Literarischer Rettungsschirm für Europa

Tok-tok, wer wohnt im Teremok?

Von Michail Schischkin
26.09.2012. Im europäischen Haus ist kein Platz für den russischen Bären. Wo soll er hin, fragt sich Michail Schischkin. Er vergleicht Russland mit einem Metrozug, "der vom einen Ende des Tunnels zum anderen fährt - von der Diktaturordnung zur Anarchodemokratie und zurück. Das ist seine Strecke. Kein anderes Ziel erreicht man in diesem Zug."
Jeder Russe kennt seit Kindertagen das Märchen vom "Teremok", vom Häuschen im Wald. Es ist ein kleines, behagliches Häuschen, in dem die Tiere wohnen. Da kommt zum Beispiel der Frosch Quak, klopft an die Tür und spricht: "Tok-tok! Wer wohnt im Teremok? Lasst mich ein und bei euch wohnen!" Man lässt ihn ein und alle haben es drinnen gemütlich. Ebenso werden die Haselmaus und der Hahn Kikeriki eingelassen - für alle ist im Häuschen Platz. Dann kommt der Bär. Wie das Märchen endet, erzähle ich später.

Europa erinnert sehr an dieses Tierhäuschen. Es ist gemütlich und nett, alle möchten hinein. Es geht zwar eng zu, aber politisch korrekt. Man zankt sich gelegentlich mit den Nachbarn um die Schulden, aber was sich liebt, das neckt sich eben. Denn die europäischen Tiere wissen genau: Die Deutschen haben viel Geld, es reicht für alle. Kurzum, im Häuschen sind alle miteinander vertraut. Aber ist es auch der Bär? Man lebt schließlich im selben Wald … Doch dieser Bär hat eine rätselhafte Seele. Man weiß nicht, was er ausheckt. Und wie er riecht …

Mischka, den Bären, quälen sein Leben lang Zweifel: Ist er nun Europäer oder doch keiner? Der Wald ist natürlich derselbe, aber der Bär geht einen Sonderweg. Er ist irgendwie seltsam - kein Tier, eher Hamlet. Mal zermalmt und frisst er alle um sich herum, dann wieder fällt er in tiefen Schlaf und quält sich mit Reue und Grübelei. Und will mit aller Macht die Welt retten. Im Schlafen wie im Wachen dünkt ihn, seine Höhle sei das Dritte Rom, multipliziert mit der Dritten Internationalen. Er dichtet: "Alle wissen, dass die Erde am Kreml beginnt." Und leidet ohne Ende: Mal hat er Sodbrennen vom Größenwahn, mal Verdauungsstörungen vom Minderwertigkeitskomplex.

Nach den Tataren war Europa der Feind Nummer eins für Russland.

Peter der Große hatte keineswegs vor, das Reich im Hinterland des Kontinents zu "europäisieren". Er brauchte die westliche Militärtechnik, um mit ebendiesem Westen Krieg zu führen. Doch mit dem Zustrom der "Gastarbeiter" vom Rhein an Newa und Moskwa begann notgedrungen die Wertediffusion. Unter den Block des totalitären russischen Bewusstseins wurde eine Zeitbombe gelegt - das Primat der Werte des Privatlebens.

Das nichttotalitäre Bewusstsein findet seinen Ausdruck in der Literatur, die im 18. Jahrhundert zusammen mit der Idee der Menschenwürde aus dem Westen kommt. Das erste Jahrhundert der russischen Literatur ist im Grunde von Übersetzungen und Nachahmungen bestimmt. Um das individuelle Bewusstsein auszudrücken, fehlt das verbale Instrumentarium. Man muss es erst erzeugen. Die in die russische Sprache hineingeborenen Schriftsteller führen die fehlenden Begriffe ein: Gesellschaft, Verliebtheit, Menschlichkeit, Literatur.

In Russland entsteht individuelles Bewusstsein und die klügsten Köpfe blicken sich um, erschrecken und überlegen: Wer sind wir? Woher kommen wir? Warum sind wir Sklaven?

Pjotr Tschaadajew verblüffte die im Entstehen begriffene Gesellschaft mit einer einfachen Idee: Die Russen sind kein von Gott auserwähltes Volk. Russland ist nicht das Dritte Rom, sondern ein Missverständnis. Das Unglück des Vaterlandes bestehe darin, schrieb er in einem offenen Brief auf Französisch an eine Dame, dass wir nicht den römisch-katholischen, sondern den byzantinisch-orthodoxen Glauben angenommen und uns damit von Europa und seiner historischen Entwicklung abgeschnitten hätten. Die Zeitschrift musste ihr Erscheinen einstellen, der Herausgeber Nadeschdin wurde verbannt und Tschaadajew auf Befehl des Monarchen für verrückt erklärt. Doch die "Philosophischen Briefe" des Verrückten aus Moskau erschienen im damaligen Samisdat und wurden zur Grundlage für eine der beiden Hauptrichtungen des russischen Denkens - des "Westlertums". Der Kampf auf den ideologischen Barrikaden ist bis heute nicht zum Erliegen gekommen, die russische Hauptfrage ist immer noch nicht beantwortet: War die ganze russische Geschichte eine Sackgasse, müssen wir zu den europäischen Werten und in den Schoß der europäischen Zivilisation zurückkehren oder geht Russland einen Sonderweg?

In Russland ist seither eine einzigartige Situation entstanden. Zwei geistig und kulturell vollkommen verschiedene Nationen teilen sich dasselbe Territorium, obwohl die einen wie die anderen Russen sind und dieselbe Sprache sprechen. Der eine Teil des Volkes lebt hauptsächlich in der Provinz - er zählt viele Millionen armer, ungebildeter, trunksüchtiger Menschen, die mental im Mittelalter leben. Der andere, größere Teil konzentriert sich in den beiden russischen Metropolen - es sind gebildete, wohlhabende Menschen, die die ganze Welt bereist und europäische Vorstellungen von einer demokratischen Gesellschaftsstruktur haben. Für die einen kann nur Vater Zar mit eiserner Hand Ordnung in Russland herstellen. Für die anderen ist die ganze russische Geschichte ein blutiger Sumpf, aus dem das Land herausgeholt und zu einer liberalen europäischen Gesellschaftsordnung geführt werden muss. Wozu dieser Widerspruch im Jahr 1917 geführt hat, wissen wir. Bis heute haben wir die Folgen dieser verheerenden russischen Katastrophe nicht überwunden.

In Russland wird noch immer dasselbe Spiel für drei Spieler gespielt: Das Volk schweigt, die im Entstehen begriffene Gesellschaft fordert für sich eine "schweizerische" Volksherrschaft und erklärt der Regierung den Krieg und der Staatsmacht bleibt nur, abzudanken oder die Schrauben fester anzuziehen. 1917 dankte die Staatsmacht bis zur Selbstauflösung ab und das Land versank in einer derartigen Anarchie, dass es der bis dahin ungekannten Diktatur Stalins bedurfte, um wieder Ordnung herzustellen.

Im wohl russischsten Text der russischen Literatur, in den "Toten Seelen", vergleicht Gogol meine Heimat mit einer rasenden Troika, die die anderen Länder und Staaten überholt: "Wohin stürmst du, Russland? Gib Antwort! Du schweigst." Jedes Schulkind kennt diese Zeilen. Sie haben Generationen von russischen Lesern Hoffnung gemacht. Wohin stürmt denn die Troika - in die lichte Zukunft?
Seit Gogol sind anderthalb Jahrhunderte vergangen. Das Land hat historische und das Volk genetische Erfahrung gesammelt. Die epochalen sozialen Befreiungsexperimente haben zu noch grausamerer Diktatur geführt, unter jedem Regime wurde der begabteste und aktivste Teil der Bevölkerung entweder vernichtet oder in die Emigration gezwungen. Ach, im Besitz dieser bitteren Erfahrung würde der große Schriftsteller Russland heute mit einem Metrozug vergleichen, der vom einen Ende des Tunnels zum anderen fährt - von der Diktaturordnung zur Anarchodemokratie und zurück. Das ist seine Strecke. Kein anderes Ziel erreicht man in diesem Zug.

Meiner Generation war es vergönnt, in beiden Richtungen durch den russischen Tunnel zu rollen. Die Perestroika und die Schwäche der Staatsmacht haben das Land ins Chaos der neunziger Jahre gestürzt, dann fuhr der Zug in die Gegenrichtung und wir fanden uns im neuen Putin-Imperium wieder.

Vergleicht man die gegenwärtigen Ereignisse in Russland mit der Geschichte Europas, so stehen die Russen wieder einmal kurz vor einer bürgerlichen Revolution. Aber wird sie gelingen? Meine Eltern lebten in der kommunistischen Sklavenhalterordnung und setzten mich als sowjetischen Sklaven in die Welt. Der unverhoffte Tod der drei letzten Generalsekretäre der KPdSU führte Russland zur "Demokratie", die sich in das patriarchalische Feudalsystem Putins verwandelte: Die Macht ist von oben nach unten auf der persönlichen Ergebenheit des Vasallen (Gouverneurs, Bürgermeisters, Bezirkspräfekten usw. bis zum kleinen Bullen) seinem Souverän gegenüber aufgebaut. Dieses System ist sehr haltbar und ich fürchte, nicht nur eine russische Generation wird in ihm geboren werden und mit ihm leben müssen.

Was soll die "europäische" Minderheit in Russland tun? Versuchen, die Regierung zu bekämpfen? Auswandern? Und zu guter Letzt: Wenn man die demokratische Willensbekundung der Mehrheit als einzig richtige Entscheidung anerkennt, dann muss man sich damit abfinden, dass in Russland selbst in den freiesten Wahlen wiederum Putin siegen wird. Für die feudale Mentalität der Bevölkerungsmehrheit unseres riesigen Landes ist die Staatsmacht wie eh und je sakral, weil sie die Macht ist. Deshalb wird auch für die Macht gestimmt.

Alle Ereignisse der letzten Zeit belegen, dass in Russland die Schrauben wieder fester angezogen werden. Die Regierung hat nicht vor, auch nur einen Schritt zurückzuweichen. Allen, denen es nicht gefällt, in Putins System zu leben, wird unzweideutig nahegelegt, das Land zu verlassen - die Grenzen sind offen. Wir stehen auf der Schwelle zu einer neuen Großen Völkerwanderung. Sie hat schon eingesetzt. In den nächsten Jahren werden Hunderttausende von Menschen aus Russland nach Europa einströmen.

Kehren wir nun zum "Teremok" zurück. Alle Versuche des Bären, sich in das Tierhäuschen zu zwängen, müssen natürlich scheitern. Der Bär wird wütend und setzt sich auf das Häuschen. Damit ist es mit dem Häuschen und dem Märchen aus.

Auf das Häuschen Europa setzen sich aber mit aller Macht noch andere Bären - der afrikanische und der asiatische. Und kein Rettungsschirm wird das europäische Häuschen retten. Das Europa des 21. Jahrhunderts ist zu klein geworden, um im eigenen Saft zu schmoren und nur an sich selbst zu denken. Bevor es zu spät ist, müssen sich die "europäischen Tiere" aus ihrem engen europäischen Denken befreien, um die globalen Probleme zu lösen, die vor Europa und der ganzen Menschheit stehen. Unser Häuschen ist ja unsere ganze Erde.

Übersetzt aus dem Russischen von Annelore Nitschke


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Michail Schischkins Text erschien in der Reihe "Europe now: Ein literarischer Rettungsschirm für Europa", die das Internationale Literaturfestival Berlin organisiert hatte. Wir bringen in Kooperation mit dem Festival 19 Texte von 19 Autoren, jeden Tag einen.