Magazinrundschau - Archiv

London Review of Books

515 Presseschau-Absätze - Seite 6 von 52

Magazinrundschau vom 05.07.2022 - London Review of Books

In einem ellenlangen Report berichtet Zain Samir von der miserablen Lage in Afghanistan, wo sich nach dem Abzug der westlichen Streitkräfte und der Machtübernahme der Taliban religiöser Dogmatismus, Korruption, Armut und Opiumhandel zu einer allumfassenden Trostlosigkeit verbinden: "In Kandahar sitzen Frauen in verblichenen Burkas am Straßenrand und springen auf, wenn sie einen Pickup mit Taliban an sich vorbeifahren sehen. Die Frauen rennen den Lastwagen hinterher, in der Hoffnung, dass sie Nahrungsmittelhilfe verteilen. Auch die Männer stehen Schlange, um Taliban-Hilfsgüter zu erhalten. Die meisten von ihnen sind ehemalige Farmpächter, die durch Dürre und Krieg von ihrem Land vertrieben wurden. Im Hauptkrankenhaus von Kandahar sagte mir ein Arzt, dass sich die Zahl der Kinder, die an akuter Unterernährung leiden, im letzten Jahr mehr als verdoppelt hat. 'Wir päppeln sie auf, es geht ihnen etwas besser, ihre Mütter bringen sie zurück in ihre Dörfer und ein paar Wochen später sind sie wieder da.' Die Mütter bekämen zwar Lebensmittelpakete für ihre Kinder, aber das reiche nie aus, weil sie keine andere Wahl hätten, als die Rationen auf alle ihre Kinder, ob krank oder gesund, aufzuteilen. In jedem Krankenhausbett liegen drei, manchmal vier Kinder, winzige Skelette mit freiliegenden Rippen und aufgeblähten Mägen. Es gibt kaum einen Größenunterschied zwischen fünfjährigen Kindern aus dem Panjwayi-Distrikt außerhalb von Kandahar und zweijährigen Kindern aus Helmand. Die Zahlen sind furchtbar: Unicef schätzt, dass zwei Millionen afghanische Kinder wegen akuter Unterernährung behandelt werden müssen. In einem Land, in dem 97 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben, ist dies eine Krise, die nicht leicht zu lösen sein wird."
Stichwörter: Afghanistan, Taliban

Magazinrundschau vom 28.06.2022 - London Review of Books

Eigentlich ist Palmenöl, wie es ursprünglich in Westafrika gewonnen und verwendet wird, ein durchaus aromatisches Öl. Erst industrielle Prozesse machen es zu einer farb-, geruchs- und geschmacklosen Zutat, die inzwischen in der Hälfte aller Supermarktprodukte enthalten ist, vom Toilettenreiniger bis zur Nuss-Nougat-Creme. Bee Wilson liest zwei Bücher zur Geschichte des Palmöls, die sie beide empfehlen kann, wobei ihr Jonathan E. Robins' "Oil Palm: A Global History" grundlegender erscheint als Jocelyn C. Zuckermans engagiertes "Planet Palm: How Palm Oil Ended Up in Everything":  "Die brutale und ausbeuterische Art, mit der sich William Lever den Zugang zu Ölpalmen in Belgisch-Kongo sicherte, war kennzeichnend für die moderne Palmölindustrie. 1911 unterzeichnete er einen Vertrag über 1,8 Millionen Hektar Ölpalmenland. Es ist erstaunlich, dass der Konzern Unilever immer noch den Namen eines Mannes trägt, der in einem Brief an einen seiner Direktoren schrieb, dass 'es eine bekannte Tatsache ist, dass das Gehirn des Afrikaners nicht mehr in der Lage ist, neue Eindrücke zu verarbeiten, wenn er das Erwachsenenalter erreicht hat'. Er nannte die Palmöl-Siedlung Leverville und sagte, die Palmenhaine dort seien 'der prächtigste Anblick, den ich je in irgendeinem Teil der Welt gesehen habe'. Aber die Kongolesen, die dort arbeiteten, hatten kein prächtiges Leben. Wie andere ausländische Palmöl-Magnaten verwandelte Lever die wilden Palmenhaine Afrikas in sterile Plantagen, die von einem neuen, von ihm gegründeten Unternehmen verwaltet wurden: Die Huileries Congo Belge (HCB). Als Sidney Edkins 1911 dorthin kam, um dort zu arbeiten, stellte er fest, dass in der Region 'kaum ein Dorf zu sehen war', weil die Zwangsarbeit 'die bestehende Bevölkerung in einem Radius von fünfzig Meilen beiderseits der Piste praktisch ausgerottet hatte'. ... Robins schreibt: 'Europas ökonomische Besessenheit bedeutete, die Erträge eines jeden Hektars so hoch wie möglich zu treiben; die Afrikaner dagegen passten sich dem Land an, um den Ertrag ihrer Arbeit zu maximieren'."

Thomas Meaney nimmt Lea Ypis weithin gefeiertes Buch "Frei" kritisch unter die Lupe. Schwer zu sagen ist, was ihm weniger behagt, die Biografie einer Tochter aus der Upperclass, deren familie unter Königen, Faschisten, Stalinisten und Neoliberalen gleichermaßen reüssierte, oder die universal-sozialdemokratische Theorie, die Ypi daraus formt. Ihr Buch beginnt mit dem Knallersatz "Ich habe mich nie gefragt, was Freiheit bedeutet, nicht bis zu dem Tag, als ich Stalin umarmte". Wie Meaney weiß, wurde er ihr Albanien besonders übel genommen: "Es gab in den neunziger Jahren keine Stalin-Statue in Durrës, nur eine kleine Büste und der wurde nie der Kopf abgeschlagen. Ypi reagierte, indem sie sich über die albanischen Fact-Checker lustig machte, die einer ermüdenden 'Korrespondenztheorie der Wahrheit' anhingen und stattdessen Walter Benjamins Essay 'Ausgraben und Erinnern' lesen sollten."

Magazinrundschau vom 14.06.2022 - London Review of Books

Nach neun Monaten geht in Paris in diesen Wochen der Prozess um die Terrorattentate von Paris zu Ende, bei denen im November 2015 insgesamt 130 Menschen umgebracht wurden. In einem gerafften Protokoll resümiert Madeleine Schwartz den hoch aufgeladenen Prozess derart gelangweilt, dass man sie aus dem Gerichtssaal in eine Top-Gun-Vorstellung schicken möchte. Niemand bietet die richtige Unterhaltung: Die Richter sind ihr zu ironisch, die Zeugen zu politisiert, die belgischen Polizisten zu unfähig, die Verteidiger zu eitel, die Nebenkläger zu rechts. Auf die Nerven geht ihr aber auch der Hauptangeklagte Salah Abdeslam, dessen Sprengstoffgürtel vor dem Stade de France nicht explodierte. Er will sich im letzten Moment umentschieden haben, verteidigt aber Sklaverei und Todesstrafe im Namen des Islams. Immerhin die überlebenden Zeugen aus dem Bataclan lässt Schwartz gelten, vielleicht weil ihre Aussagen ein so ungünstiges Licht auf Frankreich werfen. Zum Beispiel Sophie, 38 Jahre: "Ich erinnere mich, wie sie grinsten, während sie auf die Leute schossen, die ihnen in die Augen gesehen hatten. Ich erinnere mich an den Jungen, der neben mir starb. Wir legten ihn auf uns, um uns zu schützen... Wir sahen Männer mit Waffen und flehten, nicht getötet zu werden. Sie sagten, wir sollten verschwinden. Hinterher wurde mir klar, dass das wahrscheinlich schon Polizei oder Militär war. Ich erwischte ein Uber, das schon besetzt war. Der Fahrer und der Passagier retteten mein Leben ... Ich fuhr zum Hôpital Sainte-Anne. Ich war dort bis drei Uhr morgens. Mein Fall wurde nicht als ernst betrachtet. Ich wurde am nächsten Morgen um neun Uhr operiert. Davor kam ein Polizist. Er moserte, dass ich nicht das Armband trug, das mich als Opfer auswies. Er war ziemlich aggressiv. Die Pflegerinnen mussten ihn wegschicken. Ich blieb zwölf Tage im Krankenhaus. Nach der zweiten Operation wurde mir gesagt, dass ich zwei Kugeln im Körper hatte. Eine war in meiner Wade explodiert, die andere in meinem Becken. Ich musste entscheiden, ob ich sie drin lassen wollte oder entfernen lassen. Ich ließ sie drin. Vier Tage später hatte ich Geburtstag. Ich fühlte mich schuldig, dass ich noch am Leben war. Ich fuhr zu meiner Mutter in die Provence. Als ich nach Paris zurückkehrte, hatte ich Angst, getötet zu werden. Ich rief die psychiatrische Hotline an. Sie legten auf, weil ich zu sehr weinte. Sie sagten, ich solle mich wieder melden, wenn ich mich beruhigt hätte. Ich ging zu einem Therapeuten, der schlief ein, während ich sprach. Als er wieder aufwachte, fragt er mich nach meinen Großeltern. Das war der Beginn von drei Jahren psychologischem Chaos. Ein Psychiater empfahl mir Chaplin-Filme. Ein anderer begann jede Sitzung mit Ausführungen über das französische Gesundheitssystem. Die nächste brach zusammen, als ich erklärte, warum ich da sei. Ich musste sie trösten."

Magazinrundschau vom 17.05.2022 - London Review of Books

75 bis 100 Prozent ihres Getreides importieren die nordafrikanischen Läner aus Russland und der Ukraine. Seit Beginn des Krieges sind die Weizenpreise noch einmal um fünfzig Prozent gestiegen, die Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen warnen bereits vor einem "Hurrikan des globalen Hungers". Aber sie betonen auch, wie Tom Stevenson berichtet, dass die Versorgungskrise nicht mit dem Krieg begonnen hat, sondern durch ihn nur offensichtlich wurde: "Eine Vielzahl von Ursachen wurde aufgeführt, vom volatilen Wetter bis zu veränderten Ernährungsgewohnheiten in China und Indien. Ein wichtigerer Faktor sind allerdings die Nachwirkungen der Covid-Pandemie auf transnationale Produktion und Schiffsverkehr: Momentan kreisen fünfhundert Schiffe vor dem Hafen von Schanghai. Knappheit herrscht an vielen Enden: Weltweit sind die Bestände an Aluminium, Kupfer, Nickel und Zink um siebzig Prozent gesunken. Aber es sind die kritischen Rohstoffe - Weizen und fossile Brennstoffe -, die das Ausmaß des Problems offenbart haben. Doch bei allen Schäden, die die Pandemie hinterlassen hat, kann sie doch nicht vollständig den Anstieg der Lebensmittelpreise erklären, die dem Krieg in der Ukraine vorangegangen ist. Ein wichtiger Teil der Geschichte spielt auf den kaum regulierten Rohstoffmärkten, die von einer Handvoll Finanzinstitutionen und Unternehmen dominiert werden. Spekulationen haben Lebensmittel in der Finanzkrise 2008 für viele Arme unerschwinglich gemacht. Investmentbanken bestreiten häufig, dass Spekulationen verantwortlich sind für ungewöhnliche Preisschwankungen. Jeff Currie, der führende Rohstoff-Analyst von Goldman Sachs, macht dafür - vorhersehbar - die zu starke Regulierung der Banken verantwortlich, aber auch ein Kapitaldefizit - zu viel Geld gehe in Netflix, zu wenig in Öl, Bergbau und industrielle Landwirtschaft. Aber das ist kaum überzeugend. Große Finanzinstitute und Händler, die auf Preise von Energie und Lebensmitteln wetten, verstärken mit ziemlicher Sicherheit die Preisausschläge. Selbst die Liquidität der großen Rohstoffspezialisten wie Trafigura, Vitol, Glencore und Cargill ist dank ihrer Derivateposition angespannt."

Magazinrundschau vom 10.05.2022 - London Review of Books

Neal Ascherson liest gebannt Richard Butterwicks Geschichte des polnisch-litauischen Königreiches, mit dem Russland im 18. Jahrhundert, nach Verabschiedung der "revolutionären Verfassung vom 3. Mai 1791", ähnlich umsprang wie heute mit der Ukraine (wobei natürlich auch Preußen und Habsburg ihren Anteil an der Zerschlagung Polens hatten): "Die Schlupfwespe tötet die Raupe nicht, sondern injiziert ihrer Beute ein Gift, das sie lähmt und gefügig macht. Russland hat sich seinen Nachbarn gegenüber immer wie eine Schlupfwespe verhalten. Katharina II. hätte es vielleicht vorgezogen, Polen gelähmt zu halten, anstatt es zu zerschlagen, aber die Raupe gab unerwartet Lebenszeichen von sich. Heute gelingt es Putin weder der Ukraine Nachgiebigkeit einzuflößen noch sie zu annektieren. Beide Optionen erfordern einen Kader von willigen Verrätern, die die Regierung übernehmen. In der Ukraine rechnete Putin damit, sie unter den lokalen Oligarchen und ihren politischen Lakaien zu finden, die seit vielen Jahren ihre Wetten und Investitionen zwischen Kiew und Moskau abgesichert haben. Katharina rekrutierte sich den Kader aus den größten Adelsfamilien, den Großgrundbesitzern, deren Ländereien so groß wie Belgien sein könnten. Der polnisch-litauische Adel - die 'Szlachta' - steht im Mittelpunkt dieser Geschichte. Der letzte König von Polen, Stanisław August Poniatowski, bleibt trotz seines dreißigjährigen Kampfes um die Modernisierung seines Königreichs und die Wiederherstellung seiner Unabhängigkeit ein Nebenakteur. Die Szlachta war nicht wie der westliche Adel. Diese Gruppierung, herrlich streitsüchtig und exzentrisch, verschaffte jedem westlichen Besucher Anekdoten für ein ganzes Leben. ... Der Meteor hob 1788 ab, als der Sejm in Warschau zusammentrat (die Sitzung ist noch als 'Großer Sejm' in Erinnerung). Er sollte vier Jahre lang tagen und mehr als dreißigtausend Reden hören. Er war keine Revolution, aber er war revolutionär in seiner Umwandlung des polnisch-litauischen Commonwealth in etwas, das sich der Moderne annähert, und in seinem Sturmangriff auf reaktionäre Missstände, die einst als unabänderlich galten. ... Die aufgeregten, aber 'anarchischen' Adligen, die den Sejm besetzten, waren begeistert von Polens Aufbruch zu echter Unabhängigkeit, aber misstrauisch gegenüber Reformen, die ihre Goldene Freiheit untergruben. Die Magnaten schließlich (die Branickis, Potockis und Rzewuskis, die Oligarchen ihrer Zeit) baten insgeheim um eine russische Intervention, um sie vor den jakobinischen Demokraten zu schützen und ihre Vorherrschaft wiederherzustellen. All dies gipfelte in der Verfassung vom 3. Mai 1791, die noch immer ein heiliger Tag in der nationalen Geschichte ist."

Online-Werbung ist eine Geheimwissenschaft, Donald MacKenzie hat eher vergeblich für den britischen Markt versucht, der Spur des Geldes zu folgen: "Im Jahr 2016 testete der Guardian die Angebote, indem er auf seiner eigenen Website Werbeplätze kaufte und stellte fest, dass manchmal nur 30 Prozent der gezahlten Beträge den Weg zur Zeitung fanden. Ein paar Jahre später wurde ein Team von PricewaterhouseCooper von der Incorporated Society of British Advertisers beauftragt, die Geldströme systematischer zu verfolgen. Das Team arbeitete mit fünfzehn großen Werbetreibenden - darunter Nestlé, Unilever, Vodafone und British Airways -, deren jährliche Gesamtausgaben für Online-Werbung sich im Vereinigten Königreich auf etwa 100 Millionen Pfund belaufen. Zwölf Zeitungs- oder Zeitschriftenkonzerne, die am anderen Ende der Wertschöpfungskette stehen, nahmen an der Studie teil. PwC versuchte, die von den Werbetreibenden gekauften Werbeeinblendungen mit den von den Verlegern verkauften Werbeplätzen abzugleichen. Die Verhandlungen über den Zugang zu den Daten, die sich im Besitz der Zwischenhändler von Angebots- und Nachfrageplattformen (SSP und DSP) befinden, erwiesen sich als kompliziert - die Studie dauerte schließlich fünfzehn Monate - und Schwierigkeiten wie Unterschiede im Datenformat machten einen Abgleich oft unmöglich. Bei den 31 Millionen Impressions, die PwC vollständig abgleichen konnte, stellte es fest, dass im Durchschnitt nur 51 Prozent der von den Werbetreibenden ausgegebenen Mittel die Publisher erreichten. Zwei Drittel der verbleibenden 49 Prozent wurden von den Gebühren der Vermittler absorbiert. PwC konnte jedoch nicht feststellen, wo fast ein Drittel der 49 Prozent - das sind etwa 15 Prozent der Ausgaben der Werbetreibenden - gelandet sind."

Weiteres: Azadeh Moaveni schildert in einer umfangreichen Reportage, wie geflüchtete Ukrainerinnen in die Gefahr von Menschenhandel und Prostitution geraten.

Magazinrundschau vom 03.05.2022 - London Review of Books

Christopher de Bellaigue, einst Reporter im Mittleren Osten, erkundet die Verzweiflung der britischen Landwirte, die James Rebanks in "English Pastoral" und Bella Bathurst in "Field Work" beschreiben. Wenn Bathurst Abdecker, Apfelbauern und Ministerialbeamte trifft, dann lernt de Bellaigue, wie groß das Unwissen der Städter und Beamte mittlerweile geworden sei: "Während Bathaurst einem Tierarzt namens Dan dabei hilft, Kühe auf Tuberkulose zu testen, erfährt sie, dass der Trend zum Double-Muscling - der Zucht von Rindern, die doppelt so viele magere Muskeln haben wie von Natur aus - dazu führt, dass die Kälber bestimmter Rassen nur noch per Kaiserschnitt geboren werden können. Das macht Dans Leben gefährlicher - kürzlich wurde er doppelläufig (also von zwei Hufen) quer durch einen Stall geschleudert und entging nur knapp einem Genickbruch. Von Bathursts Tag auf dem Hereford Tiermarkt erfahren wir, dass britische Muslime die Schafzucht am Leben halten, während der Rest des Landes zu Nuggets verarbeitete Hühner aus Watte bevorzugt. Sie beschreibt den ständigen Kampf der Landwirte gegen Krankheiten. Für die britische Stadtbevölkerung fiel Covid als Jahrhundertereignis wie ein Meteorit vom Himmel. Für die Landbevölkerung, die an aufeinanderfolgenden Wellen von Tuberkulose, BSE und Maul- und Klauenseuche gewöhnt war, war es nur eine weitere notwendige Anpassung auf der langen Liste für Anpassungen'. Und, so hätte Bathurst hinzufügen können, ein weiterer Beitrag zur Kluft im Verständnis zwischen den Stadtbewohnern und der winzigen Zahl derer, die weiterhin auf dem Land leben."

Magazinrundschau vom 26.04.2022 - London Review of Books

Der Lockdown für ganz Shanghai hat die Stadt, die sich so gern als Musterbeispiel des neuen Chinas präsentiert, zutiefst beschämt, erzählt Mimi Jiang, die auch zu berichten weiß, dass der Omikron-Ausbruch in einem Quarantäne-Hotel für Reisende aus Hongkong seinen Anfang nahm, dessen veraltete Klimaanlage die Viren verbreitete: "Als Wissenschaftler Alarm schlugen, war es bereits zu spät für die dynamische Null-Covid-Strategie. Seitdem herrscht Chaos. Die Führung war sich über das weitere Vorgehen uneinig. Die Mehrheit der Ärzte neigte zu einem sanften Ansatz: Die Sterblichkeit bei Omikron ist gering und die meisten Menschen erholen sich innerhalb weniger Tage, so dass Schnelltests und Zuhausebleiben ausgereicht hätten. Einige Beamte waren ebenfalls dieser Meinung, da Chinas Finanz- und Handelszentrum zu wichtig sei, als dass es hätte geschlossen werden können. Leider schloss sich sonst niemand dieser Meinung an. Als auch in den Nachbarprovinzen positive Fälle auftraten, reagierten die lokalen Behörden verärgert und stellten Belohnungen in Aussicht, wenn jemand Besucher aus Shanghai meldete. Dann - heißt es - beschwerten sie sich in Peking über das verantwortungslose Verhalten der Shanghaier. Peking schickte ein Inspektionsteam, dem nicht gefiel, was es sah. Im Netz wurde gewitzelt, dass Shanghai versuchte, still liegen zu bleiben, während seine Bruderprovinzen versuchten, ihm aufzuhelfen: Das Ergebnis waren Sit-ups ohne Ende."

Stefan Collini liest zum hundertsten Bestehen der BBC zwei neue Bücher: einen etwas schwärmerischen Insider-Report von David Hendy sowie eine kritische-nüchterne Geschichte von Simon Potter. Und auch wenn beide ein wenig darüber hinwegtäuschen, dass die BBC als riesiger halb-kommerzialisierter hybrider Behemoth längst nicht mehr die nationale Institution ist, die sie während des Zweiten Weltkriegs oder des Kalten Krieges war, referiert er freudig die Geschichte der Feindschaft zwischen der BBC und Downing Street: "Wer schon immer glaubte, die BBC würde sich am Ende den Wünschen der jeweiligen Regierung beugen, führt oft den Generalstreik von 1926 an. Der amtlichen Position gegen den Streik wurde viel Sendezeit gegeben, der Position der Streikenden nicht. Als der BBC-Direktor John Reith in der Downing Street bei Stanley Baldwin eruierte, ob sie einen Aufruf des Erzbischofs von Canterbury senden könnten, der beide Seiten aufforderte, in kameradschaftlichem Geist die Feindseligkeiten zu beenden, wurde ihm mild-drohend beschieden: 'Dem Premier wäre lieber, wenn Sie es nicht täten.'... Die Labour-Regierungen der sechziger und siebziger Jahre waren der BBC ebenso feindlich gesinnt, Tony Benn verglich sie mit der 'katholischen Kirche des Mittelalters, darauf bedacht, aus der Position des Mittelschicht-Establishment die Gedanken zu kontrollieren'. Harold Wilson, der einen Hang zum Misstrauen hatte, glaubte, die BBC würde gegen ihn konspirieren, und schlug Mitte der siebziger Jahre vor, die Gebühren abzuschaffen, um den Sender direkt unter Regierungskontrolle zu bringen. Vorhersehbar war, dass Margaret Thatcher die British Bastard Corporation hasste, wie ihr Mann sie gern nannte. Der Falklandkrieg wurde zum unvermeidlichen Reizthema, als Thatcher dagegen wütete, dass Reporter stets von den britischen Streitkräften sprachen, nicht von 'unseren Truppen'."

Magazinrundschau vom 22.03.2022 - London Review of Books

Tom Stevenson hat sich mittlerweile auch nach Kiew durchgeschlagen und berichtet von Flüchtenden in den Zügen nach Westen und Paramilitärs, die sich in Kellerkneipen martialisch geben, aber absolut nüchtern bleiben. Über die Kriegsgeschehnisse hat er auch einiges in Erfahrung gebracht: "Der militärische Erfolg der Ukraine lässt sich größtenteils mit den Waffenlieferungen und der Ausbildung erklären, die die ukrainischen Streitkräfte seit 2014 erhalten haben. Gemessen an ihrem Geldwert war die von den USA und ihren Verbündeten gelieferte militärische Ausrüstung bescheiden. Aber die Waffen erwiesen sich als gut geeignet für diesen Krieg. Die von den USA gelieferten Panzer- und Flugabwehrwaffen wie auch Radarsysteme und Geräte für die sichere Kommunikation erscheinen heute als vorausschauend. (Es kann nicht geschadet haben, dass der amerikanische Geheimdienst anscheinend eine Quelle im Kreml mit Zugang zu den Kriegsplänen hatte.) Die ukrainische Armee hat die Panzerabwehrwaffen aus westlicher Produktion gut genutzt, und tragbare Luftabwehrsysteme scheinen den Einsatz russischer Luftstreitkräfte im großen Stil verhindert zu haben. Anstatt die Ukraine mit protziger und teurer Ausrüstung zu versorgen, die im Nahen Osten eher dazu dient, Abhängigkeit zu fördern als Effektivität, haben die USA die ukrainischen Streitkräfte in Form gebracht, um Russlands konventionelle Armee zu frustrieren."

Außerdem liefern zahlreiche LRB-Autoren Beiträge zur russischen Invasion in der Ukraine, darunter Neal Ascherson, Sheila Fitzpatrick, Jeremy Harding, Laleh Khalili, Thomas Meaney, James Meek, Pankaj Mishra, Azadeh Moaveni, Vadim Nikitin, Olena Stiazhkina, Vera Tolz und Daniel Trilling. Fredric Jameson feiert Olga Tokarczuks "Jakobsbücher" als Beleg für das "eigentlich Unmögliche, den Roman eines Kollektivs zu schreiben. 'Denn der Messias ist hier nicht ein einfach falscher Prophet, sondern der in allen Adern fließende, kostbare Glaube des Menschen daran, dass Erlösung möglich sei.'"

Magazinrundschau vom 08.03.2022 - London Review of Books

Wahrscheinlich liegt es an den gemeinsam besuchten Elite-Unis, dass sich in Britannien die Milieus nicht so strikt getrennt haben und deswegen auch die linke LRB über Militärexpertise verfügt. Simon Akam beleuchtet - in einem vor Ausbruch des Ukraine-Krieges geschriebenen Text - die Führungsqualitäten in der britischen Armee und verweist auf die Untersuchung des einstigen Oberstleutnant Richard Sale, der bereits vor über dreißig Jahren mithilfe psychologischer Software 49 Brigadegeneräle testete: "Die Brigadegeneräle schnitten im Bereich 'Differenzen beilegen' 20 Prozent schlechter ab als ihre Gegenparts im zivilen Management, in alle anderen Bereichen betrug der Unterschied weniger als fünf Prozent. Sales zufolge war dies 'ein klarer und überzeugender Indikator für autoritatives Verhalten'. Sale war beeinflusst von der Arbeit des Psychologen Norman Dixon, der in seinem Buch "On the Psychology of Military Incompetence' (1976) argumentierte, dass die britische Armee ihre Offiziere von einem begrenzten gesellschaftlichen Segment rekrutiere, das intellektuelle Anstrengung unter- und Tradition überbewertet. Bei Beförderungen würden autoritative Persönlichkeiten bevorzugt, die sich ihren Vorgesetzten andienten und Untergebene herrisch behandelten. Die höheren Ränge ignorierten Individuen ebenso wie Vorstellungen, die mit ihnen nicht übereinstimmten. Der starke autoritative Zug schmälert die Fähigkeit, gegenteilige Meinungen einzubinden, er macht aus Untergebenen Jasager und ist allgemein extrem kontraproduktiv... Sales Einschätzung zeigt eine Kultur, die Rigidität erfordert, um unter dem Terror, der Verwirrung und der Erschöpfung des Krieges zu funktionieren, die in der Konsequenz allerdings oft Kritik ignoriert - und manchmal auch die Realität. Sonst könnte man kaum erklären, wie zwei Monate nach dem chaotischen Rückzug aus Afghanistan, wo der einheimische, vom Westen unter immensen Kosten aufgebaute Sicherheitsapparat innerhalb weniger Tage zusammenbrach, die britische Armee, ohne mit der Wimper zu zucken, ein Buch herausgibt mit dem Titel: 'Aus Gewohnheit exzellent: Warum die britische Armeeführung funktioniert.'"
Stichwörter: Ukraine-Krieg

Magazinrundschau vom 01.03.2022 - London Review of Books

Tony Wood wirft den USA und der Nato vor, Putins Krieg gegen die Ukraine richtig vorhergesehen, aber nichts unternommen zu haben, um ihn aufzuhalten. Die Waffenlieferungen an Kiew dürften Putin eher noch angespornt haben, meint Stevenson, jetzt drohe ein brutaler Blitzkrieg oder ein brutaler Stellvertreterkrieg: "In beiden Szenarios dürfte der Konflikt für die Ukraine zu einem massiven Verlust an Souveränität führen. Russlands will demonstrieren, dass es das ukrainische Militär neutralisieren kann und sich nach Belieben Stücke ihres Territoriums herausbrechen kann. Sein Gewaltakt soll aber auch die Ukraine unfähig machen, als unabhängiger Staat zu funktionieren. Selbst im Falle einer Waffenruhe oder eines russischen Rückzugs wird die Handlungsfähigkeit der Ukraine drastisch eingeschränkt, ihre Wirtschaft lahmgelegt und ihre Sicherheit kompromittiert. Die Ukraine als Klientelstaat der Nato in einer intensivierten geopolitischen Auseinandersetzung ist keine bessere Aussicht. Das wäre die Souveränität eines Schlachtfelds. Die andere Möglichkeit wäre, die Souveränität der Ukraine von einer Nato-Mitgliedschaft zu entkoppeln. Es gibt keine intrinsische Verbindung zwischen Europa und Nato, wie es die EU-Mitgliedschaft Österreich, Irland und Schweden zeigen - alles neutrale Staaten, keiner davon in der Nato. Am 24. Februar zeigt sich Präsident Selenski bereit, über die Neutralität der Ukraine im Austausch für Frieden zu verhandeln, und die könnte die beste Chance sein zu überleben, für ihn und die Ukraine."

Der atomaren Abschreckung ist seit jeher ein Moment des Wahnsinns eingeschrieben, erinnert Tom Stevenson in einem Text, der vor Russlands Einmarsch in die Ukraine erschien. Ihm zufolge waren es bisher allerdings die USA, die immer wieder mit dem Einsatz ihrer Atomwaffen drohten und für sich auch das Recht auf den atomaren Erstschlag herausnahmen. Vor allem sind sie nicht erst wieder wieder in Mode, seit Donald Trump drohte, Nordkorea 'mit Feuer und Zorn vollständig zu vernichten': "Das Gleichgewicht der Kräfte zwischen den Nuklearstaaten hat geschwankt. Die USA haben zu jeder Zeit die atomare Überlegenheit über andere Staaten angestrebt und in trüber Regelmäßigkeit mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Sie haben kein nachhaltiges Interesse an Rüstungskontrollverträgen und ihre Kriegspläne beinhalteten völkermörderische Erstschläge. Russlands Atomstreitkräfte waren in den 1990er und frühen 2000er Jahren im Niedergang begriffen. Seine atomar bewaffneten U-Boote waren in dieser Zeit größtenteils nicht einmal auf Patrouille. Doch in den letzten zehn Jahren hat Russland den Verfall zum Teil wieder rückgängig gemacht. Es hat viele kleinere taktische Atomwaffen beibehalten, angeblich aus Furcht vor einer Bodeninvasion aus dem Westen (und vielleicht dem Südosten). Seit den 1960er Jahren stützen sich die britischen Atomstreitkräfte auf von U-Booten abgefeuerte ballistische Raketen. Die Raketen werden von den USA geleast. Im März verpflichtete sich das Vereinigte Königreich, seine Atomwaffenbestände um 40 Prozent aufzustocken und damit den vier Jahrzehnte andauernden Abbau rückgängig zu machen."