Literarischer Rettungsschirm für Europa

Hilfe, ich bin ein Europäer

Von Adriaan van Dis
27.09.2012. "Mehrstaatlichkeit ist meine Identität. Ich glaube an Vermischung und Verfärbung." Deshalb und weil die Niederlande immer antieuropäischer werden, möchte Adriaan van Dis endlich einen europäischen Pass, eine europäische Krankenversicherung und europäische Steuern zahlen.
Wo kann ich offiziell Europäer werden? Gibt es eine Behörde, wo ich meinen niederländischen Pass eintauschen kann? Nicht, weil ich nicht mehr in meinem Land leben möchte. Ich liebe den niederländischen Himmel, seine Wolken und die Dünen. Ich schreibe auf Niederländisch. Aber ich will zu einer größeren Welt gehören. Und vor allem keine Angst vor ihr haben. Ich will raus aus meinem Käfig. Mangels Weltbürgerschaft entscheide ich mich für Europa. Als ersten Schritt. Die Münzen brennen schon in meinem Portemonnaie. Jetzt will ich auch einen echten europäischen Pass haben, eine europäische Krankenversicherung und europäische Steuern zahlen.

Die Niederlande galten lange als gastfreies und offenes Land. Ein Klischee, an das auch wir gern glauben wollten. Der große Historiker Johan Huizinga beschrieb unser Land als ein Haus, offen für die Anerkennung des "Werts des Fremden" ("Nederland's Geestesmerk", 1934). "Wir haben alle Fenster unseres Hauses offen stehen und lassen den See- und den Landwind frei hindurchblasen." Jahrhundertealte Handelskontakte, mit unseren Nachbarn und mit Übersee, haben uns mit dem Fremden vertraut gemacht. Die Niederlande existieren dank der freien Grenzen. Kontakt mit dem Fremden hat unser geistiges Leben bereichert und am wichtigsten: Wir haben damit viel Geld verdient.

Nationalismus war bis vor Kurzem nie salonfähig in meinem Land. Es zeugte von gutem Geschmack, ein bisschen spöttisch von seinem "kleinen, nassen Froschländchen" zu sprechen. Obwohl in der Verkleinerung sicher auch Stolz mitschwang. Nach einem langen Frieden konnten wir ohne patriotische Prahlerei zurechtkommen. Die Niederlande begrüßten Europa wegen des Profits. (Polen, die zusahen, wie ihr Land in Kriegen aufgeteilt wurde, und die ihre Freiheit und Unabhängigkeit einem politisch geeinten Europa verdanken, denken garantiert anders darüber.) Meine Familie konnte jahrhundertelang gehen und stehen, wo sie wollte. Ich stamme aus einem Geschlecht von Bauern und Soldaten der Kolonialtruppen - Knechtschaft haben wir nie gekannt. Sehr wohl aber Knechte.

Zu Hause habe ich den distanzierten Blick auf die Niederlande erlernt. Dazwischen liegt ein Krieg. Meine Mutter ist eine Bauerntochter aus Brabant, die mit 22 Jahren (1932) einen Offizier des Königlich Niederländischen Indischen Heers heiratete. Das Wort "Indonesier" war damals kaum bekannt; das Land war noch nicht unabhängig. Der erste Ehemann meiner Mutter wurde damals herablassend als "Eingeborener" bezeichnet. Meine Mutter hatte über die Farbgrenze hinweg geheiratet. Für eine Frau etwas ziemlich Einzigartiges. Auch in den Augen der Holländer in der Kolonie. Sie würdigten meine Mutter keines Blickes, weil sie sich mit ihrer Heirat gesellschaftlich außerhalb der europäischen Gemeinschaft gestellt hatte. Aber auch die einheimische Bevölkerung misstraute ihr. In ihren Augen gehörte meine Mutter zur Kolonialmacht - das heißt zu den Besatzern.

Der Zweite Weltkrieg traf auch die niederländische Kolonie am Äquator. Japan marschierte ein und alle Europäer wurden in Lagern interniert. (Außer den Deutschen, denn die gehörten zu einer befreundeten Macht.) Der Mann meiner Mutter gründete eine Widerstandsgruppe und entschied sich für Königin und Mutterland. Schwülstige Worte, die zu seinem Status gehörten: ein auserwählter, dunkler Sohn von den Banda-Inseln, der in den Niederlanden eine hohe militärische Ausbildung erhalten hatte. (Er war einer von noch nicht einmal zehn einheimischen Offizieren.) Die Japaner sperrten ihn ein und schlugen ihm den Kopf ab.

Nach dreieinhalb Jahren Internierung in einem japanischen Konzentrationslager auf Sumatra kehrte meine Mutter mit drei schönen braunen Töchtern in die Niederlande zurück. Eine frischgebackene Witwe, aber noch einmal schwanger von einem anderen Soldaten, der sie ein bisschen zu wirkungsvoll getröstet hatte. Ich wurde das Friedenskind. Mein Vater ging als Weißer durch, aber die koloniale Familie, aus der er stammte, hatte über die Jahrhunderte immer wieder mal sichtbar einen dunklen Anstrich abbekommen.

Meine Mutter musste fünf Jahre lang für die Anerkennung ihres ersten Mannes kämpfen. Er war ein Widerstandsheld, aber in den Niederlanden nach dem Zweiten Weltkrieg konnte man sich nicht vorstellen, dass ein "Eingeborener" sich auf die Seite der Niederlande geschlagen hatte. Die Indonesier hatten sich doch nach dem Krieg massenhaft gegen die niederländische Kolonialmacht gestellt und einseitig die Unabhängigkeit ausgerufen. Nein, Braun war die Farbe des Verrats.

Diese Kränkung und ihre in den Tropen gemachten Erfahrungen auf der anderen Seite der Farbgrenze brachten meine Mutter dazu, anders auf Holland zu schauen. (Leute aus den Kolonien sprachen nie von den Niederlanden, immer nur von Holland.) Es gab nur ein Volk, das im Krieg gelitten hatte, und das waren die Holländer. Und sie waren allesamt im Widerstand gewesen (obwohl mehr Niederländer freiwillig der SS beitraten als in irgendeinem anderen europäischen Land). Und jeder von ihnen hatte Juden gerettet (obwohl mit Unterstützung der niederländischen Polizei und der Niederländischen Staatsbahnen mehr Juden deportiert wurden als sonst wo in Westeuropa.) Ja, die Holländer! Wer wollte schon zu den Holländern gehören. Wir nicht! Mein Vater spie das Wort aus. (Holländer: wooden shoes, wooden heads, wooden manners. Ein geflügeltes Wort bei uns zu Hause.) Dieselben Holländer hatten ihm, als er nach dreieinhalb Jahren Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit völlig entkräftet den Militärdienst quittierte, noch die Rechnung für eine abhandengekommene Uniform geschickt. Er, der mit nichts als einem Lendenschurz aus dem Lager kam. Die Holländer!

Meine Schwestern emigrierten schon bald. Die Niederlande waren ihnen fremd. Mein Vater starrte jahrelang nervenkrank aus dem Fenster und verzehrte sich nach seiner Geburtstadt Surabaya. Er starb als gebrochener Mann, ich war zehn Jahre alt. Und ich blieb mit einer Mutter zurück, die bis zu ihrem hundertsten Geburtstag an den Holländern herumkrittelte. Die Holländer. Ich bin einer von ihnen. Durch und durch. Aber nicht von Herzen. Und jetzt will ich auf meine alten Tage Europäer werden.

Wann habe ich mich zum ersten Mal als Europäer gefühlt? Nicht auf Reisen in Europa, da war ich immer Niederländer. In Afrika? Nein, dort war ich weiß. In China? Dort gehörte ich zu den Westlern. Mein europäisches Bewusstsein begann sich zu entwickeln, als ich 1984 als fellow des Marshall Fund sechs Wochen mit einer Gruppe young upcoming European intellectuals durch die Vereinigten Staaten von Amerika reisen durfte. Zwei Franzosen, zwei Deutsche, eine Dänin und ich. Die Dänin war eine bekannte Fernsehjournalistin, beliebt in ihrem Land, schwanger und bewusst unverheiratet. Die Amerikaner, bei denen wir unterkamen - oft gastfreundliche Familien in der Provinz - konnten es gar nicht fassen: eine schwangere Person des öffentlichen Lebens. Ohne Ehemann! Akzeptierten ihre Zuschauer das denn? Ja. Aber in Amerika, versicherte man uns damals, wäre das garantiert unmöglich. Bei einem Arbeitsfrühstück mit den Lyons in Arkansas sprachen die anwesenden Damen sogar mit Empörung über diese Schande.

Die dänische Lebenseinstellung kam mir total normal vor. Die Deutschen dachten nicht anders darüber. Nur die Franzosen fanden es gewagt, aber akzeptabel. Das Unverständnis der Amerikaner riss die Grenzen zwischen Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und Dänemark nieder. In Arkansas fühlte ich mich zum ersten Mal als Europäer.

Zurück in den Niederlanden, flaute dieses Bewusstsein wieder ab. Ich machte eine Reise nach der anderen und suchte für meine Bücher eine Kulisse in Südafrika, Mosambik und New York. Ich wurde wieder weiß und in mehr oder weniger ausgeprägtem Maße zum Niederländer. Bis ich 2003 nach Paris umzog - nicht aus negativen Gründen. Es war ein alter Traum, ich wollte schon immer in einer echten Weltstadt leben und unsichtbar sein; für mich eine Voraussetzung, um schreiben zu können.

In Paris wurde ich mehr zum Niederländer, als ich es je gewesen war. Selbst zum Bataver. Die Pariser rieben es mir fast täglich unter die Nase, dass ich nicht dazugehörte. Der bürokratische Weg, den ein Ausländer, der sich in Paris niederlassen möchte, zurücklegen muss, ist steinig. Allein schon der Papierkram: Was ich alles für die Bank, die Miete, Gas und Licht, für Telefon und fürs Finanzamt ausfüllen musste. (Die Franzosen bezeichnen Bürokratie nicht umsonst als "milles feuilles", tausend Blätter.)

Europa mit all seinen Brüsseler Gesetzen bestand den Praxistest noch nicht. Banken berechneten unberechtigte Gebühren, wozu sie nach den Brüsseler Vorschriften kein Recht hatten. Meine niederländische Krankenversicherung zweifelte jede französische Arztrechnung an.

Während ich mich fast überschlug, Pariser zu werden, war Frankreich heftig damit beschäftigt, noch mehr Frankreich zu werden. Zwei Jahre nach meiner Ankunft fand ein entscheidendes Referendum zum europäischen Grundgesetz statt (2005). Frankreich stimmte en masse dagegen. Die Niederlande auch. Das schuf ein Band. Die beiden Länder hatten aber offenbar noch mehr Gemeinsamkeiten. Frankreich quoll der Mund von französischen Normen und Werten immer mehr über. Le Pen führte den Begriff français de souche ein - des sogenannten reinrassigen Franzosen. Frankreich verfärbte sich angeblich, Brüssel bedrohe die französische Autonomie. Politiker nutzten die Ängste und forderten eine nationale Debatte über die französische Identität. Nach der Wahl Sarkozys zum Präsidenten wurden in Dutzenden Verwaltungsgebäuden der Departements und Gemeinden Debatten über die Frage geführt: "Was heißt es heute, französisch zu sein?" Die Franzosen fühlten sich offenbar bedroht. Die Migration und die Globalisierung waren die großen Bösewichte, aber auch Google, Hollywood und McDonald's. (In Frankreich gibt es die meisten Macdo-Filialen von ganz Europa.) Sarkozy hatte gut zugehört und meldete die französische Küche als bedrohtes kulturelles Erbe bei der Unesco.

In den Niederlanden packte man es schlichter an: Jedes Problem wurde islamisiert. Verbrechen, Problemkieze, schlechter Unterricht - an allem war der Islam schuld. (Schon vorher hatte der 2002 ermordete Politiker Pim Fortuyn den Islam als "zurückgebliebene Religion" bezeichnet.) Die Linke habe zu lange zu viel schöngeredet. Die multikulturelle Gesellschaft sei eine Farce. Auch die Niederländer müssten besser wissen, wer sie eigentlich seien. Akademiker entwickelten einen literarischen und historischen Kanon. Bücher und Fakten, die man als Niederländer zu kennen habe. Städte schlossen sich an. Und die Bibel wurde in Twenter Dialekt übersetzt. Not lehrt beten.

Ich beobachtete das alles - aus der Distanz, von meiner Mansarde aus, fünfter Stock, über den Zinkdächern von Paris. Meine neue Stadt verweigerte den Kopftüchern den Zutritt zu öffentlichen Gebäuden. Die Burka wurde verboten und ich sah an Freitagnachmittagen Hunderte von Männern auf der Rue de la Poissonnière beten, weil der Bau von Moscheen bürokratisch verschleppt wurde.

Nach Fortuyn bekamen die Niederlande eine neue Partei mit einem einzigen Programmpunkt: dem Islam. Mit einem Schlag wurde sie zur zweitgrößten Partei des Landes. Nein, ich nenne den Namen des blond gefärbten Führers nicht.

Und dann kam die Finanzkrise. Banken gerieten ins Wanken. Offenbar hielten sich nicht alle Länder an die finanziellen Vorschriften. Die Portugiesen, die Italiener, Griechen, Spanier. Die PIGS. Die Knoblauchländer. Der Euro steht schwer unter Druck. Unsere Renten drohen sich in Luft aufzulösen! Brüssel fordert Geld und Solidarität von den nördlichen Ländern. Der niederländische Staat bürgt, aber die Bürger murren. Der große blonde Führer fand einen neuen Buhmann: Brüssel. Kein Cent mehr für die Knoblauchfresser! Wir wollen unseren Gulden wiederhaben! Macht die Grenzen zu! (Und der Islam kam auf die Reservebank.)

Nicht nur äußerst rechts, auch äußerst links fängt man jetzt mit einem Anti-Europa-Programm Stimmen. Laut Wahlprognose werden die zwei größten politischen Parteien in den Niederlanden antieuropäisch sein. Die Niederlande verrammeln ihre Fenster. Erst mal sind wir dran! Die Niederlande den Niederländern!

Ich habe auch einen Traum: den vom Ende des Nationalstaats. Der Nationalstaat, der gerade jetzt mit so viel Wehmut und Romantik besungen wird. (Der Historiker H. W. von der Dunk schrieb am 5. Juli 2012 darüber im "NRC Handelsblad".). Der Nationalstaat ist auch nur eine Konstruktion, oftmals von oben auferlegt, häufig nach blutigen Kämpfen und auf Kosten regionaler Identitäten und Dialekte wie Friesisch, Bretonisch, Katalanisch und Baskisch. (Es ist übrigens zu beobachten, dass in einem vereinten Europa das Interesse an diesen Sprachen wieder auflebt.) Nationalgefühl ist angelernt, wie intensiv es auch erfahren wird. Ist die Verherrlichung des Nationalstaats nicht ein Aufbäumen, ein letzter Widerstand gegen die Folgen von Migration und Globalisierung? Nationale Gefühle gehen durch das Ende des Nationalstaats nicht verloren, dafür wurden Fußballstadien gebaut und auch die Welt des Internets bietet dafür Raum. Dasselbe Internet, das unsere Grenzen verwischt.

Auch Kultur ist oft grenzüberschreitend. Literatur kann größer sein als eine einzige Sprache. Ibsen ist größer als Norwegen. Beethoven gehört uns allen. Europäer haben ein gemeinsames kulturelles Erbe. Mehrstaatlichkeit ist meine Identität. Ich glaube an Vermischung und Verfärbung. Und wer nicht daran glaubt, muss die Augen weiter aufmachen. Das multikulturelle Europa ist schon längst ein Fakt, ob es uns nun passt oder nicht. Auch die Migranten, die heute noch ein eingefrorenes Bild von ihrem Land im Kopf haben und ihre Satellitenschüsseln auf antike Anschauungen richten, werden nach drei, vier Generationen Europäer sein.

Migranten wissen, was Diskriminierung ist. Ihre Zuflucht muss größer sein als ein einziges Land. Ein Land ist zu verwundbar, ein einziger unberechenbarer Machthaber kann ein ganzes Volk zwingen, sich zu beugen. Sehen Sie nur, wie sich halb Holland verbeugt. Allein ein mehrstaatliches Europa kann Schutz bieten. Natürlich tut die Transformation weh. Und sie wird viel kosten. Aber es bleibt uns nichts anderes übrig. Vaarwel Nederland. Auf Wiedersehen Deutschland. Au revoir France. Hallo Europa.

Erst jetzt wird mir bewusst: Nicht Huizingas offene Niederlande haben aus mir einen Europäer gemacht, sondern die dumpfen, zagenden Niederlande. Ich sehne mich nach frischem Wind. Europa ist für mich zur Lebensnotwendigkeit geworden. Wann kann ich meinen Pass abholen?


Postskriptum

Was ist Europa? Früher, vor 1989, hatte man ein freies Westeuropa und ein unfreies Osteuropa, aber diese übersichtliche Zweiteilung ist zeitgleich mit der Mauer verschwunden. Ost und West haben sich neu erfunden, aber bilden wir heute die Vereinigten Staaten von Europa? Haben wir, genau genommen, genug Gemeinsamkeiten? Und wie groß soll das neue Europa werden? Noch größer als die jetzigen 27 (und in zwei Jahren 28) Staaten? Gehört die Türkei dazu? Für den Europarat und für die NATO ist das Pufferland offenbar gut genug, aber gehört sie auch zum aufgeklärten Westen? Komplexe Fragen. Je größer, desto stärker, scheint mir. Mein Europa ist eine Föderation eigenwilliger Länder, in denen kulturelle Traditionen gedeihen können, mit einem direkt gewählten Parlament und einer direkt gewählten Regierung. Einheit ist nicht dasselbe wie Uniformität.

Übersetzt aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas


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Adriaan van Dis' Text erschien in der Reihe "Europe now: Ein literarischer Rettungsschirm für Europa", die das Internationale Literaturfestival Berlin organisiert hatte. Wir bringen in Kooperation mit dem Festival 19 Texte von 19 Autoren, jeden Tag einen.