Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.03.2020. SZ und Guardian feiern den Pritzker-Preis für die beiden irischen Architektinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara, mit dem sich die Frauenquote gleich verdoppelt. Die Welt bangt um die Zukunft französischer Filmzeitschriften. In der taz spricht die junge Autorin Olivia Wenzel über ihre Angst als Schwarze in Deutschland. Heftig umkämpft ist weiterhin der Frauenhass im HipHop. Im Tagesspiegel schreibt Ulrike Ottinger zum Tod ihrer Weggefährtin durch den Berliner Underground, Tabea Blumenschein.
Universita Luigi Bocconi in Mailan. Foto: Grafton Architects Die beiden Dubliner Architektinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara erhalten in diesem Jahr den Pritzker-Preis. "Na endlich!", ruft Wojciech Czaja im Standard. In der SZbeschreibt Laura Weißmüller, wie die beiden seit Jahrzehnten mit ihrem Büro Grafton Architects beharrlich, aber "grundsympathisch und extrem höflich" gegen die Hässlichkeit des irischen Bauwesens ankämpfen: "Dafür studieren sie, wie das Licht dort fällt, wie die Menschen sich an dem Ort verhalten und was es braucht, damit eine Beziehung zwischen ihnen und dem Bau entsteht. Es ist eine im besten Sinne dienende Architektur. Wie gut das funktioniert, sieht man etwa an ihrem Universitätsgebäude in Mailand. Die Eingangsfassade kragt so weit nach vorne aus, dass ein öffentlicher Platz darunter entsteht, der wiederum eine Art magische Sogkraft zum Bau hin erzeugt. Von außen wird der Blick mitten hineingezogen, ins Foyer und in den opak leuchtenden Vortragssaal, entlang von Linien, die einem grafischen Muster gleichen." Dass sich mit einem Schlag die Zahl der Preisträgerinnen verdoppelt, verbucht Weissmüller als kleinen Trost. Im Guardian ist auch Oliver Wainwright voll und ganz einverstanden mit Farrell und McNamara, besonders gern mag er nämlich den Entwurf für die Universität von Lima, aber mit der Entscheidung soll auch ein Rückstand aufgeholt werden, meint er: "Sie folgt auf die RIBA-Goldmedaille in diesem Jahr und die Wahl zu Kuratorinnen der Architekturbiennale von Venedig von 2018." In der NZZfreut sich auch Sabine von Fischer über die Auszeichnung der beiden.
In der FRschreibt Ingeborg Ruthe zur bereits weithin gefeierten Wiedereröffnung der Dresdner Galerie Alte Meister. Besprochen werden die Schau "Jetzt. Junge Malerei aus Deutschland" in den Hamburger Deichtorhallen (SZ), die Donald-Judd-Schau im New Yorker Moma (Welt) und eine Ausstellung in der Berliner Galerie Savvy Contemporary, in der die Guarani-Künstlerin Patrícia Ferreira Pará Yxapy von ihrer Suche nach dem "Land ohne Übel" erzählt (Monopol).
Eine Sanierung der Frankfurter Bühnen soll noch teurer sein als ihr Abriss und Neubau, aber was FR-Kritiker Christian Thomas erst richtig in Rage bringt, ist eine jetzt ins Spiel gebracht dritte Option: Ein Projektentwickler schlägt einen spektakulären Neubau am Osthafen vor, der günstigerweise auch sein Quartier aufwerten würde: "Das Stadtmagazin Frankfurt Journal glaubte an einen Scoop, hat sich instrumentalisieren lassen, um die Visualisierungen zu veröffentlichen, weniger aufsehenerregende als vielmehr abenteuerlich banale Sächelchen, wie so unglaublich vieles aus dem Rotterdamer Büro 'Office for Metropolitan Architecture' (OMA). Abenteuerlich obendrein, weil die abgebildeten Simulationen nicht, wie behauptet, von Rem Koolhaas stammen, wie so viel Banales von ihm ... Man möchte gar nicht darüber nachdenken, was das bereits für den in Frankfurt anstehenden Bühnen-Wettbewerb bedeutet. Ist Prahlarchitektur à la Koolhaas bereits am heutigen Tag ausgemachte Sache?"
Szene aus Nuran David Calis' "Verhaftung in Granada". Foto: Angerer/Schauspiel Köln
Sensibel findet Christine Dössel in der SZ, wie Nuran David Calis am Kölner SchauspielhausDoğan Akhanlıs Stück "Verhaftung in Granada" auf die Bühne bringt, mit dem der türkische Autor von den Repressionen durch die türkische Regierung erzählt: "Entstanden ist ein leiser, konzentrierter, humanistischer Abend, der die Stärke des Theaters, spielerisch von uns Menschen zu erzählen, einfühlsam und klug nutzt, um Empathie zu erzeugen und gleichzeitig auch so etwas wie politische Aufklärung oder Bewusstseinsbildung zu betreiben. Akhanlıs persönlich erlebte Geschichte von staatlicher Willkür, Unterdrückung, Folter und Flucht steht pars pro toto für abertausend andere, nicht niedergeschriebene, nicht zu Gehör gebrachte Häftlings- und Flüchtlingsschicksale."
Besprochen werden auch Florentina Holzingers Stuntoper "Étude for an emergency" an den Münchner Kammerspielen (taz, FAZ) und Tobias Kratzers Inszenierung von Beethovens "Fidelio" in London (FAZ).
In der tazsprichtOlivia Wenzel über ihren Debütroman "1000 Serpentinen Angst", der vom Aufwachsen als Schwarze in Deutschland handelt - kein autobiografischer Roman, wie Wenzel betont, aber einer, der ihrem eigenen Erfahrungsschatz sehr nahe kommt. Unter anderem geht es in dem Gespräch auch um das Gefühl mangelnder Sicherheit insbesondere nach Hanau: "Ich habe in Hildesheim studiert. Als ich dort Bus gefahren bin, habe ich nach ein paar Stationen gemerkt: Ich schaue mich nicht die ganze Zeit um, ob irgendwo Nazis sitzen. Und ich schaue auch nicht, wer mit mir aussteigt. Erst in diesem Moment alltäglicher Entspannung habe ich gemerkt, dass mir dieser Grad der Entspannung vorher nicht möglich war. ... In dem Buch unternehme ich den Versuch zu sagen, dass ich nicht permanent vor all diesen Dingen Angst haben kann, weil dann das Leben zu anstrengend wird."
Außerdem: Im BörsenblattsprichtTheaDorn über ihre Pläne für ihre Neuauflage des Literarischen Quartetts. Michael Wurmitzer wirft im Standard einen Blick auf aktuelle Veröffentlichungen aus dem Bereich "Nature Writing". Den Serben geht der Hang der Deutschen zum Naturschutz, sobald ein Stück Wald gerodet werden soll, völlig ab, beobachtet derweil der SchriftstellerBora Ćosić in der NZZ.
Besprochen werden IngoSchulzes "Der rechtschaffene Mörder" (FR), VerenaGüntners "Power" (taz), Manfred Rebhandls Krimi "Sommer ohne Horst" (Standard), Maggie Nelsons "Die roten Stellen" (Tagesspiegel) sowie neue Lyrikbände von Marion Poschmann und NadjaKüchenmeister (FAZ).
Tabea Blumenschein in "Bildnis einer Trinkerin" (Ulrike Ottinger, 1979) Aus der rund um die Genialen Dilletanten angesiedelten Westberliner Szene der 80er war TabeaBlumenschein nicht wegzudenken. Jetzt ist sie im Alter von 67 Jahren gestorben. Im Tagesspiegelerinnert sich die Regisseurin UlrikeOttinger an ihre Weggefährtin, mit der sie zahlreiche Filme gedreht hat: "Ihr Erscheinen auf der Leinwand (und auch im Alltag auf der Straße) löste immer große Faszination aus, ohne dass man beschreiben könnte, worin genau diese lag. Für ihre exzentrischen Auftritte bot ich ihr besondere Spielstätten in den Filmen, seien es die trostlosen Trinkorte der zerrissenen Metropole, die Bühnenkulissen vor dem Meeresrauschen oder dichte Pflanzenwelten, in denen sie sich als Paradiesvogel bewegte. Ihre Erscheinungen, vor allem die der Madame X und der Trinkerin, regten zu Projektionen an und machten sie zur Kultfigur der feministischen Bewegung und des Undergrounds." Das Kaput Mag hatte Blumenschein vor zwei Jahren für ein ausführliches Gespräch ausfindig gemacht.
Gerhard Midding liefert in der Welt Hintergründe zum Rücktritt der gesamten Redaktion der Cahiers Du Cinéma, nachdem das Blatt an branchennahe Finanziers verkauft wurde, die sich ein glatteres Magazin wünschen: "Der Markt für anspruchsvolle Filmzeitschriften verzeichnet auch in Frankreich seit anderthalb Jahrzehnten verheerende Einbußen." Lediglich die Cahiers-Konkurrenz Positif könne sich derzeit noch behaupten: "Da die Redakteure nicht bezahlt werden, war der Titel stets ein gutes Geschäft für seine Eigentümer. Derzeit wird er von Actes Sud und dem Institut Lumière verlegt, dessen Leiter Thierry Frémaux zugleich der Leiter des Festivals von Cannes ist. Nicht nur von derlei Branchennähe distanziert sich die abtrünnige Mannschaft der Cahiers. Unter dem Chefredakteur Stéphane Delorme hat die Zeitschrift eine eminent politische Richtung eingeschlagen", was heißt, dass er ausdauernd den Macronismus kritisiert.
Besprochen werden Waadal-Kateabs und EdwardWatts' Dokumentarfilm "Für Sama" über den Alltag im Syrienkrieg (SZ), Bert Rebhandls gleichnamiges Buch über CarolReeds Klassiker "Der dritte Mann" (SZ), Paolo Sorrentinos Serie "The New Pope" (NZZ) und AutumndeWildesJane-Austen-Verfilmung "Emma" (FAZ).
"Es darf keine Ausreden mehr geben", kommentiert Hannes Soltau im Tagesspiegel den grassierenden, oft wegentschuldigten Frauenhass im Hip-Hop, auf den Terre des Femmes derzeit mit der Kampagne #unhatewomen und dem oben stehenden Video reagieren. Konkretes Anschauungsmaterial bietet derzeit der Rapper Patrick Losensky alias Fler, der Frauen auf Instagram mit Privatnachrichten belästigt und öffentlich Kopfgelder auf sie aussetzt. Der Comedian ShahakShapira hat dies auf Twitter zum Thema gemacht - und seinerseits von dem Rapper per Voicemail brutale Gewaltdrohungen erhalten und wird überdies nun auch antisemitisch bedroht. Die Polizei reagiert darauf mit kaum mehr als Schulterzucken. "Vielleicht noch mehr als dieses bizarre Tête-à-Tête schockierte aber die Reaktion von Rap-Journalisten, Menschen also, die sich eigentlich als fest im linken Lager verankert verstehen", schreibt Til Biermann bei den Salonkolumnisten. Denn "in diesem Milieu ließ man sich in der Folge darüber aus, was für ein nerviger und unsympathischer Typ dieser Shapira doch sei. ... Ich verstehe jeden, der Angst hat, sich öffentlich gegen brachial-faschistoid agierende Leute wie Losensky zu äußern. Denn das führte schon mehrfach zu Hausbesuchen - Beispiele gibt es genug. Aber auch noch denjenigen anzugreifen, der den Mut genau dazu aufbrachte - das ist ekelhaft und niederträchtig." Shapira selbst hat auf Twitter ein Statement abgegeben.
Weitere Artikel: In seinem Klassikblog für die Weltspricht Manuel Brug mit SemyonBychkov, dem Chefdirigenten der TschechischenPhilharmonie, die sich derzeit auf Deutschlandtournee befindet. Amira Ben Saoud berichtet im Standard vom ElevateFestival in Graz. Im ZeitMagazinträumtBilly Bragg.
Besprochen werden CarlaBleys neues Album "Life Goes On" (SZ), Vladislav Delays neues Album "Rakka" (Pitchfork), Alabaster DePlumes neues Album "To Cy & Lee: Instrumentals Vol.1" (ZeitOnline) und neue Popveröffentlichungen, darunter "Heavy Light" der U.S. Girls, auf dem sich laut SZ-Popkolumnist Jens Christian Rabe "der bestgelaunte bittersüße Indiediscowackler zur ewigen Finanzkrise" befinde: