solch ein Denkmal. Antisemitisch zu sein, ist nach Einschätzung der heutigen Rechten ein Kavaliersdelikt. Kein Vergehen, eher ein Stolpern. Ein Schönheitsfehler. Wenn nicht gar ein Verdienst. Antisemitisch zu sein ist in den Augen der heutigen offiziellen 'Rechten' ein eher bedeutungsloser Makel. 'Er war ein guter Mann, wenngleich ein wenig antisemitisch', heißt es dann. 'Er war ein wack'rer Ungar, nun gut, die Juden mochte er zwar nicht besonders, aber was soll's. Niemand ist vollkommen.'"

Magazinrundschau vom 12.06.2012 - Nepszabadsag

Der Soziologe Csaba Gombár widmet sich der Demagogie, die seiner Ansicht nach eine größere Gefahr in Demokratien darstellt als in Diktaturen, wo die Meinung des Volkes eh nicht mehr gefragt sei: "Manchmal kann der Volksfreund und Demagoge auch positive Ziele verfolgen, und dann wird die Sache besonders schwer, denn Demokratie und Demagogie unterscheiden sich oft nur um ein Haar. Es ist schwer zu erkennen, bringt aber viel Unheil, wenn wir dazu nicht fähig sind. Heutzutage, da statt klassischer Rhetorik Kommunikation gelehrt wird, wird ein ganzes Heer von Kommunikationswissenschaftlern ausgebildet, um die politische Ware zu verpacken und zu vermarkten. Die Grundsituation scheint jedoch immer die gleiche zu sein. Der Demagoge weiß stets, dass das, was er sagt, nicht richtig ist und hat über die geistigen Fähigkeiten seines Publikums eine eher abschätzige Meinung. Dies ist unter anderem der Ursprung der aristokratischen Geringschätzung der Demokratie. Dabei ist es in der Demokratie kein Muss, Demagoge zu sein, sondern nur ein Fehler."

Magazinrundschau vom 17.01.2012 - Nepszabadsag

Sind die Ungarn autoritätsgläubiger als andere Nationen, fragt Gabor Miklos den ungarischen Dramatiker György Spiro. Nein, antwortet der, so einfach ist das nicht: "In Osteuropa, zu dem wir gehören, hat die Anpassung an die verschiedenen Formen der autoritären Macht dieselben Bewusstseinsformen hervorgebracht, wie sie in Westeuropa vom Beginn des Feudalismus bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zu beobachten waren... Bei uns in Osteuropa setzen sich die europäischen Zustände des 19. und frühen 20. Jahrhunderts fort. Wir fallen immer wieder zurück. Zur Konservierung unserer Rückständigkeit trägt auch Westeuropa aktiv bei. Doch wir sind daran ebenso schuld, obwohl es nicht im Interesse der Mehrheit der Ungarn liegt, rückständig zu sein. Wenn wir uns über unsere nahe Zukunft informieren wollen, so sollten wir die westeuropäische Geschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts untersuchen. Vor allem empfehle ich die französische Geschichte zwischen 1830 und 1870."
Stichwörter: Französische Geschichte

Magazinrundschau vom 28.06.2011 - Nepszabadsag

Wenn demokratische Regierungen die sozialen Leistungen abbauen, werden sie - wie derzeit in Griechenland - mit dem Protest der Bevölkerung konfrontiert und müssen darauf früher oder später mit administrativem Zwang antworten. Diesen Kapitalismus, der von der Verbraucher- zur Disziplinierungsgesellschaft zurückkehrt, bezeichnet der Dichter und Literaturwissenschaftler Akos Szilagyi als Kasernenkapitalismus, der vor allem ein Vorbild hat: "Nachdem sich China verwestlicht hat, wird nun der Westen immer chinesischer, und wenn dieser Prozess in Ungarn beginnt, hat das einen guten Grund: endlich können sich unsere asiatischen Wurzeln an den globalen Trend klammern. Der Vorkämpfer des kasernenkapitalistischen Wandels, der ein neues Gesellschaftsmodell innerhalb der EU schafft, ist nämlich zweifellos Ungarn."
Stichwörter: Griechenland

Magazinrundschau vom 21.02.2011 - Nepszabadsag

Der renommierte ungarische Historiker Laszlo Karsai hat sich (gemeinsam mit seinem Kollegen Krisztian Ungvary) auf eine Diskussion mit Holocaustleugnern des Nazi-Portals kuruc eingelassen. Gabor Czene fragt ihn, warum er das getan hat: "Das fragen mich meine Freunde und Kollegen auch. Doch wenn sich nur ein paar junge Neonazis Gedanken über das machen, was wir dort niedergeschrieben haben, war unsere Arbeit nicht umsonst. Wichtiger noch ist, dass die Beiträge auf der Webseite seit Monaten in voller Länge vorhanden sind und zeigen, dass wir auf diese Weise argumentieren, und sie auf eine andere Weise. Bitte, vergleicht es doch! Die Jugend von heute liest kaum noch Bücher oder Zeitungen. Was im Netz nicht zu finden ist, existiert für sie einfach nicht. Wir dürfen sie nicht alleine lassen, es führt zu nichts Gutem, wenn sie stets mit niveaulosem Müll konfrontiert werden. [...] Vielleicht war es ein Fehler, mich an diesem widerwärtigen Disput über den Holocaust zu beteiligen, aber aus den Rückmeldungen weiß ich, dass viele ihn gelesen haben. Ich bereue es nicht."

Magazinrundschau vom 01.02.2011 - Nepszabadsag

Der ungarische Schriftsteller Mihaly Kornis hat in den letzten zehn Jahren jede Frage über Politik und Gesellschaft abgewiesen, sagt er im Interview mit Dora Matalin, aber jetzt will er nicht mehr schweigen: "Ohne Solidarität gehen wir zugrunde. Heute du, morgen ich, übermorgen - wer weiß, wie viele? Gegen jeden meiner weltberühmten Schriftstellerkollegen kann eine Hetzkampagne gestartet werden, wie jetzt gegen Agnes Heller, Mihaly Vajda und die anderen Philosophen. Renommiertere ungarische Denker gibt es übrigens nicht. Ihre Reputation kann man ihnen nicht nehmen - da versucht man wenigstens, ihr Ansehen hierzulande zu zerstören. Diese Hetze, die auf unhaltbaren Beschuldigungen basiert, ist kein bloßer politischer Fehler. Es ist, als würde man die Großmutter verprügeln. Ich sehe darin das erste schauprozessartige Vorgehen seit den siebziger Jahren, als auch ich im Fadenkreuz stand, und kann daher nicht gleichgültig bleiben. In einem Radiointerview sagte ich kürzlich, dass ich die demokratische Überzeugung der Regierung nicht in Frage stelle, solange ihre Taten dafür keinen Anlass geben. Wenn Unschuldigen schwere Vergehen zur Last gelegt wird, werde ich wissen, dass die Zeit der totalitären Autokratie wiedergekehrt ist. Nun ist sie da. Der Feldzug gegen die Philosophen lehrt uns, dass ab sofort jeder angegriffen werden kann, und das Publikum interessiert sich nicht für glaubwürdige Beweise."

Magazinrundschau vom 21.12.2010 - Nepszabadsag

Der Streit um Thilo Sarazzin und Angela Merkels Behauptung, Multikulti sei am Ende, hat auch in Ungarn eine Debatte ausgelöst. Der Soziologe Csaba Gombar erinnert daran, dass Multikulturalismus ursprünglich als Gegenkonzept zur alten Idee des Nationalstaats entworfen wurde, die in der Vergangenheit Auslöser zahlreicher Konflikte war. "Vielleicht ist es damit nun tatsächlich vorbei. Vielleicht hat sich unsere krisengeschüttelte Welt inzwischen derart verhärtet, dass sich der Standpunkt: 'assimiliert euch, integriert euch, oder macht, dass ihr fortkommt!', europaweit durchsetzen wird. Der Multikulturalismus wurde nirgendwo auf der Welt zur Wirklichkeit, sondern blieb stets ein im liberalen und linken Gedankengut verankertes, von Schuldgefühlen, Moral und Hilfsbereitschaft motiviertes Ziel. Er wurde von Anfang an als 'Multikulti' verpönt, genauso wie die mit ihm eng verbundene, fast schon mit Abscheu ausgesprochene 'PC', die politische Korrektheit. Beide sind von Zielscheiben des Hohns inzwischen zu regelrechten Sündenböcken geworden. Die politisch korrekte Rede, so scheint man heute weithin anzunehmen, behindert nur noch die Durchleuchtung und Diskussion gesellschaftlicher Probleme. Und der Multikulturalismus ist seinen zahlreichen Kritikern zufolge geradezu zum Auslöser für Ghettoisierung und der Segregation geworden. Als hätten die Ghettos und die verschiedenen Formen der Ausgrenzung in Europa und in Ungarn jemals des Multikulturalismus bedurft. Es hat schon immer auch ohne ihn funktioniert. Auch heute. Ich wünsche allen ein friedliches Fest."

Magazinrundschau vom 05.10.2010 - Nepszabadsag

"Vor unseren Augen wird die liberale Demokratie Ungarns schrittweise in eine totalitäre Demokratie umgewandelt", schreibt die Philosophin Agnes Heller. Sie ist über diese Entwicklung nicht sehr erstaunt. Denn die Grundsteine dafür seien in der zwanzigjährigen Geschichte der ungarischen Demokratie gelegt worden: "In Rumänien, in Polen, sogar in der Tschechoslowakei wurde die Wende nach dem deklarierten Willen der Bürger vollzogen. ... Und bei uns? Opposition und Staatspartei einigten sich an einem runden Tisch. Wo waren da die Bürger? Sie saßen zu Hause vor dem Fernseher, während alles über ihre Köpfe hinweg entschieden wurde. Warum sollten sie die nun gefährdete Verfassung als ihre eigene begreifen? Die ungarischen Bürger haben nie gelernt, ihre Verfassung zu ehren, es ist ihnen egal, was sie enthält oder enthalten wird. Wir alle sind dafür verantwortlich. [...] Das Verschanzen in einem politischen Lager wurde zum alleinigen Maßstab des politischen Denkens. Beschuldigung und Verunglimpfung der jeweils anderen Seite oder zumindest ihrer Motive wurde uns zur Gewohnheit. Wundern wir uns nun, dass wir den Preis dafür bezahlen müssen? Es ist ein schwacher Trost, dass auch die jetzige Regierung den Preis für ihre Fehler wird bezahlen müssen - denn für politische Sünden und Fehler wird man noch in dieser Welt zur Kasse gebeten - weil diesen Preis das ganze Land bezahlen wird."

Magazinrundschau vom 17.08.2010 - Nepszabadsag

Am 16. Juli hat das russische Unterhaus eine Gesetzesänderung verabschiedet, wonach derjenige, der verdächtigt werden kann, in ein künftiges Verbrechen (z.B. Terrorakt) verwickelt zu werden, vom Inlandsgeheimdienst FSB im Rahmen einer prophylaktischen (!) Vorladung offiziell verwarnt werden muss. Der ungarische Literaturkritiker Akos Szilagyi bewertet die Einführung des juristischen Begriffs "Precrime" als ersten Schritt hin zum Polizeistaat: "Der quasi Rechtsbegriff 'Precrime' und dessen quasi Sanktionierung - auch wenn diese Sanktion noch so sanft ist - ist im Grunde nichts anderes, als das 'Vorverbrechen' des Rechtsstaats. Das Verbrechen selbst wäre nach diesem Muster die Verwirklichung der Polizeistaatlichkeit. Damit stellt sich aber die Frage: Welche wirksamen Mittel sind vorhanden, um den Staat als potenziellen Verbrecher auf dem Weg zum Verbrechen aufzuhalten?"
Stichwörter: Rechtsstaat, Polizeistaat