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13.12.2018. Die Zeit wünschte sich weniger neue Museen in Berlin und dafür mehr Ausstellungen. Die SZ blickt gerührt auf einen kleinen Fluchtweg für die Nymphen in der neuen Eingangshalle der Berliner Museumsinsel. Die NZZ lernt etwas über "Politics of Design, Design of Politics" in einer Münchner Ausstellung. Die taz bewundert die Unentschiedenheit in Sachen Wunder in Xavier Giannolis "Die Erscheinung".
Hollywood-Filme mit Frauen in der Hauptrolle spielen mehr Geld ein als solche mit Männern in der Hauptrolle - auf dieses zugespitzte Ergebnis dampfen derzeit viele Medien eine Studie ein, die Susan Vahabzadeh, durchaus erfreut über die an sich gute Botschaft, in der SZetwas differenzierter aufdröselt: "In allen Gruppen haben die Filme, die eine Hauptdarstellerin hatten, im Schnitt mehr eingespielt als jene, bei denen ein Mann zuerst genannt wurde. Insgesamt waren das 105, im Vergleich zu 245 männlich dominierten Storys. Ein knappes Angebot, das womöglich eine höhere Nachfrage schafft. Vielleicht würde sich bei gleichmäßiger Verteilung der Hauptrollen auch die Zuschauergunst gleichmäßig verteilen." Szene aus Xavier Giannolis "Die Erscheinung"
Einem jungen Mann erscheint die Heilige Jungfrau Maria - und die Kirche glaubt es nicht, was einen Reporter auf den Plan ruft, um die Sache aufzuklären. Xavier Giannolis "Die Erscheinung" ist durchaus passabel geraten, meint Ekkehard Knörer in der taz: Zwar häuft der Regisseur "allerlei Plot- und Wunder-Zinnober" auf, aber "man langweilt sich beinahe zweieinhalb Stunden lang eher nicht. ... Der Film hält sich die Entscheidung in den oft sehr schönen Bildern des Kameramanns EricGautier offen. Er liebt das Gesicht seiner Heiligen im Wissen darum, dass sie womöglich doch keine ist. Die Unentschiedenheit in Sachen Wunder ist eher Stärke als Schwäche." Und Fritz Göttler hält in der SZ fest: "Giannolis Film ist nicht sozialkritisch, will nicht religiösen Rummel denunzieren."
Weitere Artikel: Für die NZZ hat sich Patrick Straumann zum Gespräch mit dem japanischen Regisseur HirokazuKore-eda über dessen neuen, von Philipp Meier besprochenen Film "Shoplifters" getroffen, der in Cannes die Goldene Palme gewonnen hat. Ziemlich unheimlich findet SZ-Kritiker Jonas Lages die ursprünglich fürs Kino geplante, jetzt aber von Netflix aufgekaufte neue "Dschungelbuch"-Verfilmung, in der namhafte Schauspieler via Motion Capturing die Dschungeltiere verkörpern, was mitunter zu bizarren Wiedererkennungseffekten unter den digitalen Masken führt. Für die FAZ hat Marco Schmidt das in diesem Jahr erstmal vom ehemaligen Forumsleiter der Berlinale, Christoph Terhechte, geleitete Filmfestival in Marrakeschbesucht.
Besprochen werden AlfonsoCuaróns "Roma" (Perlentaucher), Steve McLeans "Postcards from London" (critic.de, Perlentaucher), Rosa von Praunheims "Männerfreundschaften", in dem der Regisseur darüber spekuliert, ob Goethe schwul gewesen ist (SZ), Benedikt Erlingssons Ökothriller "Gegen den Strom" (critic.de), die neue Staffel der britischen Serie "Doctor Who", in der mit JodieWhittaker erstmals eine Frau die Titelrolle übernommen hat (FR) und die Netflix-Serie "The Innocent Man", die auf John Grishamsgleichnamigem Buch basiert (FAZ).
Die neue James-Simon-Galerie an der Museumsinsel. Foto: David Chipperfield Architects
Peter Richter spaziert für die SZ angeregt durch die von David Chipperfield gebaute James-Simon-Galerie in Berlin, den künftigen Haupteingang der Berliner Museumsinsel: "Dass die wahre Bezugsgröße dieses Schlusssteins der Museumsinsel am Ende gar nicht so sehr Athen heißt, sondern eher Venedig: Das ist eine der schönen Pointen dieses Baus. Sie zeigt sich auch außen, am vielleicht liebenswürdigsten Detail - einer schmalen Wassertreppe am Gebäuderand zur Spree hinunter. Mit dieser Nut wird nebenbei ein wenig verschleiert, dass Chipperfields Terrasse nicht ganz ebenmäßig auf Messels tiefer gezogene Fassade des Pergamonmuseums trifft. Vor allem aber rührt der kleine Bootsanleger zu Füßen der mächtigen Mauer. All die sehnsüchtigen Iphigenien da drinnen in dieser Welt ewiger Anmut und stiller Ewigkeit haben jetzt zumindest symbolisch einen Fluchtweg."
"Unter den Architekten des omnipräsenten Neo-Rationalismus ist Chipperfield einer der eleganteren", meint Marcus Woeller etwas von oben herab in der Welt. "Ein wunderschönes Bauwerk, viel zu schade, um als Ort des Gedränges vor Kassen und Kopfhörerstationen unterfordert zu werden", schwärmt dagegen Bernhard Schulz im Tagesspiegel. "Wenn das Publikum nicht mehr den Kassen- und Guide-Parcours absolvieren muss, ist der Weg frei zum absichtslosen Flanieren, zum Auf und Ab auf der Freitreppe, die von der Bodestraße aufs Obergeschoss führt. Oder auf jener Treppe, die im Gebäudeinneren die beiden Hauptgeschosse verbindet; oder hinein ins Café und bei warmer Witterung hinaus auf die Loggia, die Pfeilerhalle hoch über dem Kupfergraben."
In Berlin gibts immer neue Museen, Erweiterungen, Anbauten, die Besucherzahlen jedoch sinken - heute sind es ein Drittel weniger als vor sieben Jahren. Vielleicht sollte man mal in Ausstellungen investieren statt in immer mehr Gebäude, regt Hanno Rauterberg in der Zeit die Stiftung Preußischer Kulturbesitz an. "Seit Jahren wird geklagt, dass es dem neuen Schloss mit seinem Humboldt Forum, das in einem Jahr eröffnen soll, an einer zündenden Idee fehle. Dabei ist die Konzeptlosigkeit wenig erstaunlich, eher ist sie ein Symptom. Die geistige Leere des Schlosses ist die Leere der Stiftung, und dass sich das irgendwann in besucherleeren Sälen niederschlägt, muss niemanden verwundern. Der Apparat hat viele dienstbeflissene Köpfe hervorgebracht, doch diese Köpfe sprechen Aktendeutsch und haben keinen Sinn für das Unausrechenbare der Kunst. Deshalb fehlen Furor und Esprit, es fehlen Kuratoren, die gegen die Selbstlähmung aufbegehren und andere mitreißen in ihrem Willen, das Erbe der Preußenstiftung zu dem zu machen, was es sein könnte: eine schöne, beschwingende Form von Übereinkunft. Ein Ort, an dem sich gut staunen und gut streiten lässt."
Elisabeth Wellershaus streift für Zeit online durch die von Angst von Jair Bolsonaro geprägte Kunstwelt São Paulos, wo gerade eine Bauhaus-Ausstellung zu sehen ist. Das ist gerade ungemütlich aktuell, meint sie: "Es geht um den Bezug der europäischen Avantgarde zur indigenen Kunst von anderen Kontinenten. Um Öffnung, Aneignung und Austausch. Im ersten Moment klingt das nach überkonstruiertem Kuratorenkonzept, im zweiten aber wirkt es gespenstisch aktuell. Die deutliche Aufwertung indigener Kunst kann in Zeiten des politisch instrumentalisierten Rassismus wie ein Statement gelesen werden. Und das Schicksal mancher Bauhaus-Künstler scheint der Situation von brasilianischen Kulturschaffenden der Gegenwart auf unheimliche Art zu ähneln. Mit Blick auf Bolsonaros 'Säuberungsdrohungen' an politische Gegner und auf seine antikommunistischen Bildungsprogramme wirken europäische wie brasilianische Vergangenheit zumindest ungemütlich nah."
Friedrich von Borries' Münchner Ausstellung "Politics of Design, Design of Politics" gibt sich relevanter als sie eigentlich ist, meint Oliver Herwig in der NZZ: "Zwölf Leitthemen wirbeln durch die Abfolge von Ikonen: Design mobilisiert, Design diszipliniert, Design kolonialisiert, Designformiert, manipuliert, fetischisiert, reproduziert, sexualisiert, öffnet, ermächtigt, kritisiert und entwirft. Diese Ausstellung will polarisieren - und tut leider nur so, als erfinde sie den kritischen Blick auf Design gerade neu." Am Ende entzündet sich dann aber doch noch ein Funke: Von Borries' "beklagt, dass Wahlzettel am Wahltag oft in einer Art Mülltonne landen, das Bundesverdienstkreuz eigentlich nur eine abgespeckte Version des Eisernen Kreuzes darstelle und Staatsgäste immer noch mit militärischen Ehren empfangen würden. Volltreffer. Ausgerechnet bei der 'Symbolpolitik' wird deutlich, dass Gestaltung eben mehr sein kann als das Feigenblatt des Schönen über ausgefeilten Ingenieurleistungen, nämlich durch und durch politisch."
Tillmann Prüfer kolumniert im ZeitMagazin über Gürtel als Symbol der Macht: "Er hielt das Gewand zusammen, aber auch die Person des Trägers. Am Gürtel hingen die Waffen, am Gürtel hing das Geld. Den Gürtel legte man höchstens nach der Schlacht ab. Von dieser Bedeutung des Gürtels zeugen heute noch Superhelden: Nahezu jeder Comic-Held trägt einen Gürtel. Batman zum Beispiel den mit Fledermaus-Emblem. Auch Captain America und Figuren wie Asterix und Obelix, Lucky Luke oder He-Man hat man niemals ohne gesehen. Und auch der Superschurke Darth Vader bei 'Star Wars' ist im Besitz eines beeindruckenden Gürtels."
Besprochen wird die Oldtimer-Ausstellung "PS: Ich liebe Dich" im Kunstpalast in Düsseldorf (FR).
Für den Tagesspiegel hat Gregor Dotzauer die neue Ausgabe des Magazins des Diaphanes Verlagsgelesen. Thomas-Mann-Lektor Roland Spahr berichtet im Verlagsblog des Fischer-Verlags von seinen Eindrücken der Ausstellung "Thomas Mann in Amerika" im LIteraturmuseum der Moderne in Marbach. Ebenfalls im Fischer-Blog erklärt die Literaturwissenschaftlerin Irmela von der Lühe, warum sich die Auseinandersetzuung mit Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen" auch heute noch lohnenswert sein kann..
Besprochen werden unter anderem Nora Bossongs Gedichtband "Kreuzzug mit Hund" ("Wenn Nora Bossong über und an Europa schreibt, dann mit einem Seufzer", schreibt Kristoffer Patrick Cornils in der SZ), der vierte Band aus FrédéricPajaks im Original bislang siebenbändigem autobiografischem Werk "Ungewisses Manifest" (NZZ), Igorts Comic "Berichte aus Japan" (Dlf Kultur), Yves Bonnefoys postum veröffentlicher Erzählband "Der rote Schal" (Tagesspiegel) und MichalHvoreckýs "Troll" (FAZ).
NZZ-Kritikerin Lilo Weber stellt den Schweizern Jacopo Godani vor, den Nachfolge William Forsythes mit der neu formierte Dresden Frankfurt Dance Company, die am Wochenende im Theater Winterthur auftreten. Annabelle Hirsch (FAZ) erlebte einen wunderbaren Abend in Paris mit Jean-Louis Trintignant, der im Théâtre de la Porte Saint-Martin Gedichte las.
Besprochen werden Tatjana Gürbacas Inszenierung von Webers "Freischütz" in Essen (nmz), die Uraufführung einer Marx-Oper von Jonathan Dove und R. Weber in Bonn ("Die Musik des erklärtermaßen mozart- und rossiniaffinen Briten will erkennbar bleiben, setzt auf einen so eingängigen wie bühnentauglichen Sound, der deutlich gehaltvoller als übliche Musical-Meterware daherkommt, aber das musikalische Rad (bewusst) nicht neu erfindet", schreibt ein ganz zufriedener Joachim Lange in der nmz), Manfred Trojahns Oper "Was ihr wollt" in Hannover (FAZ), die Uraufführung von Johannes Maria Stauds Oper "Die Weiden" in Wien (SZ) und Jacques Offenbachs politsatirische Oper "Barkouf" in Straßburg ("Ein Meisterwerk!", ruft Volker Hagedorn in der Zeit).
Das von Katja Eichinger produzierte, von zahlreichen Rem-Kohlhaas-Zitaten durchsetzte Tempers-Album "Junkspace" sollte man sich am besten in einer Shopping Mall anhören und zwar, um den vollen Genuss zu erzielen, am besten mit Noise-Cancelling-Kopfhörern, die lästige Umweltgeräusche einfach ausblenden, rät Antje Stahl in der NZZ: Dieses Album kann "nämlich jedes Einkaufszentrum in eine Kunstausstellung verwandeln. ... Nicht unähnlich Koolhaas' Schreibduktus führen die New Yorker Jasmine Golestaneh und Eddie Cooper alias Tempers einen gut gelaunt und Track für Track durch die wichtigsten Shoppingmall-Koordinaten: Da wären diePlastikpalmen, die Rolltreppen, SpringbrunnenundKlimaanlagen. Sie klingen nach Techno alter Schule, nach von Reverb getragenem Synthi-Pop, und manchmal dringen auch, gerade in der Klimaanlage, elektronische Töne Richtung Industrial durch. Alles in allem also eine wunderbare Sphäre."
Die nachwachsende junge Generation verschlufft, stelltTagesspiegel-Kritiker Kai Müller nach dem Hören der neuen Alben von AnnenMayKantereit und Bilderbuch fest: Die Lieder der Ersteren "finden in den ungemachten Betten von Leuten statt, die lieber liegen bleiben, als die Welt zu retten. Sie verstecken sich 'hinter klugen Sätzen', ziehen 'Konsequenzen, die gar keine sind'. Mit ihrer Seele haben sie genug zu kämpfen." Ästhetisch anders als dieses "Pathos der Intimität", aber inhaltlich ähnlich gerieren sich Bilderbuch auf dem neuen Album "Mea Culpa", das "die Selbstanklage schon im Titel trägt, die direkt ins Zentrum der Seelenrettung zielt. ... Stress ist die Lieblingsvokabel der vier Österreicher. Es ist alles gelaufen, bevor man aufzustehen geschafft hat."
Weitere Artikel: Jürg Zbinden plaudert für die NZZ mit Max Raabe. In der SZ gratuliert Andrian Kreye Heino und TedNugent zum 80., beziehungsweise 70. Geburstag, im Filmblog Eskalierende Träumeerledigt dies zumindest im ersteren Fall André Malberg mit einem geradezu episch ausufernden Essay.
Besprochen werden Freispiels neues Album "Nonsens Konsens" (taz), Marianne Faithfulls neues Album "Negative Capability" (FR), das Berliner Konzert von War on Drugs (Tagesspiegel), eine Edition mit Chic-Alben aus den 70ern (Pitchfork), ein Konzert des EnsemblesModern (FR) und Till Brönners und DieterIlgs Auftritt in Frankfurt (FR). Außerdem küren die Zeit- und ZeitOnline-Autoren die besten Musikveröffentlichungen des Jahres.