Magazinrundschau - Archiv

Literarni noviny

8 Presseschau-Absätze

Magazinrundschau vom 07.12.2021 - Literarni noviny

Vor wenigen Tagen starb mit Petr Uhl eine wichtige Figur der tschechoslowakischen Dissidentenszene. Uhl war einer der Erstunterzeichner der Charta 77, gründete zusammen mit Václav Havel das Menschenrechtskomitee VONS und saß unter den Kommunisten insgesamt neun Jahre im Gefängnis. Doch auch nach der Wende blieb Uhl ein hartnäckiger Kritiker der Verhältnisse. Der marxistisch geprägte "lebenslange Kämpfer für größere Gerechtigkeit" (so Petr Fischer) der sich selbst zuletzt "Sozialist und grüngefärbter Linksliberaler" nannte, blieb überzeugt, dass man nach anderen politischen Möglichkeiten suchen müsse: durch direkte Demokratie in Form von Referenden in grundlegenden Fragen (Ökologie, Geschlechtergleichheit) und auch durch freie Bürgerversammlungen, die er aus der Dissidentenzeit kannte und für viel kreativer hielt als die eingeführte Organisation in den politischen Parteien. In den Literární Noviny erinnert sich sein Weggefährte Jan Schneider an den Unbequemen: "Unter seinen Gegnern genoss er hohen Respekt, vielleicht sogar höheren als unter den 'Seinen', denn der Wert, den er hochhielt, war die Solidarität, was gegen totalitäre Regimes aller Art die wirksamste Waffe ist, die aber letztlich beiden Seiten wehtut." Und so habe Uhl auch nach dem Regimewechsel alle gepiesackt, "er stritt sich mit Freunden, stritt sich mit Feinden, war manchmal bis zur Ungerechtigkeit gerecht, und oft war es mit ihm schwer auszuhalten, aber auf der anderen Seite waren wenige Begegnungen im Leben so wertvoll und inspirierend, so ergiebig und lehrreich, dass es das einfach wert war, sich immer wieder mit diesem Menschen zu treffen, der wohl niemanden kalt ließ, entweder weil er einem das Herz erwärmte oder die Galle hochkochen ließ."

Magazinrundschau vom 09.07.2019 - Literarni noviny

In der Kontroverse um die Wiedererrichtung der barocken Mariensäule auf dem Altstädter Ring - also im Herzen Prags - haben sich 26 tschechische Kunsthistoriker zu Wort gemeldet, die das Projekt ablehnen. Die von Kaiser Ferdinand III. am Ende des 30-jährigen Kriegs errichtete und 1918 vom Volk gestürzte Säule sei als politisch-ideologische Demonstration der österreichischen Frömmigkeit (pietas Austriaca) eben nicht nur ein Gedächtnisdenkmal der erfolgreichen Verteidigung der Prager Altstadt vor den schwedischen Heeren gewesen, "sondern auch ein Symbol der expansiven Habsburger katholischen Gegenreformationspropaganda. In diesem Kontext kann sie ganz eindeutig nicht als Erklärung der ökumenischen Versöhnung zwischen den Kirchen dienen." Den Brief (mit diesem und anderen Argumenten) an den Bürgermeister und den Stadtrat von Prag haben unter anderem die Kunsthistorikerin Milena Bartlova und der (geschasste) Direktor der Nationalgalerie Jiri Fajt unterschrieben.

Magazinrundschau vom 19.01.2016 - Literarni noviny

Der Literaturwissenschaftler Petr Bílek sinniert über das Wesen des Jahreswechsels, diese seltsame Mischung aus Morbidität (die rasant vergehende Zeit bringt uns dem Tode näher) und unbedingter Happiness und entdeckt unerwartete europäische Einmütigkeit: "Dieses Sylvester hatte ich die Gelegenheit, mit der Fernbedienung in der Hand durch Hunderte von Fernsehkanälen zu wandern, von der Türkei über Rumänien, Ungarn, Spanien, Frankreich, Italien, Deutschland und Schweiz bis zu Tschechien. (…) Wenn es ginge, würde ich alle wegen unerlaubter Kartellabsprache verklagen. Bayerische Blasmusik, Dirndl, Lederhosen, balkanische Blasmusik, Volkstrachten, Gassenhauer über die Liebe, türkischer Pop aus roten Lippen dargeboten, Ziehharmoniken in Schweizer Händen, wie Puppen angemalte Menschen, entfesselte Senioren, Dauerlächeln in gebräunten Gesichtern, als würden alle bis zu den Knien in klebrigem, süßen Honig versinken (…) Und man konnte es nicht einmal als Parodie ertragen, denn das war alles Ernst, denn genauso muss das sein. So etwas lieben wir, so feiern wir, das ist unsere Ode an die Freude. Europa in den Klauen einer Verschwörung. Einer Verschwörung der Geschmacklosigkeit. Eine mächtige menschliche Hymne. Ich behaupte mit Entschiedenheit, es existieren gemeinsame europäische Werte - aber ja!"

Magazinrundschau vom 08.12.2015 - Literarni noviny

"Es gibt Mitteleuropa, aber wo ist es?", fragt in einem Essay der Literaturwissenschaftler Petr Bílek und verweist damit auf die Tradition von Tschechen, Polen oder Ungarn, sich als Mitteleuropäer zu begreifen und sich damit ganz klar von einem "Osteuropa" abzugrenzen. "Die Ausarbeitung jenes Bedeutungskomplexes namens Mitteleuropa war vor dem Fall des Eisernen Vorhangs das Werk oppositioneller Intellektueller aus den europäischen Ländern des Sowjetblocks. Zu ihnen gehörten etwa Adam Michnik in Polen, György Konrád in Ungarn oder der tschechische Milan Kundera in Paris. Gerade Kunderas Pessimismus, wie er sich besonders in seinem Essay 'Die Tragödie Mitteleuropas' aus dem Jahr 1985 äußerte, versuchte, die europäische, und das meint natürlich die westeuropäische Öffentlichkeit mit aller Dringlichkeit darauf aufmerksam zu machen, dass das Schicksal der unter den imperialistischen russischen Einfluss geratenen Nationalkulturen die Vorlage ihrer eigenen Zukunft sei, sofern es nicht gelänge, das Vordringen Asiens auf dem Kontinent zu stoppen." Nach 1989 schien die Idee eines mitteleuropäischen Gefüges dann zunächst zur positiven Realität geworden zu sein, sie wurde jedoch in den 90er-Jahren durch das Schicksal Exjugoslawiens stark erschüttert. Bei seinem geschichtlichen Überblick konstatiert Bílek, wie die Beschwörung eines 'Mitteleuropa' immer wieder aus einem Gefühl der Bedrohung geboren wurde. Und die aktuellen Geschehnisse in der Ukraine scheinen die Notion wiederzubeleben. "Es zeigt sich, dass die Wahrnehmung und Verwendung des Begriffs vor allem mit dem Verhältnis der kleineren Staaten in der Nachbarschaft Russlands zu Russland selbst zu tun hat."

Magazinrundschau vom 14.07.2015 - Literarni noviny

Im Gespräch mit Jakub Ehrenberger erzählt die Autorin Katja Petrowskaja, deren Buch "Vielleicht Esther" auch auf Tschechisch erschienen ist: "Ich bin auch deshalb nach Deutschland gezogen, weil mich die deutsche Normalität, sich mit dem Krieg zu konfrontieren, so fasziniert hat. Ich habe 1999 ein kampflustiges Russland verlassen - und damit meine ich die gesamtgesellschaftliche Stimmung, die verwendete Rhetorik und so weiter - und habe mich sofort in Berlin verliebt. Damals war ich noch überzeugt davon, ich wüsste alles über Krieg und Frieden. Nichts hatte ich gewusst. Ich befand mich in Berlin und dachte: Mein Gott, das hier ist der Frieden." Nach dem aktuellen Krieg in ihrem Herkunftsland Ukraine befragt, antwortet Petrowskaja: "Wissen Sie, ich bin in der Sowjetunion aufgewachsen. Ich habe in Estland studiert und in Moskau promoviert. Ich bin viel russischer als Putin, der die eigenen Jungs aus Pskow oder sonstwo in die Ukraine schickt, als ginge es nur um ein Übungsmanöver. (…) Wie kann noch jemand Putin verteidigen? Was bedeutet überhaupt "prorussisch"? Putin ist der letzte Mensch, der diese Bezeichnung verdient. Schließlich geht es hier ums Töten von Menschen, der eigenen und derjenigen, die sie angeblich schützen wollen."

Magazinrundschau vom 23.06.2015 - Literarni noviny

Ein weiterer Schriftsteller und Dissident aus der Havel-Generation ist gestorben: Josef Topol, Dichter, Dramatiker, Shakespeare-Übersetzer, Mitunterzeichner der Charta 77 und Vater des Schriftstellers Jáchym Topol. Petr Bílek würdigt ihn: "Topol, das ist nicht nur ein Werk, sondern auch ein Schicksal. Welches waren seine Konstanten? Der Junge vom Land, der in die Metropole kam, die Kraft eines Talents gegen das Diktat der Ideologie, der Magnetismus seiner Persönlichkeit und ein hilfreiches menschliches Umfeld, der Aufstieg des [von ihm mitgegründeten] Theaters Divadlo za branou und dessen Fall, der Geächtete als Steinhauer unter der Karlsbrücke und die Rückkehr zur Bühne, die sich als wenig dankbar erwies. Ein Mann, der die Zeit gestaltet hatte, dem die Zeit jedoch dahin entfloh, wohin er ihr nicht mehr folgen wollte. (…). Josef Topol ließ sich niemals zur Koketterie mit der Macht verführen, auch wenn er vor allem nach 1989 sicher genug Gelegenheiten dazu hatte."

Magazinrundschau vom 07.04.2015 - Literarni noviny

Wem Ende des 19. Jahrhunderts Paris zu weit war, um Malerei zu studieren, der ging nach München. Anlässlich der Pilsener Ausstellung "München - leuchtende Metropole der Kunst" schreibt Ivan Matějka: "Es war ein Laboratorium für neue Verfahren, die vielleicht nicht so spektakulär waren wie die in Paris, doch für die Entwicklung der Kunst nicht weniger wichtig. (…) Künstler aus den böhmischen Ländern stellten um die Jahrhundertwende die drittgrößte Kolonie dort dar. (…) So prägte München die tschechische Kunstgeschichte und lieferte oft auch selbst das Sujet, wie die Radierungen Viktor Strettis, Aquarelle Luděk Marolds und František Drtikols, Ölgemälde Ludvík Kubas und Fotografien von Alfons Mucha beweisen. "München war das Athen des Westens, wo man den besten studierenden Menschen der ganzen Welt begegnete, wobei die Nationalität keine Rolle spielte" erinnert sich die Malerin Zdenka Vorlová-Vlčková an ihre Münchner Jahre." Eine Rarität der Ausstellung, die an die 100 Werke von 42 Künstlern umfasst, ist "Das Martyrium der heiligen Ludmilla" des gebürtigen Pragers Gabriel von Max: Das Bild galt lange als verschollen und wurde unlängst bei einem New Yorker Sammler entdeckt. "Seinem Titel zum Trotz reiht sich Max" Gemälde in jene Bilder ein, die tote, gleichwohl schöne Mädchen zeigen und mit dem Etikett "Unglücksmalerei" versehen wurden. Angeblich rührten sie die Betrachter einst zu Tränen."

Magazinrundschau vom 20.01.2015 - Literarni noviny

Ausgerechnet der Literaturzeitschrift Literární noviny gab der syrische Präsident Assad einen Tag nach dem Massaker bei Charlie Hebdo eines seiner seltenen Interviews. Im Gespräch mit Tereza Spencerová wirft Assad dem Westen Naivität in Hinblick auf den Terrorismus vor. "Wir haben immer gesagt, ihr dürft dem Terrorismus (…) keinen politischen Schutz bieten, denn das wird auf eure Länder und eure Völker zurückfallen. Doch man hat nicht auf uns gehört. Die westliche Politiker waren kurzsichtig und borniert. Was gestern in Frankreich passiert ist, beweist, dass unsere Aussage richtig war. Dieses Ereignis zieht gleichzeitig die europäische Politik zur Rechenschaft, denn sie ist verantwortlich für das, was in unserer Region passiert ist, für das, was gestern in Frankreich geschehen oder was vielleicht schon früher in anderen Ländern geschehen ist."