Magazinrundschau

Wenn Risse entstehen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
28.11.2023. Israel kann die Hamas nicht zerstören, weil Hamas eine Idee ist und man eine Idee nicht auf dem Schlachtfeld töten kann, befürchtet das Newlines Magazine. Im Interview mit Meduza fordert Ewgenia Kara-Mursa, die russische Zivilgesellschaft zu unterstützen, um das Regime zu schwächen. The Insider zeichnet den Antisemitismus der Romanows nach. Desk Russie erzählt derweil, wie die Sowjets verbreiteten, die Ukraine trüge die Hauptschuld an der Schoa. Hakai rechnet vor, was der Klimawandel für das Versicherungswesen bedeutet: Nichts Gutes.

The Insider (Russland), 24.11.2023

Nachdem das Polnisch-Litauische Reich im 18. Jahrhundert zusammenbrach, fielen dies verbliebenen Territorien dem expandierenden russischen Reich zu - "eine große Zahl polnischer Juden fand sich plötzlich unter russischer Gerichtsbarkeit wieder", berichtet The Insider in einem nicht gezeichneten Text. Auch wenn sie als Untertanen anerkannt wurden, waren Juden in diesen Regionen seither Pogromen ausgesetzt. Diese wurden von höchster Stelle geduldet. "Fast alle Romanows waren bis zu einem gewissen Grad Antisemiten: Selbst der 'aufgeklärte' Alexander II., der die Stellung der Juden etwas liberalisierte, ließ sich leicht zu Äußerungen hinreißen wie: 'Die Menschen sind im Allgemeinen höflich, aber äußerst ungepflegt und ähneln den Juden' (seine Meinung über Italiener). Sein Nachfolger, Alexander III., machte aus seiner antisemitischen Haltung keinen Hehl. Der Mann mit der wenigsten Bildung glaubte aufrichtig an die Blutverleumdung und war selbst im Alltag judenfeindlich. (…) Alexander III. hob nicht nur alle von seinem Vater eingeführten Lockerungen auf, sondern verschärfte auch die antijüdischen Gesetze, wo immer er konnte. 'Vorläufige Regeln', die es Juden untersagten, sich auf dem Land niederzulassen, Immobilien zu erwerben, Land außerhalb von Städten und Schtetls zu pachten und sonntags Geschäfte zu machen, entzogen vielen jüdischen Familien die Lebensgrundlage und führten, wie der Publizist Semyon Dubnov anmerkt, zu legitimen Pogromen. (…). Seine (Alexanders) Haltung konnte nicht ohne Auswirkungen auf die öffentliche Stimmung bleiben. Zwar war es unwahrscheinlich, dass die Regierung die Pogrome initiierte, aber sie scheute keine Mühe, um zu zeigen, dass Pogrome erlaubt waren."
Archiv: The Insider

Newlines Magazine (USA), 22.11.2023

Khaled Diab blickt auf die tief sitzenden individuellen und kollektiven Traumata der Israelis und Palästinenser, die von Extremisten auf beiden Seiten ausgenutzt werden. Katastrophe werde auf Katastrophe folgen, warnt er: "Israel kann die Hamas nicht zerstören. Das liegt nicht daran, dass die Hamas unbesiegbar ist oder dass es Israel an Feuerkraft mangelt. Das liegt daran, dass 'Hamas' eine Idee ist und man eine Idee nicht auf dem Schlachtfeld töten kann. Tatsächlich läuft das, was Israel jetzt in Gaza tut, Gefahr, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass noch radikalere Bewegungen aus den Trümmern hervortreten, insbesondere da die sozialen Säulen, die die Gemeinschaft zusammenhalten, inmitten der Zerstörung zusammenbrechen. Die große Trauer und das Trauma, die durch die anhaltende Zerstörung des Gazastreifens verursacht werden, könnten einen neuen Kader von Extremisten mit willigen oder auch widerwilligen Rekruten hervorbringen. Israels extremer Militarismus und sein übermäßiges Vertrauen auf die militärische Macht sind zum Teil ein Nebenprodukt eines historischen Traumas, das von Extremisten ausgenutzt wird, um die Öffentlichkeit für das Siedlungsprojekt und die anhaltende Entmachtung der Palästinenser zu unterstützen oder sie als Geisel zu halten. Die Macht, der Machismo und die Prahlerei der stärksten Armee der Region kompensieren in der kollektiven Psyche teilweise das Gefühl vergangener Machtlosigkeit und Schwäche. Auch unter den Palästinensern herrscht eine nicht ungleiche Dynamik der Überschätzung des Nutzens von Gewalt und der Unterschätzung der Entschlossenheit und Entschlossenheit der anderen Seite, allerdings eher aus aktuellen und nicht aus historischen Gründen. Das anhaltende kollektive Trauma der Enteignung hat nicht nur tiefe Schmerzen, sondern auch tiefe Quellen ohnmächtiger Scham über die kollektive Schwäche des palästinensischen Volkes und seine Unfähigkeit, sich zu verteidigen, geschaffen."

"Wer sind wir, wenn unser Zuhause sowohl physisch als auch metaphorisch zerstört wurde?" Dieser Frage widmet sich der aus Syrien nach Großbritannien geflohene Architekt Ammar Azzouz in seinem Buch "Domicide: Architecture, War and the Destruction of Home in Syria", für das er Überlebende zum Verlust ihrer Heimat befragt hat. Er berichtet: "Manche entscheiden sich dafür, sich nicht durch ihre Erfahrungen mit Gewalt und Zerstörung definieren zu lassen und weigern sich, als Überlebende bezeichnet zu werden - entweder aus Stolz oder aus dem Wunsch heraus, weiterzumachen. ... Andere, die versuchen, im Exil ein neues Leben aufzubauen, werden weiterhin von der Erinnerung an den Krieg geplagt, auch wenn sie jetzt relativ komfortabel leben, wie ein Videoclip der syrischen Künstlerin Assala Mostafa Hatem Nasri mit dem Titel 'Brot, Zucker, Heimat' zeigt. Nasri tut so, als höre sie ihren Mann nicht, als er sie fragt, ob sie gesehen hat, was in Syrien passiert. Sie wechselt das Thema und bittet ihn, Brot und Zucker nach Hause zu bringen. Er wiederholt die Frage, und wieder wechselt sie das Thema. Aber als er darauf besteht, geht sie in ihr Wohnzimmer, das sich in einen Ort des Traumas verwandelt, da Bilder von Ruinen und Vertreibung an die Wände projiziert werden. Es ist klar, dass sie zwar nicht über den Krieg sprechen will, aber er beschäftigt sie immer noch, und sie singt: 'Mein Geliebter, ich tue so, als könnte ich dich nicht hören, weil ich Angst habe, eines Tages zerstört zu werden. Wegen all meines Schmerzes habe ich Angst, jemandem meine Gefühle zu beschreiben."

Außerdem: Die Anthropologinnen Ammara Maqsood und Amandas Ong warnen mit Blick auf den Israel-Palästina-Konflikt davor, dass Sprache den Krieg trivialisiert, die Opfer entmenschlicht und die Vergangenheit auslöscht.

Meduza (Lettland), 23.11.2023

Im Interview mit Eilish Hart spricht Ewgenia Kara-Mursa über die Haftbedingungen ihres Mannes Wladimir Kara-Mursa und wirbt für eine breite Unterstützung der russischen Opposition. Denn wenn "all die russischen Bürger, die verstehen, was geschieht, und versuchen, sich dagegen zu wehren -, wenn dieser Teil der russischen Zivilgesellschaft zerstört wird, dann wird es keine andere Alternative geben oder es wird etwas Schlimmeres geben als Wladimir Putin. Es sollte also alles getan werden, um sicherzustellen, dass diese Menschen überleben. Ich spreche nicht nur von den politischen Gefangenen in Russland, sondern auch von Hunderttausenden von russischen Bürgern, die das Land verlassen haben, weil sie nicht an diesen Verbrechen beteiligt sein wollen. (...) Wir wissen also, dass es diese Alternative gibt. Aber natürlich ist es sehr im Interesse von Wladimir Putin, dieses verzerrte Bild der Realität zu schaffen, in dem die gesamte russische Bevölkerung wie ein Monolith ist, der im Krieg hinter ihm steht. Die Tatsache, dass es täglich zu Verhaftungen kommt, dass Prozesse laufen, dass so harte Strafen verhängt werden, dass gefoltert wird, dass die Strafpsychiatrie wieder Einzug gehalten hat, zeigt, dass es viele Menschen gibt, die protestieren und alles ablehnen, was geschieht. Ja, wir sehen keine Massenproteste in Russland. In totalitären Ländern gibt es keine Massenproteste, und wenn doch, dann enden sie mit Blutvergießen (…). Ich glaube, dass alles getan werden sollte, um das Regime zu schwächen, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes, indem man die russische Zivilgesellschaft unterstützt und die Kriegsanstrengungen der Ukraine unterstützt und ihren Sieg fördert - nicht nur die Aufrechterhaltung des Status quo, sondern ihren Sieg. (…). Indem wir die russische Zivilgesellschaft unterstützen, können wir Bedingungen schaffen, die das Regime schwächen, und wenn Risse entstehen, bin ich sicher, dass wir diese Menschen auf der Straße sehen werden."
Archiv: Meduza

London Review of Books (UK), 27.11.2023

Die Kämpfe in Myanmar dauern nach wie vor an, tatsächlich toben sie dieses Jahr heftiger denn je; dennoch, glaubt Francis Wade, ist es dem Widerstand gegen die Militärjunta, die Myanmar seit fünf Jahrzehnten regiert, gelungen, den Protest auf eine breitere Basis zu stellen als im Fall früherer Auseinandersetzungen. Nach einem Militärcoup, der auf einen Wahlsieg der National League for Democracy (NLD) und ihrer Verbündeten gefolgt war, formte sich schnell eine Protestbewegung, ein Streik legte zahlreiche Krankenhäuser und Betriebe lahm, auch Polizisten und Soldaten schlossen sich den Aufständischen an. "Im März 2021 bildeten 28 Organisationen - Parteien, bewaffnete ethnische Gruppen, Frauen- und Jungendorganisationen, Gewerkschaften - das National Unity Consulative Council. Im folgenden Monat kündigte es an, eine parallele Administration aufzubauen, das National Unity Government (NUG), das sich aus Abgeordneten der NLD und anderer Parteien sowie Repräsentanten ethnischer Minderheiten zusammensetzt. Das NUG fungiert als eine Kombination aus Aktionsgruppe und Schattenregierung, es treibt Steuern von unternehmen ein, etabliert eine basale öffentliche Infrastruktur in Gegenden, die nicht vom Militär kontrolliert werden und unternimmt Versuche, von ausländischen Mächten als legitime Regierung des Landes anerkannt zu werden. Die Zusammensetzung des NUG, dessen Minister zur Hälfte Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten sind, scheint widerzuspiegeln, was bei den Protesten geschehen ist. 'Wir wurden Zeuge einer Solidarität, wie sie nie zuvor in der Gesellschaft des Landes existiert hatte', schreibt [der Aktivist] Suragamika."

New Yorker (USA), 27.11.2023

Jennifer Gonnerman unterhält sich mit der Schwester eines Amokläufers, die weiterhin zu ihrem Bruder hält - obwohl er auch die eigenen Eltern umgebracht hat. Kip Kinkel hat zum Tatzeitpunkt unter einer Psychose gelitten, die nicht erkannt worden war. "Ich habe Kristin gefragt, ob es einen Moment gegeben hat, an dem sie Kip vergeben konnte für das, was er getan hat. 'Ich habe nie diesen Moment erreicht, in dem ich nur noch wütend auf ihn war und ihm hätte verzeihen müssen', sagte sie mir. 'Er konnte sein Verhalten nicht steuern.' Sie hat mir gegenüber geäußert, dass ihre Wut sich nicht gegen ihren Bruder richtet, sondern gegen die Tatsache, dass er nie die psychologische Hilfe bekommen hat, die er gebraucht hätte. Nach dem Tod ihrer Eltern ist Kip ihr einziger naher Verwandter und ihr Bedürfnis, an dieser Beziehung festzuhalten, scheint auch ihre Sicht auf das Geschehene beeinflusst zu haben. 'Wir hatten gerade unsere Eltern verloren', sagt sie und macht eine Pause. 'So hat es sich für mich immer angefühlt - es ist so, dass wir unsere Eltern verloren haben, und nicht, 'Er hat sie uns genommen.'' Eines Abends, als Kristin uns über die Autobahn fährt, blättere ich durch die Familienalben, die sie mitgebracht hat. Darin sind Fotos der Familie mit ihren Fahrrädern, mit Kip, der wie ein Football-Spieler der Seattle Seahawks angezogen ist, mit der Familie im Urlaub in Nordkalifornien, wie sie mit ihrem Volkswagen durch einen Mammutbaum fahren. 'Wir waren eigentlich eine ganz normale Familie', findet Kristin. Aber in der Art und Weise, wie sie in den Medien dargestellt werden, bemerkt sie ein Muster: 'Es gibt da dieses große Bedürfnis, uns in eine Schublade zu stecken und uns einen Stempel aufzudrücken, der sich von dem unterscheidet, den du deiner eigenen Familie gibst. Denn wenn wir ähnlich wären, hätte es genauso gut deine Familie sein können. Und ich glaube, dieser Gedanke sorgt bei anderen für großes Unbehagen.'"

Außerdem: Adam Kirsch rät, den Bruder von Isaac Bashevis Singer, Israel Joshua Singer, zu entdecken: "Das Werk von Israel Joshua Singer, das in den fünfzehn Jahren vor dem Holocaust geschrieben wurde, spiegelt eine Zeit wider, in der die jiddische Zivilisation lebendiger und moderner war als je zuvor. Es zeigt auch, dass Juden in Osteuropa bereits spüren konnten, wie ihre Zukunft verschwand, noch bevor der Holocaust überhaupt denkbar war." Rebecca Mead porträtiert Sandra Hüller.
Archiv: New Yorker

Desk Russie (Frankreich), 27.11.2023

Desk Russie publiziert einen Vortrag von Leonid Finberg, Direktor des Zentrums für jüdische Studien an der Mohyla-Akademie in Kiew. Die angebliche "Ent-Nazifizierung" der Ukraine war eines der wichtigsten Argumente der russischen Propaganda, um den Krieg in der Ukraine vor der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen, erinnert Finberg: "Im Herzen Faschisten und Rassisten, beschuldigen diese Ideologen ihre Gegner des Faschismus. Timothy Snyder hat dies als Schizofaschismus bezeichnet." Diese Taktik hat eine lange Tradition, weiß Finberg, schon während des Zweiten Weltkrieges verbreiteten die Sowjets das Narrativ, die Ukrainer trügen eine Hauptschuld an der Schoa: "Die sowjetische und die russische Version der Tragödie von Babi Yar sind Teil der Verfälschung der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Alle verschweigen die Zusammenarbeit zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion im Rahmen des Molotow-Ribbentrop-Pakts. Aus diesem Grund wurde die sowjetische Bevölkerung nicht über die jüdischen Tragödien in Deutschland oder in den von ihr besetzten Ländern informiert. Dies trug dazu bei, dass viele derjenigen, die beim Massaker von Babi Yar und anderswo in der Ukraine starben, auf die Ankunft einer zivilisierten deutschen Armee warteten, anstatt nach Osten zu fliehen. Darüber hinaus war Babi Yar nicht der erste Akt der physischen Vernichtung Tausender Juden während der Nazi-Invasion auf sowjetischem Gebiet. Doch die sowjetischen Behörden verschwiegen diese Tatsachen, und die Einwohner von Kiew und Charkiw wurden über die Massenvernichtungen in den von den Nazis besetzten Gebieten im Unklaren gelassen. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschuldigten die sowjetischen Medien die Ukrainer mehrerer Massaker, die in Babi Yar verübt wurden. Juden, Roma, psychisch Kranke, aber auch ukrainische Nationalisten waren von Nazi-Spezialeinheiten getötet worden. In vielen sowjetischen und russischen Publikationen wird jedoch behauptet, dass es sich um ethnische Ukrainer gehandelt habe. Es sei darauf hingewiesen, dass es in der besetzten Ukraine keinen Staat gab. Die Kollaborateure handelten auf individueller Basis. Sie rekrutierten sich aus allen ethnischen Gruppen, die die Ukraine bevölkerten, und aus sowjetischen Kriegsgefangenen."

Während der Gaza-Krieg die Aufmerksamkeit der westlichen Akteure auf sich zieht, etabliert sich in den Medien das Narrativ einer "kriegsmüden Ukraine", stellt Jean-Sylvestre Mongrenier kopfschüttelnd fest. Das ist erstens falsch, legt Mongrenier dar, indem er die militärische Situation genau analysiert: "Ungeachtet des russischen Triumphalismus, der leider in den westlichen Medien weitergegeben wird, wird der Kreml angesichts seiner Kriegsziele in die Schranken gewiesen." Zum Zweiten müsse sich der Westen endlich klar werden, was er zu verlieren hat, sollte Putin den Krieg gewinnen: "Es sollte selbstverständlich sein, dass das große westliche Bündnis eine globale Ausrichtung hat. Angesichts der 'Achse des Chaos' Russland-Iran-China muss der Westen seine diplomatisch-strategischen Bemühungen zusammenführen, und zwar auf globaler Ebene. Schließlich sei daran erinnert, dass eine umfassende und langfristige Strategie nicht ohne eine 'große Idee', ein geordnetes System von Werten, eine Weltanschauung, umgesetzt werden kann. Um es anders auszudrücken: Keine große Strategie ohne Metapolitik. Diese große Idee ist die des Westens. Der Westen ist viel mehr als ein Teil der Landmasse, eine globale Darstellung und ein geopolitisches Lager, er ist eine 'Region des Seins'. Er verweist auf Athen, Rom und Jerusalem: jene 'Zivilisation der Person', in der der Mensch als moralischer Akteur konzipiert wird, der über einen freien Willen verfügt und zwischen Gut und Böse entscheiden kann. Über alle historischen Wechselfälle und punktuellen Erschütterungen hinweg ist der Westen das Leuchtfeuer einer Welt, die in den Abgrund zu stürzen droht."
Archiv: Desk Russie

HVG (Ungarn), 28.11.2023

Die Literaturtherapeutin Judit Béres erläutert die Bedeutung des Lesens und der Handschrift bei der Entwicklung der Persönlichkeit sowie bei der Therapie: Das Schreiben auf Papier mit einem Stift unterstütze "auf eine wesentlich effektivere Art das Lernen, die Erinnerung und die Entwicklung. In der Literaturtherapie ist das Schreiben mit der Hand wichtig, weil es ein effektiverer Weg ist, sich mit unseren eigenen Gefühlen zu verbinden und sie zu einem psychologischen Ruhepunkt zu bringen. Aber weitere, auch ungarische Studien zeigen, dass die Literatur, die Arbeit mit Texten, das Einfühlungsvermögen für sich selbst und für andere erhöht und zur Entwicklung der Mentalisierung beiträgt, da wir durch literarische Werke die emotionalen Erfahrungen, die hinter dem Verhalten der Menschen stehen, besser verstehen können (...) Kurze Texte, Lesen und Schreiben sind allesamt Gelegenheiten, über uns selbst und unser Leben in einem anderen Licht zu denken. So wird immer wieder betont, dass 'literarische Kenntnisse keine Voraussetzung für die Teilnahme sind'. Aber diejenigen, die kommen, fangen oft an, Bücher über sich selbst und von sich selbst zu lesen, suchen vielleicht nach Werken zeitgenössischer Autoren, mit denen sie gearbeitet haben, oder entdecken das Handschreiben als eine tägliche Tätigkeit, die für das geistige Gleichgewicht notwendig ist."
Archiv: HVG

Elet es Irodalom (Ungarn), 28.11.2023

Vor zwei Wochen wurde an der Budapester Corvinus Universität ein Hochschullehrer fristlos entlassen, weil er in einem Prüfungsfall eine ethische Untersuchung forderte. In besagtem Fall wurde einem Kind eines regierungsnahen Geschäftsmannes eine unbeaufsichtigte Prüfung abgenommen, bei der der Kandidat die Prüfung bestand. Die Budapester Corvinus Universität war die erste Universität, die von der gegenwärtigen Regierung in eine Stiftungsuniversität umgewandelt und dessen Kuratorium mit Regierungsvertretern und regierungsnahen Oligarchen aufgefüllt wurde. Zwar gab es Proteste seitens einiger Studenten und Dozenten gegen die Entlassung, sowie gegen die Prüfungspraktiken, die aber ohne jegliche Konsequenzen verhallt sind. Der Rechtssoziologe Zoltán Fleck erklärt, wie es zu diesem Erodieren der Werte an Universitäten kam: "Nur der totale Rückzug aus allen Wertentscheidungen, Weltanschauungen und aus der Verantwortung führt zum Verderben der ursprünglichen und heute noch wesentlichen Aufgabe der Universität. Es sind nicht die Wertediskussionen in den Klassenzimmern, die heutzutage das Problem darstellen, sondern eine alltäglich spürbare gravierende intellektuelle Demotivation sowie die Gleichgültigkeit gegenüber Werten. Die Erziehung zu einem bewussten und verantwortungsvollen Staatsbürger, die Stärkung demokratischer Attitüde und die Verbindung mit der Welt zersplittern das sklerotische Skelett der heutigen Universität. Ein furchtloses, kritisches Verständnis von Werten, der Erwerb des für eine professionelle und verantwortungsbewusste Meinungsbildung erforderlichen Wissens und ein Bewusstsein für die Bedeutung dieser Prozesse für das Leben und das Wohlergehen menschlicher Gemeinschaften - das ist es, was Hochschullehrer (auch) fördern sollten. Dies kann sicherlich nicht an Orten geschehen, an denen Möglichkeiten für moralisches Verhalten eliminiert und durch Angst ersetzt werden."

Hakai (Kanada), 27.11.2023

Das Sicherheitsnetz des Versicherungswesens ist über Jahrhunderte gewachsen - und fragiler als man vielleicht denken würde. Der Klimawandel führt auch hier zu enormen Auswirkungen, insbesondere in den USA, die mit ihren zahlreichen Klimazonen deutlich schwerer davon betroffen sind als viele andere Nationen: Mit der Klimakrise häufen sich nicht nur Naturkatastrophen, sie nehmen auch in ihrer Vehemenz zu, schreibt Lois Parshley: "Das System ist gehörig in Unordnung geraten. Versicherte Schäden von Naturkatastrophen türmen sich nun üblicherweise zu 100 Milliarden im Jahr auf - im Gegensatz zu 4,6 Milliarden im Jahr 2000. Eine Folge: Der durchschnittliche Hausbesitzer hat seit 2015 21 Prozent höhere Aufschläge zu leisten. Es überrascht vielleicht nicht, dass jene Bundesstaaten wie Texas und Florida, in denen Katastrophen am wahrscheinlichsten sind, auch die höchsten Raten haben. Das bedeutet: Immer mehr Menschen verzichten auf einen Versicherungsschutz und werden damit verwundbar. Außerdem treibt dies die Preise zusätzlich nach oben, da die Zahl derjenigen sinkt, die mit ihren Einzahlungen das Risiko untereinander aufteilen. Dieser Teufelskreis lässt auch die Raten der Rückversicherer steigen. Weltweit ließen diese ihre Preise für Immobilienversicherer 2023 um 37 Prozent ansteigen. Dies begünstigt, dass sich Versicherungsfirmen aus riskanten Bundesstaaten wie Kalifornien oder Florida zurückziehen. ... Im schlimmsten Fall staut sich dies zu einem massiven Wirtschaftsproblem auf: Die Raten werden so hoch, dass Immobilienwerte abstürzen, Familieninvestitionen sich in Luft auflösen und die Banken sich mit dem zufriedengeben müssen, was übrig geblieben ist. Oder einfacher gesagt: Der globale Prozess, um Lebensrisiken zu handhaben, bricht zusammen und hinterlässt jene, die es sich am wenigsten leisten können, ohne Schutz."
Archiv: Hakai

New Statesman (UK), 27.11.2023

Brendan Simms und Charlie Laderman zeichnen die Geschichte des "längsten Hasses" nach - des Antisemitismus. Seine Wurzeln liegen in der Unterdrückung der Juden als einer religiösen Minderheit sowohl in der christlichen als auch in der muslimischen Welt der Vormoderne. Der moderne, verschwörungstheoretisch grundierte Antisemitismus, der im 19. Jahrhundert in Europa entstand, wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts auch zu einem zentralen ideologischen Bestandteil der islamistischen Bewegung. Besonders deutlich wird das in den Gründungsdokumenten der Hamas: "Als die Hamas in den 1980ern entstand, war die Verbindung von europäischem und islamistischem Antisemitismus voll etabliert. Die Gründungscharta zitierte die 'Protokolle der Weisen von Zion' als Beleg für jüdische Weltherrschaftspläne. 'Der weltweite Zionismus' strebt, so die Behauptung der Hamas, 'gemeinsam mit den imperialistischen Mächten' nach einer 'grenzenlosen' Expansion, vom Nil bis zum Euphrat und darüber hinaus. Wie sehr der europäische Verschwörungsantisemitismus die Weltsicht der Hamas prägt, wird in Artikel 22 der Charta ausgeführt. Die 'Feinde' - kurz: die Juden - werden beschuldigt, 'die Medien zu kontrollieren' und 'Revolutionen in verschiedenen Teilen der Welt' angezettelt zu haben, unter anderem in Frankreich und in Russland. Die Juden stecken angeblich hinter dem Ersten Weltkrieg und den Vereinten Nationen, und sie bedienen sich noch anderer Mittel, um 'die Welt zu regieren'. 'Mit ihrem Geld kontrollieren sie die imperialistischen Länder,' behauptet die Hamas, 'und sie stiften sie dazu an, andere Länder zu kolonisieren, um deren Resourcen auszubeuten und Korruption zu verbreiten.' All das hätte 50 Jahre zuvor auch von Hitler und anderen Antisemiten gesagt werden können."
Archiv: New Statesman