Magazinrundschau - Archiv

L'Espresso

320 Presseschau-Absätze - Seite 10 von 32

Magazinrundschau vom 02.09.2008 - Espresso

Das Feuer unter dem Schmelztiegel New York ist schon lange erloschen, meint der indische Autor Suketu Mehta. Die heutigen Einwanderer leben in Gemeinschaften, die sich selbst genügen und nur wenige Verbindungen zur Außenwelt haben. "Die Einwanderer sehen heute keine Notwendigkeit mehr, einen wie auch immer imaginären und idealisierten amerikanischen Way of Life anzunehmen, sie können in Amerika mehr oder weniger so leben wie vor ihrer Auswanderung. Geht man an einem kalten Januarmorgen über die Brücke von Manhattan, kann es einem passieren, dass man auf Hunderte junger Mexikaner trifft, die mit einem Bild von Jesus herumlaufen, auf den T-Shirts prangt der Heilige ihres Heimatortes Puebla. Dieser rituelle Umzug heißt Antocha und ist ursprünglich ein Pilgerzug von Mexiko-Stadt nach Puebla zu Ehren des Heiligen, nur dass diese jungen Menschen von Zentrum Manhattans zu einer Kirche in Brooklyn laufen, wo ein lebensechtes Abbild des verehrten Heiligen ihrer Heimat steht."

Magazinrundschau vom 19.08.2008 - Espresso

Umberto Eco fühlt sich furchtbar und sein Italien in die dunklen vierziger Jahre zurückversetzt. "Ich kann nicht behaupten dass alles wieder wie früher ist, sicherlich nicht zur Gänze. Aber es beginnt langsam wieder danach zu riechen. Zunächst einmal gibt es Faschisten in der Regierung. Gut, es sind nicht unbedingt richtige Faschisten, aber es stimmt, Geschichte entfaltet sich beim ersten Mal als Tragödie, beim zweiten Mal als Farce. In den Vierzigern entdeckte man an den Mauern Plakate, die einen schwarzen Amerikaner zeigten, abstoßend (und betrunken), der seine gekrümmte Hand in Richtung einer weißen Venus von Milo ausstreckte. Heute blickt man im Fernsehen in die bedrohlichen Gesichter abgemagerter Schwarzer, die zu Tausenden unserer Land überschwemmen. Meiner Meinung nach sind die Leute heute sogar eingeschüchterter als damals."
Stichwörter: Eco, Umberto

Magazinrundschau vom 05.08.2008 - Espresso

Italien schickt zwei Boxer zur Olympiade: Clemente "Tatanka" Russo und Domenico "Mirko" Valentino. Beide trainieren in Marcianise unweit von Neapel. Roberto Saviano macht sie in seiner Reportage zu Botschaftern ihrer zornigen Heimat. "In ihren Schlägen steckt die ganze Wut dieses Landstrichs. Auf den Straßen von Marcianise fragen sie alle: 'Wann fahren wir nach Peking?' Sie sagen nicht 'Wann fahrt ihr?', sondern 'Wann fahren wir?'. Denn hier ist man nicht nur ein Einzelner, sondern wird zur Summe von vielen. Diese Vielheit, das stärkt. Und so wird von diesen beiden Jungs nur eines verlangt: gebt diesem Landstrich das zurück, was sie uns weggenommen haben, zeigt ihnen, was hier verborgen liegt - die Wut, die Einsamkeit, abends die Leere. Denn daraus bestehen Clemente und Mirko, aus einem Stoff, den es so nirgendwo sonst gibt. Sie sind so hungrig, etwas zu werden, etwas zu erreichen, sich zu emanzipieren von dem Übel und der Feigheit innendrin."

Magazinrundschau vom 29.07.2008 - Espresso

Weil die ganze Welt herumreist, reicht das Passfoto zur Identifikation nicht mehr aus, schreibt Umberto Eco. Dass man in den USA seinen Fingerabdruck nimmt, findet er nervig, aber unumgänglich. Sonst würde es überall so zugehen wie in den Taxifahrerkreisen von Paris. "Ein Freund erzählt, dass er sich in Paris darüber wunderte, dass die Taxifahrer aus dem Nahen Osten einige Straßen einfach nicht kannten. Also fragte er sie, ob sie denn keine Prüfung ablegen müssten. Der gute Mann antwortete, dass man mit einem orientalischen Aussehen bei einer Prüfung sich mit allem Möglichen ausweisen kann. Auf dem Bild muss nur irgend ein anderer orientalisch anmutender Mann drauf sein. Der Prüfer kann das nicht unterscheiden. Und so, erklärte der wackere Taxifahrer, absolviert derjenige, der sich am besten auskennt, die Prüfungen für alle seine Kollegen."

Weiteres: Die Bibliothek des Vatikans wird derzeit renoviert. Bis sie 2010 wieder aufmacht, empfiehlt Sandro Magister die runderneuerte und erweiterte Website, die jetzt auch einen Katalog der 150.000 Manuskripte enthält. Moses Naim hält es für gut möglich, dass sich die Lage der Frauen weltweit tatsächlich langsam bessert.

Magazinrundschau vom 22.07.2008 - Espresso

Roberto Saviano, Autor von "Gomorrha", erinnert sich in einem schönen Text an seine Reise zum Festival von Cannes, wohin er mit einer Gruppe junger Laiendarsteller aus Neapel fuhr, die in der Verfilmung seines Buchs als Nachwuchs-Camorristi auftraten. Bei der Pressekonferenz antwortete einer auf die Frage, ob er mangels Alternativen nicht selbst zum Mafioso hätte werden können: "Nein, Sie irren sich! Ich ein Mafioso, niemals! Die haben, abgesehen vom Geld, ein schreckliches Leben. Und meine Mutter weint immer noch, denn sie hat mich im Film als Toten gesehen, erschossen. Stellen Sie sich vor, das passiert wirklich."
Stichwörter: Geld, Mutter, Neapel, Saviano, Roberto

Magazinrundschau vom 15.07.2008 - Espresso

Umberto Eco kommt nach einem halben Jahr des Nachdenkens nochmal auf Pierre Bayard zurück, der behauptet, das Lesen eines Buchs sei mindestens so kreativ wie das Schreiben desselben und dass es deshalb so viele verschiedene Varianten von Emma Bovary gibt wie Leser. Eco widerspricht. Ausgerechnet in der fiktiven Welt hat der Relativismus nämlich seine Grenzen, meint er. "Es ist doch so: die Erzählungen, so wie sie dastehen, werden vom Leser als unverrückbare Wahrheit akzeptiert, natürlich immer innerhalb des Möglichkeitsraums eines Romans. Das ist auch die schreckliche Schönheit einer jeden Geschichte: Emma Bovary stirbt durch die eigene Hand, und wie sehr man diese Tatsache auch verabscheut, können wir nichts dagegen tun, bis in alle Ewigkeit. Wir könnte natürlich einen anderen Roman schreiben, in dem die Bovary ermordet wird, wie es Doumenc getan hat, aber was den Reiz (oder das Dilemma) dieser Alternativ-Literatur ausmacht, ist doch die Tatsache, dass wir alle darin übereinstimmen - und da kann Bayard sagen was er will - dass in der Welt von Flaubert die Arme Selbstmord begeht, und dass wir dabei alle von dem 'gleichen Buch' reden."

Magazinrundschau vom 08.07.2008 - Espresso

Der in Bombay geborene Autor und Journalist Suketu Mehta rät allen Indientouristen, nicht nur das Taj Mahal, sondern auch einen Slum zu besuchen. "Nur zu, tun Sie es, niemand wird Ihnen was antun. Was auch immer in Südafrika oder Brasilien passiert, in Indien ist die Armut nicht mit Straßenkriminalität, mit Übergriffen oder Entführungen verknüpft. Falls Sie es vorziehen, können Sie auch eine geführte Tour durch die Slums von Bombay oder Delhi machen, die ausnahmslos von nichtindischen Organisationen angeboten werden, für Touristen, die ein etwas wahrheitsgetreueres Abbild des Landes sehen wollen. Aber sparen Sie sich ihr Trinkgeld, das Sie dem Führer geben wollten, auf und verteilen Sie es stattdessen an die Bewohner des Slums. Einen Slum zu besuchen ist die leichteste Sache der Welt. Sie müssen nur den Portier oder das Zimmermädchen ihres Hotels fragen, ob Sie sie mal nach Hause begleiten dürfen. Dann entdecken Sie das wahre Indien, das Indien, das nicht unglaublich, sondern glaubwürdig ist."
Stichwörter: #ausnahmslos, Südafrika, Delhi

Magazinrundschau vom 01.07.2008 - Espresso

Beim Abitur in Italien ist etwas mächtig schiefgegangen. Schuld waren aber nicht die Schüler. Bei der Gedichtinterpretation ging es diesmal um Eugenios Montales "Ripenso il tuo sorriso". Der homosexuelle Montale schrieb es als Hommage an einen russischen Balletttänzer. Die Professoren, die den Aufgabentext erstellten, wussten davon offenbar nichts und forderten die Schüler auf, sich die Frau vorzustellen, die Montale so herzzerreißend anbetet. Umberto Eco kann angesichts dieser Ignoranz nur den Kopf schütteln. "Der Text selbst deutet ja schon darauf hin, dass der Adressat ein Mann ist. 'O lontano' (oh Entrückter), das ist hundertprozentig ein Vokativ und kann nicht mal mit dem allerbesten Willen als 'von weit her' oder 'wenn Du auch weit weg bist' verstanden werden. Die Ministerialbeamten haben offenbar den Text nicht gelesen, denn dann hätten sie gewusst, um wen es sich handelt, auch ohne, wie Mario Baudino in der La Stampa vorschlägt, die kritische Edition von Contini-Bettarini zu konsultieren. Dort erscheint das Gedicht auf Seite 30, die Informationen über den Adressaten 'K' gibt es auf Seite 872."
Stichwörter: Eco, Umberto

Magazinrundschau vom 24.06.2008 - Espresso

Ein Schwurgericht in Neapel hat am Donnerstag die Haftstrafen gegen mehrere Mitglieder der neapolitanischen Camorra bestätigt. Mit 16 lebenslänglichen Gefängnisstrafen war der Spartacus-Prozess einer der größten Mafia-Prozesse in der Geschichte Italiens. Fünf Zeugen oder deren Verwandte wurden im Laufe des Verfahrens ermordet. Grund genug für den Espresso, seine Berichterstattung über die Mafia noch einmal in einem Schwerpunkt zusammenzufassen. Der Casalesi-Clan ist in Aufruhr, berichten Gianluca Di Feo und Claudio Pappaianni. Jetzt hängt alles von den beiden weiterhin flüchtigen Bossen Antonio Iovine und Michele Zagaria ab. "Zagaria ist ein ungewöhnlicher Casalesi, der nach Angaben von Informanten auch eine Spur Kokain nicht verschmäht, was im Clan eigentlich verboten ist. Er besteht darauf, wie ein Priester behandelt zu werden: 'Du sollst tun, was ich sage, und nicht machen, was ich tue.' Er weiß, wie man das Image bedient: Seine Angestellten empfängt er in prunkvollen Villen und begrüßt sie mit einem Tiger an der Leine. So ist er zusammen mit seinem Bruder Pasquale der König der Ausschreibungen geworden: der Hochgeschwindigkeitszug Tav, das neue Gefängnis, die lokale Eisenbahnlinie, und schließlich die Radarbasis der Nato."
Stichwörter: Mafia, Nato, Neapel, Clan, Camorra, Kokain

Magazinrundschau vom 17.06.2008 - Espresso

Die Welle der Fremdenfeindlichkeit, die gerade über Italiens Sinti und Roma hinwegrollt, macht Umberto Eco richtig ungehalten. Mit beißendem Spott bietet er in seiner Bustina den neuen "revisionistischen" Autoren Stoff an für ihre Pamphlete. Bestens geeignet, so Eco, seien dafür Texte aus der faschistischen Tageszeitung Die Verteidigung der Rasse, die von 1938 bis 1943 erschien. Hier ein Exzerpt aus Guido Landras "Das Problem der Mestizen in Europa", das den verbalen Ausfällen mancher italienischer Politiker von heute erschreckend ähnelt: "Es handelt sich um asoziale Individuen, die sich im Geiste völlig von den übrigen europäischen Völkern unterscheiden, vor allem von den Italienern, die sich bekanntlich durch Fleiß und eine Verbindung zur Scholle auszeichnen."