Literarischer Rettungsschirm für Europa

Kino Polonia

Von Ostap Slyvynsky
01.10.2012. Ostap Slyvynskys Vater baute sich während der Sowjetzeit in der Ukraine sein eigenes Europa: Es bestand aus Büchern in den Sprachen befreundeter sozialistischer Länder, vor allem aus Polen. Ausländische Prosa, schwarze Bände von Existenzialisten, oder ein Album mit Luftschiffen. Ein Europa aus Papier, in einem Dutzend Bücherregale.
Das erste Buch meines Lebens war das polnische "elementarz", die ABC-Fibel.

Ich weiß bis heute nicht genau, warum es so kam. Ich kann nur Vermutungen darüber anstellen.

Meine Eltern hatten keine besondere Affinität zu Polen. Ganz und gar nicht. Es gab keine Polen in der Familie, zumindest weiß niemand etwas davon. Deshalb ist dieser Auftritt der polnischen ABC-Fibel eher als ein Kunststückchen für Gäste einzuordnen. Wenn während eines Festessens der richtige Moment kam (die ersten Wodkagläser geleert, die ersten Salate verzehrt und die Gäste bereit für eine Show), gab mir der Vater ein Buch in die Hand, ich kletterte auf einen Hocker (na gut, einen Hocker gab es nicht, das ist ein Klischee aus dem kollektiven Bewusstsein) und ich las, stotternd, die Silben dehnend und purpurrot im Gesicht, vor:

Na tym placu jest kino.
Ala i mama id? do kina.
Nad kinem jest napis.
KINO POLONIA.

Ich las bis zu diesen Worten, die ich nicht verstand, dann lief ich unter dem zustimmenden Schnalzen und dem Applaus der Gäste aus dem Zimmer. Der Nimbus eines Wunderkindes leuchtete über meinem Kopf auf wie eine Girlande am Weihnachtsbaum. Ich glaube, kein einziger Gast wäre auf den Gedanken gekommen, dass dieser Kleine noch nicht mal die Kyrilliza, das kyrillische Alphabet, beherrscht. Mein Vater strahlte.

Er schaffte es, alle auszutricksen. Außer meiner Mutter, versteht sich, die Bescheid wusste, aber solidarisch schwieg.

Alle, das heißt nicht nur die beschwipsten Gäste. Das wäre kein Grund zum Strahlen. Alle heißt alle.


*


Ich denke, dass man in der Sowjetunion des Jahres 1983 glaubte, dass all das noch über Generationen hinweg so weitergehen würde. Ich kann mir diesen Zustand von Halb-Leben im Wasser eines abgestandenen Tümpels schwer vorstellen: Eine Apathie, aus der man nur gelegentlich durch einen Funken Freude - einen Funken, den man dank besonderer Fertigkeiten schlagen kann - zeitweilig herausgerissen wird.

Eine neue Jeanshose, ein Ferienscheck nach Bulgarien konnten einem ein solches Fest bereiten. Auch wenn mein Vater diese Freude bei seinen Familienmitgliedern schweigend und skeptisch zur Kenntnis nahm: Der Kult des Materiellen, der unter den Bedingungen des totalen Defizits üppig aufblühte, bereitete ihm großes moralische Leid. Sein Interesse galt ausschließlich Büchern.

Kürzlich hat jemand gesagt, dass die Sowjetunion unsinnigerweise das Image des Landes habe, in dem am meisten gelesen wurde. Nicht, weil man nicht gelesen hätte, sondern, weil das Gelesene im Nirgendwo versickerte, wie Wasser im trockenen Sand. Man las, weil man nichts zu tun hatte. Man wollte doch nicht Stunden um Stunden untätig in stumpfsinnigen staatlichen Büros hocken. Also hat man gelesen. Und wenn du liest, um die Zeit totzuschlagen, dann ist es eigentlich egal, was du liest, ob Gorki oder Conan Doyle. Dabei spielte auch das standardisierte Design sowjetischer Möbel eine nicht zu unterschätzende Rolle. Es waren normalerweise zwei Regale vorgesehen, eins für Kristallglas und eins für Bücher. Viele solcher Schränke sind heute mit Büchern aus den siebziger und achtziger Jahren vollgestellt, in denen niemals geblättert wurde. Ich habe es gesehen.

Es gab, natürlich, auch eine Antithese: Die Kaste der Jünger von Márquez, Borges, Hesse, Yi Jing, die unter der Hand völlig zerlesene Bücher weiterreichten und nachts Texte von jungen rebellischen Poeten und ermordeten Klassikern auf ihren Schreibmaschinen abtippten. Einer von ihnen wurde nach dem Zerfall der Sowjetunion Verkäufer auf dem Büchermarkt, einer ein öffentlicher Intellektueller, ein dritter sitzt im Parlament. In der Sowjetzeit erkannten sie einander an einem kaum sichtbaren nervösen Leuchten über dem Scheitel. Es galt die Regel, nicht anzuhalten und sich nicht zu grüßen, solange man sich ohne Deckung auf freiem Feld bewegte.

Mein Vater gehörte in dieser Zeit weder zu den einen noch zu den anderen. Er hat nicht Gorki gelesen, gehörte aber auch nicht zum Kreis von Lesern, die Bücher weitergaben. Er hatte sein eigenes Projekt. Er baute Europa. Aus Büchern.

Das war weder einfach noch schwierig. Es verlangte Ausdauer und Regelmäßigkeit. Beinahe wöchentlich ging mein Vater in die Buchhandlung "Druschba" neben dem Brunnen am Mickiewiczplatz. Dort wurden Bücher in den Sprachen befreundeter sozialistischer Länder verkauft. Er brachte jedes Mal etwas Neues mit und bereitete sich innerlich auf den Küchenkampf mit Familienangehörigen vor, die letzte Bereiche ihres Territoriums vor dem Angriff der Bücher verteidigten. Manchmal waren es ganze Buchreihen, wie zum Beispiel kleine Bände ausländischer Prosa in markanten einfarbigen Umschlägen mit der Nike von Samothrake auf dem Cover. Oder schwarze Bände von Existentialisten, die mit Imitationen einer Druckerschrift geschmückt waren. Ab und zu brachte mein Vater ein besonderes Geschenk für mich mit: einen Bildatlas des menschlichen Körpers unter dem Titel "Merkwürdige Maschine" oder ein Album mit Luftschiffen, angeführt von der "Hindenburg".

All das gab es in polnischen Übersetzungen. Das Beste gab es damals in polnischen Übersetzungen.

Sogar den Tschechen Hrabal gab es nur auf Polnisch. Polen verdarb die Reinheit des kommunistischen Experiments in Osteuropa, blieb aber trotzdem "befreundet". Deshalb durften polnische Bücher in sowjetischen Buchhandlungen nicht fehlen, auch wenn sie nur in "spezialisierten" Geschäften geführt wurden.

Ich war sicher ein Teil des Projektes meines Vaters.

Mehr sogar, mir scheint, er realisierte es für mich. Er hat selbst nicht viel davon gelesen, weil er zu der seltenen Sorte der Menschen in der Sowjetunion gehörte, denen Zeit zum Lesen fehlte. Bücher kaufen, das Kind vom Kindergarten abholen, ihm Polnisch beibringen: Darin bestand sein stilles Dissidententum.

Allerdings, als die Sowjetunion zusammenbrach, hat mein Vater nie die Möglichkeit wahrgenommen, über die westliche Grenze der Ukraine hinauszukommen. Auch nicht nach Polen, obwohl er die Sprache perfekt beherrschte. In den neunziger Jahren konnte man als ehemaliger Sowjetbürger einfach mit einem Reisepass nach Polen fahren, wenn man Lust dazu hatte. Er hat nie einen Reisepass besessen, bis heute nicht.

Sein Europa war aus Papier. In einem Dutzend Bücherregale. Er hat es selber aufgebaut, so wie er es wollte.


*


Das heutige ukrainische "Europa" besteht aus Papier und Pappe, es ist zusammengebastelt aus den Buchstaben offizieller Erklärungen zur "Europäischen Wahl", die jahrelang nach demselben Muster geschrieben wurden. Es besteht aus den Bannern der Wahlplakate, aus Transparenten und Secondhandkleidung. Meinem Vater ist das gut gelungen. Er hat das Baumaterial sorgfältig ausgewählt.

Der polnische Dichter Adam Zagajewski schrieb 1984: "So existiert Europa in uns - als Europa der Vorstellungen, Illusionen, Hoffnungen, Wünsche ..." Diese Worte treffen auf die heutigen Ukrainer noch mehr zu als auf die Polen vor zwanzig Jahren. Ich würde nur auf das Wort "Illusionen" einen Akzent setzen.

Es ist erstaunlich, aber weder die Strapazen illegaler Arbeitsmigranten noch hinter der westlichen Grenze verschollene Verwandte, weder die Willkür europäischer Grenzer, Zöllner und anderer Funktionäre noch die bescheidenen Verdienste im Ausland oder all die geplatzten Träume sind imstande, bei den Ukrainern den Mythos "Europa" aufzulösen. Es ist eine Frage des Glaubens und man sollte sie in religiösen Kategorien betrachten. Nichts kann das rettende Licht des gelobten Landes verdüstern: Geodizee, "Rechtfertigung der Geografie". Die vorhandenen Grenzen und der fehlende Alltagskomfort sollen die Ungläubigen nur auf die Probe stellen. Die Verheißung Europa erfüllt sich allein für diejenigen, die bis zum Ende durchhalten. So ist ein Glaube, der durch jede Verleugnung nur bestätigt wird. Es sei denn, die Ukraine wird einst selbst Europa.

Es ist nicht so, dass es in der Ukraine keine Gegenströmung zu dieser Religion gäbe. Es gibt, natürlich, auch den Glauben der "Antipoden". Für sie ist Europa die Quelle alles sichtbaren und unsichtbaren Bösen. Und alles funktioniert genauso, nur umgekehrt: Jede europäische Wohltat wird als Tücke und als Versuch wahrgenommen, uns noch tiefer zu verstricken.

Der postsowjetische Mensch ist ein tief mythisches, utopisches Wesen. Das Fundament einer totalitären Propaganda bildet die felsenfeste Überzeugung, dass das Unsichtbare real existiert. Ukrainer gewöhnten sich im Lauf der Jahrzehnte daran, das zu sehen, was es nicht gibt: insbesondere ein Europa, von dessen Existenz niemand außer ihnen etwas ahnt. Ein Europa, in dem sehnliche Wünsche in Erfüllung gehen. Oder ein Europa der bösen Absichten.

Die Überzeugung, dass das Unsichtbare existiert, will missbraucht werden. Denn die unsichtbare Realität ist ein Bild, zu dem jeder hinzufügen kann, was er will, sie ist eine Art Idol aus Knete. "Der samtene Vorhang" an der Ostgrenze der EU wird immer dichter, man sieht kaum noch etwas. Die Ukraine rückte keinen einzigen Meter nach Osten, was viele bedauern, sie ist nach wie vor gleich hinter der Mauer, auf der anderen Seite. Ich male mir ein Bild aus, wie eine primitive Zeitungskarikatur: Eine Menschenmenge auf der Außenseite lauscht den Geräuschen hinter der Mauer, versucht etwas zu verstehen, es kommt zum Streit. Und wie so oft taucht in diesem Moment derjenige auf, der alles erklären kann, ein Typ im Anzug und mit Krawatte. Mit offiziellem Gesichtsausdruck greift er nach dem Megafon und interpretiert die undeutlichen Stimmen hinter der Mauer.

Ja, das ukrainische Europa ist ein gefälschter Geldschein, mit dem der Staat jedes Mal versucht, mit seinem Volk abzurechnen. Dem echten Europa würde er ihn auch gerne andrehen, doch dort wird dieser Schein vorsichtshalber nicht angenommen.


*


Um gerecht zu bleiben: Die neue Trennlinie Europas ist keine Linie, auf der der östliche Mythos über die europäische Realität die Oberhand gewinnt. Es ist eine Konfliktlinie zwischen verschiedenen Mythen. Dort findet der Zusammenstoß kalter und warmer Luftmassen statt, prallen Illusionen aufeinander, begegnen sich zwei fundamental unterschiedliche Stereotypien.

Ich habe einen Bekannten, der Literatur und Sendungen über Kriege, Konflikte und andere Katastrophen liebt. Er ist beinahe besessen davon. Sie können sagen, das ist ja nichts Besonderes, sondern eine klassische Form des Schlechte-Welt-Syndroms. Dennoch gibt es nicht so oft die Möglichkeit, so etwas aus der Nähe zu betrachten. Dieser Bekannte hat mir gestanden: Je näher die Katastrophe an ihn heranrückt, desto mehr interessiert sie ihn. Der Krieg in Bosnien interessiert ihn mehr als der Krieg in Palästina und dieser mehr als Konflikte in Papua-Neuguinea. "Weißt du, ich glaube, es geht hier nicht um geografische, sondern um kulturelle Nähe", versuchte ich mir die Maske eines Amateur-Psychoanalytikers aufzusetzen, "es interessiert dich, weil es an deine Welt erinnert und dir selbst so etwas theoretisch auch passieren kann." - "Danke, dass du für mich Amerika entdeckt hast", lachte der Bekannte. Nein, als Psychoanalytiker würde ich es nicht weit bringen.

Aber es scheint mir heute tatsächlich so zu sein, dass Europa am "Mean World Syndrom" leidet: Je mehr seine stabile Existenz infrage gestellt ist, desto düsterer werden äußere Katastrophen dargestellt, die eigentlich gar nicht bedrohlich sind. Es ist wie mit einem Gewitter, das draußen tobt und die häusliche Gemütlichkeit noch behaglicher erscheinen lässt. Das Beispiel Irak oder Afghanistan ist kein rechter Trost, weil dort alles anders ist. Dafür sind die Ukraine oder Albanien viel geeigneter. Diese Welt ist "vertraut anders": ein Nachbar, der ständig hinter der Wand Lärm macht, ständig seine Möbel umstellt. Man ist gezwungen, ihm im Treppenhaus zu begegnen und seinen höflichen Gruß zu erwidern. Der berüchtigte BBC-Film "Stadien des Hasses" über Rassismus und Xenophobie in Osteuropa, in welchem der Ex-Spieler der englischen Nationalmannschaft Sol Campbell an westliche Fans appelliert, nicht in die Ukraine zu fahren, weil man in einem Sarg zurückkehren könnte, oder Artikel des deutschen Journalisten Matthias Marburg in der "Bild am Sonntag", in denen die Ukraine "Land der Prostituierten" genannt wird, sind nur zwei Beispiele für die Dämonisierung des barbarischen Nachbarn.

Diese Produktionen sind keine Lügen. Die BBC-Doku wurde nicht willkürlich geschnitten oder inszeniert, all das ist tatsächlich passiert. Der Artikel von Marburg ist aufgrund eines Gesprächs mit einer ukrainischen Prostituierten entstanden, die berichtete, wie andere Frauen den Profis die Arbeit während der EM wegnehmen.

Es gab keine Lüge, es gab nur eine negative Auswahl von Fakten. Damit das Bild eintönig dunkel wird, ohne helle Streifen.

Damit es furchterregend wird. Damit man sich hier nicht mehr fürchtet.


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Die meisten Ukrainer wissen davon aber leider nichts. Davon, dass die Ukraine zu "diesem europäischen Es geworden ist, sie ist die Angst, die nachts das schlafende Paris, London und Frankfurt am Main heimsucht" (1).

Sie wissen nicht, was tatsächlich hinter der Mauer passiert.

Weil die meisten nicht mehr verreisen. Aber es findet sich immer jemand, der ihnen sagt, wie sie Europa zu lieben oder nicht zu lieben haben.

Deshalb hat mein Vater wohl nicht die schlechteste von den schlechten Varianten gewählt. Er schaut sich seinen Film über Europa an, sein altertümliches "Kino Polonia". Und niemand kann sich einmischen.

Übersetzt aus dem Ukrainischen von Sofia Onufriv


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(1) Andrzej Stasiuk: Unterwegs nach Babadag. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 114 [Das Originalzitat bezieht sich auf Albanien; Anm. d. Ü.]


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Ostap Slyvynskys Text erschien in der Reihe "Europe now: Ein literarischer Rettungsschirm für Europa", die das Internationale Literaturfestival Berlin organisiert hatte. Wir bringen in Kooperation mit dem Festival 19 Texte von 19 Autoren, jeden Tag einen.