Efeu - Die Kulturrundschau

Rache ist rosa

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08.07.2023. Wer Angst vor Wolfgang Koeppens "Tauben im Gras" hat, kann in Baden-Württemberger Schulen jetzt statt dessen Anna Seghers' "Transit" lesen: Das nennt man Streit-Vermeidungskultur, kritisieren SZ und FR. Die Berliner Zeitung lässt sich von den verschlingenden Liebhabern der spanischen Künstlerin Eva Fàbregas überwältigen. Die NZZ sucht das Paradies auf dem Lucerne Festival. Die SZ annonciert einen epischen Blockbuster-Battle ab 20. Juli zwischen Greta Gerwigs "Barbie" und Christopher Nolans "Oppenheimer".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.07.2023 finden Sie hier

Kunst

Fassade der Galería de las Colecciones Reales. Foto: Webseite des Patrimonio nacional.


Karin Janker ist für die SZ nach Madrid gereist, wo ein neues Museum eröffnet hat, die Galería de las Colecciones Reales. Obwohl - eigentlich ist der Bau von von Emilio Tuñón und Luis Moreno Mansilla, der zum Ärger einiger Madrilenen von einer Seite den Blick auf die Almudena-Kathedrale verstellt, "kein Museum, es ist eine Kathedrale für Kunst und Kunsthandwerk aus zwölf Jahrhunderten. Galería und nicht Museo heißt sie, weil die Räume Schaufenster sein sollen für die Schätze des Patrimonio Nacional, erklärt Direktorin Leticia Ruiz, die vorher Kuratorin im Prado war. Das Patrimonio Nacional ist so etwas wie die spanische Schlösserverwaltung, die Galería hat also keine eigene Sammlung, wohl aber Zugang zu Tausenden spannenden Objekten, die hier rotierend ausgestellt werden, von der Kutsche über Gemälde bis zu frühen Fotografien. Die Rampen, die das Treppenhaus ersetzen, saugen einen hinunter in diesen Bau, der vollständig aus drei Materialien zu bestehen scheint: Eichenholz, Granit und Beton. Die acht Meter hohen Decken, die Fluchten, die vielen Fenster, die geschickt das grüne Licht der Bäume von draußen nach drinnen holen - wer hier nicht demütig wird, hat kein Herz für Architektur."

Eva Fàbregas, Devourin Lovers. Ausstellungsansicht. Staatliche Museen zu Berlin, Hamburger Bahnhof - Nationalgalerie der Gegenwart | Foto: Jacopo La Forgia


Fasziniert betrachtet Ingeborg Ruthe (BlZ) die "Devouring Lovers" (verschlingenden Liebhaber) der spanischen Künstlerin Eva Fàbregas, die sich am Boden des Berliner Hamburger Bahnhofs winden: "Fàbregas lagert ihre überdeutlich erotischen Gebilde in hautfarbenem Rosa, Lila, Magenta, Senfgelb, Beige und Orange als sich im unablässigen Liebesakt verschlingende Quellberge auf dem Steinboden der Halle. Sie lässt sie kriechen und sich anschmiegen an die eisernen Säulen und Deckenstreben. Die textilen Hüllen schwellen an wie zu milchprallen Brüsten, Eutern, Blasen, Ballons, zu Hodensäcken und erigierten Penisformen. Alles gleicht auch exotischen Pflanzenauswüchsen, unter der Blüten- oder Fruchthaut riesige Kugeln wie Erbsen, Bohnen, die gleich herauszuplatzen scheinen. ... Alles durchschlingt sich, scheint sich zu streicheln, zu berühren, zu begehren und zu befruchten. Oder aufzufressen und zu verdauen."

Weitere Artikel: Noemi Smolik berichtet im Tagesspiegel von einer sehr versöhnlichen Kunst-Biennale im koreanischen Gwangju. Der Direktor des Frankfurter Städel Museums, Philipp Demandt, erzählt im Interview mit der FAZ, wie er es geschafft hat, den Darmstädter Altar Hans Holbeins von Reinhold Würth für eine Ausstellung im Herbst auszuleihen. Ebenfalls in der FAZ schreibt Eberhard Rathgeb am Beispiel von van Gogh, Matisse und Michelangelo über das mühevolle Üben eines Malers.

Besprochen werden eine Ausstellung der Fotos von Beatle Paul McCartney in der National Portrait Gallery in London (Tsp) und die Ausstellung "Unstable Planetary Spaces" in der Kunsthalle Gießen (FR).
Archiv: Kunst

Literatur

Ab 2025 können Lehrkräfte in Baden-Württemberg entscheiden, ob sie statt Wolfgang Koeppens "Tauben im Gras" lieber Anna Seghers' "Transit" als Schullektüre aufgreifen - so lautet das Fazit aus der Kontroverse, die vor einigen Monaten um Koeppens Roman entbrannt ist, weil eine Ulmer Lehrerin sich über den häufigen Gebrauch des N-Wortes im Text beschwert hatte. "Transit" ist fraglos ein "Klassiker der deutschen Exilliteratur", schreibt Harry Nutt in der FR und ist sich dennoch unsicher, ob dieser "Vorschlag zur Güte auch einen Sieg der Liebe zur Literatur" darstellt. "Während Seghers sich für eine klassische Erzählhaltung entschieden hat, wählte Koeppen eine ambitioniert-modernistische Form, mit der er sich an der Literatur des Bewusstseinsstroms orientierte. ... Bei aller Verstörung, die der Ulmer Fall hinsichtlich des Verständnisses von Literaturvermittlung ausgelöst hat, kann eine genauere Betrachtung der Arbeiten Koeppens Aufschluss geben über das Verhältnis von Weltwahrnehmung und Sprache in der deutschen Nachkriegsliteratur. Es wäre engstirnig und falsch, ein Gespräch über die Bezeichnung physischer Merkmale in der Literatur auf individuelle Reaktionen und kulturpolitische Befriedungsmanöver zu beschränken."

Ähnlich sieht es Hilmar Klute in der SZ: An Seghers ist nichts per auszusetzen, formal und literarisch liege sie aber weit hinter Koeppen. Dieses Ersatzangebot ist "die Frucht einer Vermeidungskultur", glaubt er. Allzu genau habe das Kulturministerium aber auch nicht hingeschaut: Entgangen sei den zuständigen Beamten, "wie der Ich-Erzähler in 'Transit' im korsischen Viertel von Marseille den bronzenen Türklopfer auf die große geschnitzte Tür fallen ließ, um dann die Beobachtung zu machen: 'Ein Neger rief, was ich wolle. Ich fragte nach den Binnets.' Man sieht schon, wie schwer sich Literatur wirklich porentief sauber halten lässt, wenn sie aus Zeiten stammt, in denen Sensitivity Reading nur bedeuten konnte, dass man ein Buch mit allen Sinnen liest."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Astrid Kaminski spricht in "Bilder und Zeiten" der FAZ mit dem niederländischen Schriftsteller Tijs Goldschmidt über Klimawandel und Nature Writing. Thomas Ribi erinnert in der NZZ an die Sommermonate, die die Familie Thomas Mann in der Dünenlandschaft im litauischen Nidden verbracht hat, bevor die Nazis in Deutschland die Macht übernahmen. Michael Hesse spricht für die FR mit der Bestseller-Autorin Caroline Wahl. In der Sommer-Bücherreihe der FAZ legt uns Ulf von Rauchhaupt Agatha Christies "Rächende Geister" ans Herz - ihr einziger Krimi, der nicht im 20. Jahrhundert spielt, sondern im alten Ägypten.

Besprochen werden unter anderem Tommi Parrishs Comic "menschen vertrauen" (taz), Lukas Bärfuss' "Die Krume Brot" (FR), Karl Alfred Loesers "Requiem" (taz), Ben Gijseman Comic "Aaron" (Tsp), Yasmin Angoes Thriller "Echo der Gewalt" (online nachgereicht von der FAZ), Tess Guntys "Der Kaninchenstall" (SZ) und Ivna Žics "Wahrscheinliche Herkünfte" (FAZ).
Archiv: Literatur

Design

Trinkservice No. 238 Patrician. Entwurf: Josef Hoffmann, 1917. Ausführung: J. & L. Lobmeyr. © J. & L. Lobmeyr


Auf der Kärntner Straße in Wien gibt es einen wunderschönen altmodischen Laden für Glas: Lobmeyer. 200 Jahre ist das Traditionsunternehmen geworden, das Wiener MAK hat ihm aus diesem Anlass eine Ausstellung spendiert. Präsentiert wird "ein einzigartiges Kapitel österreichischen Kunsthandwerks", schwärmt in der NZZ Sabine B. Vogel. "Das beginnt bereits mit den ersten hauchdünnen Gläsern aus Musselin-Glas - benannt nach dem feinfädigen Gewebe. Mit diesen fragilen Gefäßen, auf eine Stärke von maximal 1,1 Millimeter geblasen, setzte Ludwig Lobmeyr 1856 einen eleganten Gegenentwurf zu den schweren böhmischen Weingläsern. Immer wieder suchte er die Zusammenarbeit mit Künstlern und Erfindern. 1882 entwickelte er zusammen mit Thomas Edison einen der ersten elektrifizierten Luster für die Wiener Hofburg. Sein Neffe Stefan Rath führte das Unternehmen schließlich in die Moderne: Die tulpenförmigen Weingläser von Josef Hoffmann aus dem Jahr 1917 oder das von Adolf Loos 1931 entworfene Bar-Service No. 248 mit Diamantschliff gehören bis heute zu den erfolgreichsten Serien. Die Preise pro Glas bewegen sich weit über 100 Euro." Von Lobmeyer sind übrigens auch die Lüster im Met Museum in New York.

Außerdem: Martina Meister besucht für die Welt die Kunsthandwerker von Notre Dame.
Archiv: Design

Musik

Dass sich im Kriegsgebiet zwischen Russland und der Ukraine Söldnergruppen bewegen, die sich nach Richard Wagner und Mozart benannt haben, nimmt der Pianist Jeremy Denk in der SZ zum Anlass, über das Verhältnis der Musik zum Militärischen nachzudenken, das schon aus historischen Gründen von der Marschmusik bis zur Signalgebung im Kriegsgeschehen ein enges ist. Dass Militärmusik bis heute mitreißt, will er nicht in Abrede stellen, oft ist diese aber nur noch in der Traditionspflege zu hören. "Was wäre aber die gegenwärtig relevante Militärmusik, habe ich mich dann gefragt. ... Natürlich: Die Militärmusik, die wir kennen und aufsaugen, Stunde für Stunde, Tag für Tag, läuft in Kinos und im Streaming. Es ist die aufwühlende Filmmusik, die geschmeidig mitläuft, während Menschen sich auf den Bildschirmen vor uns gegenseitig in Stücke sprengen, was das Töten nicht nur glamourös, sondern geradezu musikalisch erscheinen lässt. Aber über diese verführerische, allgegenwärtige, profitable Musikpropaganda hat unsere Gegenwart - sonst so schnell dabei, selbst Leute aus der Vergangenheit für jede vorstellbare moralische Verfehlung zu verurteilen - nur sehr wenig zu sagen."

Die NZZ liefert eine Beilage zum Lucerne Festival, das in diesem Jahr unter dem Motto "Paradies" steht, wie Christian Wildhagen im Editorial verkündet. Dass es dabei nicht allein um die Beschwörung bukolischer Idylle geht, erklärt Festivalleiter Michael Haefliger im beistehenden Gespräch: Das Paradies werde ja oft erst im Rückblick als solches erkannt - und stehe also fürs Bewusstwerden einer Verlusterfahrung, für "ein Versagen des Menschen, weil er es nicht geschafft hat, sich dort lange aufzuhalten". Es zeigt sich, "dass der Mensch nicht gut genug ist. Deshalb muss er sich unablässig bemühen, dort wieder hinzukommen. Gleichzeitig stellt er immer wieder fest, wie viele Probleme dem in der jeweiligen Situation entgegenstehen. ... Die Kunst kann uns den Unterschied zwischen Ist- und Soll-Zustand sehr anschaulich vor Augen führen. Das zieht im Idealfall Diskussionen nach sich, in denen wir uns auf unsere Werte besinnen. Kunst kann die Welt immer nur für Augenblicke besser machen, sie aber nicht unmittelbar verändern."

Außerdem porträtiert Wolfgang Stähr Daniil Trifonov, der beim Lucerne Festival als "artiste étoile" teilnimmt. Marcus Stäbler wirft einen Blick auf den Nachwuchs am Pult - Klaus Mäkelä, Lahav Shani und Mirga Gražinytė-Tyla sind unter 40 und jetzt schon Maestros. Gustav Mahler ist der in diesem Jahr am häufigsten im Festivalprogramm aufgeführte Komponist, stellt Christian Wildhagen fest. Marco Frei unterhält sich mit dem Komponisten Enno Poppe, dem diesjährigen Composer-in-residence. Thomas Schacher porträtiert den Komponisten Dieter Ammann, der in diesem Jahr beim Composer-Workshop auftritt. Und Corina Kolbe gratuliert dem Lucerne Festival Orchestra zum 20-jährigen Bestehen.

Die Lucerne-Artikel der NZZ sind leider alle nicht online. Hier zum Trost das Trifonov-Konzert mit Prokofjew und Schnittke in der Elphilharmonie 2021:



Und Enno Poppes "Rundfunk" für 9 Synthesizer von 2018:



Weitere Artikel: Dirk Peitz hat sich für die Zeit im Umfeld von Universal Records und Rammstein umgehört und ist dabei auf Hinweise gestoßen, dass das Label wohl gerade damit hadert, ein angeblich bereits aufgenommenes Soloalbum von Till Lindemann zu veröffentlichen - auch wie es mit einer wohl für Streamingdienste angedachten Rammstein-Doku und einem angeblich geplanten Berliner Rammstein-Museum weitergeht, sei unklar. Marlene Knobloch umkreist in einem SZ-Essay im Angesicht des Lindemann-Skandals die komplexen Gefühlslagen von Fans, die sich einerseits der Skandale bewusst sind, andererseits emotional enorm ins Werk ihrer Lieblinge involviert sind. Christian Schröder fragt sich im Tagesspiegel, ob Elton John nach dem Abschluss seiner fünfjährigen Abschiedstournee heute Abend in Stockholm wirklich von der Bühne verschwinden wird. In der SZ schreibt Andrian Kreye einen künstlerischen Nachruf auf Elton John. Wolfgang Schreiber (SZ) und Wolfgang Sandner (FAZ) gratulieren dem ECM-Labelbetreiber Manfred Eicher zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden ein Berliner Konzert von Depeche Mode (BLZ, Welt, Tsp), das neue Album von PJ Harvey (Standard, mehr dazu bereits hier), Taylor Swifts Neu-Einspielung ihres Albums "Speak Now" (Tsp), die Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin über Wolf Biermann (taz, Welt, mehr dazu bereits hier) und ein Konzert von Feine Sahne Fischfilet (SZ).
Archiv: Musik

Bühne

Im Interview mit der FAZ plädiert der Theaterregisseur Christopher Rüping: "Lasst uns mal ein Klassiker-Fasten machen!" Elmar Krekeler freut sich in der Welt, dass die "Intensivschauspielerin" Lena Urzendowsky bei den Nibelungenfestspielen in Worms als Brynhild jetzt erstmals auf einer Bühne groß rauskommt. Eva-Maria Magel stellt in der FAZ den Theatermacher Willy Praml vor. Ebenfalls in der FAZ gratuliert Gerhard Stadelmaier dem Theaterkritiker Georg Hensel zum Hundertsten.

Besprochen werden K. D. Schmidts Inszenierung von Tschechows "Platonow" am Staatstheater Mainz (FR) und "Slippery Rope" von Yael Ronen und Shlomi Shaban im Münchner Metropoltheater (nmz).
Archiv: Bühne

Film

Am 20. Juli ist das "epischste Blockbuster-Battle der jüngeren Kinogeschichte" zu erleben, prophezeien Cornelius Pollmer und David Steinitz in der SZ: Dann starten zeitgleich Greta Gerwigs Plastikspielzeug-Sause "Barbie" (Warner) und Christopher Nolans Atombomben-Biopic "Oppenheimer" (Universal), weshalb im Netz unter den Stichwörtern "Barbenheimer" und "Oppenbarbie" bereits ganze Meme-Kriege entbrannt sind. Eigentlich ja ein Unding, Hollywood terminiert seine Produktionsboliden üblicherweise penibel aneinander vorbei. Geht es um eine Fehde hinter den Kulissen? Nolan dreht seit vielen Jahren eigentlich für Warner, die aber "während der Pandemie als eines der ersten und dann eifrigsten Studios große Blockbuster einfach beim hauseigenen Streamingdienst HBO Max online stellten, anstatt zu warten, bis die Kinos wieder aufmachen. Für den fanatischen Kinofetischisten Christopher Nolan ein Affront. Er sagte damals dem Hollywood Reporter: 'Einige der größten Filmemacher und wichtigsten Filmstars sind gestern mit dem Gefühl ins Bett gegangen, für das beste aller Filmstudios zu arbeiten. Nur um heute aufzuwachen und festzustellen, dass sie leider für den schlechtesten Streamingdienst tätig sind.'... Dass sein Ex-Arbeitgeber Warner 'Barbie' jetzt einfach auf denselben Starttag programmiert hat, könnte durchaus eine kleine Retourkutsche sein. Rache ist rosa." Hier ein Mash-Up-Trailer:



Außerdem: Pascal Blum plaudert im Tages-Anzeiger mit Actionregisseur John McTiernan. Besprochen werden die Serie "Then You Run" (FAZ) und Laura Baumeisters nicaraguanisches Sozialdrama "La hija de todas las rabias", das allerdings nur in der Schweiz startet (NZZ).
Archiv: Film