Außer Atem: Das Berlinale Blog

Und nun zum Sex: Ilya Khrzhanovsky "DAU. Natasha" (Wettbewerb)

Von Thierry Chervel
26.02.2020.


Eines macht der Film wirklich sehr deutlich: dass die Russen, die das Menschheitsexperiment Sowjetunion übrig gelassen hat, immer noch sehr gut wissen, wie ein Unterdrückungssystem funktioniert: durch die Kollaboration der Opfer. Die eigentliche Frage in diesem Film ist darum nicht, ob die Schauspieler tatsächlich Sex haben und nicht markieren, oder ob der Stasi-Offizier (der tatsächlich ein Stasi-Offizier war) Natasha tatsächlich eine Cognac-Flasche in die Vagina steckt (er tut's nicht, würde ich sagen), sondern ob dieses Reenactment gebraucht wird, um den wirklich entscheidenden Moment des Films irgendwie deutlicher zu machen. Und der ist Natashas Unterzeichnung der Selbstverpflichtungserklärung als IM.

Der Film ist schnell gegliedert: 1. Exposée. Die Szenerie ist ein geheimes physikalisches Forschungsinstitut der Sowjetunion im damals noch sowjetischen Charkow. Natasha ist Kantinenchefin, Olya ihre Gehilfin, beide sind hübsch, aber Olga um einiges jünger. Natasha will Olya dazu bringen, den Fußboden zu wischen, bevor sie Feierabend macht. Olya weigert sich trotz Natashas Schlägen. 2. Exzess und Sex: Die Wissenschaftler werden zunächst bei der Arbeit gezeigt. Sie probieren einen Apparat aus, der Orgon-Energie erzeugt (Wilhelm Reich lässt grüßen). Den Erfolg ihrer Maschine feiern sie in der Natashas Kantine. Sie besaufen sich bis zur Besinnungslosigkeit, schlagen mit toten Fischen auf den Tisch, dann die Sexszene zwischen Natasha und dem französischen Physiker Luc Bigé (alle Schauspieler spielen unter ihrem wirklichen Namen). 3. Vernehmung, Folter und Selbstverpflichtung: Obwohl Natasha von Anfang an kooperationswillig ist, zeigt ihr der Stasi-Offizier nicht nur die Instrumente. Sie muss sich ausziehen, es kommt zu dem Moment mit der Flasche. Sie unterzeichnet. Ihr Verbrechen ist, dass sie mit dem ausländischen Physiker geschlafen hat. Sie lässt sich ohne Zögern ein Geständnis diktieren, das den Physiker Luc Bigé der schlimmsten Vergehen bezichtigt. Dann flirtet sie mit dem Offizier. Seine Augen seien wunderbar. Am Ende küssen sie sich. 4. Kurzer Epilog: Wieder in der Kantine, wieder Feierband, wieder will Natasha Olya dazu bringen, den Boden zu wischen. Olya will nicht. Aber Natasha weiß, dass sie jetzt als kleines Rädchen des Systems die Macht hat, noch kleinere Rädchen fertigzumachen.

Und nun zum Sex.

Um das DAU-Projekt wurde ja ein Riesenbrimborium gemacht. Die Schauspieler haben über Jahre im Set gelebt, die Szenen wurden improvisiert, bis hin zum realen Ausagieren von Gewalt- oder Sexszenen, die sonst nur markiert werden. Es wurden 700 Stunden Material gedreht. Ein großzügiger Oligarch hat Millionen Rubel in das Gesamtkunstwerk gesteckt.

Aber ob Luc und Natasha tatsächlich miteinander schlafen, und ob ihr der Stasi-Offizier (oder sie sich selbst, es ist eigentlich unklar) tatsächlich eine Flasche in die Vagina steckt, erweist sich in dem Film als völlig unerheblich. Es ist ein bisschen ähnlich wie bei Lars von Trier, der seine schwächsten Momente hat, wo er er will, dass etwas "tatsächlich" geschieht.



Was sich bei solchen Arrangements von Wahrheit im fiktiven (aber natürlich immer irgendwie dokumentarischen, eine, wenn auch fabrizierte Realität abfilmenden) Genre Kino immer wieder herausstellt: Pornografie ist nicht die Wahrheit des Kinos. Dass etwas tatsächlich geschieht, gibt dem Kino keine größere Kraft. Pornografie ist nur die Vergröberung, ins Obszöne getriebene Verabsolutierung des fragmentierten Blicks, den männliche Sexualität offenbar braucht, um sich zu realisieren. Und sie ist auch als Idee nur solange interessant, bis man sie wegwirft. Was man in Ilya Khrzhanovskys Film sieht, sind nur zwei Leute beim Sex, der von außen mühsam, anstrengend, langwierig aussieht. Und da der Blick nicht fragmentarisch ist, sondern wir es doch mit einer Filmszene zu tun haben, zeigen sich die Körper in ihrer ganzen unerquicklichen Materialität: Wer genau will Lucs haarigen Hintern sehen?

Mein Verdacht ist, dass dieser ganze Wahrheits-Buzz nur gebraucht wird, um gegenüber Publikum, Medien und Geldgebern eine Beglaubigung zu schaffen. Und natürlich maßen sich Regisseure eine totale Macht an, wie sie sonst nur Sektengurus haben. Kehrseite ist die Insolvenzerklärung der Kunst, die nicht mehr an ihre Mittel glaubt.

Mit der Verhörszene ist es vielleicht doch etwas anders. Sie hat eine ungeheure, nicht zu leugnende Wucht, die nicht so sehr aus der Angst vor der Tatsächlichkeit des Geschehens kommt, sondern aus einem Gefühl kompletter Unentrinnbarkeit, das in guter alter Kunstfertigkeit durch das Setting, die Erzählung und die Akteure erzeugt wird. Wird die Szene dadurch wahrer, dass man über die Vergangenheit des Schauspielers als Stasi-Offizier Bescheid weiß?

Der Ort der Handlung, das geheime Forschungsinstitut in Charkow, ist ja erstaunlicher Weise fast der gleiche wie in Wassili Grossmans großem Roman "Leben und Schicksal". Auch dort wird das Leben und Sterben an einem solchen Institut ausgelotet, der Roman ist eine der grandiosesten Erzählungen und Reflexionen über die Tragik der Verstrickung in totalitären Systemen. Den Schrecken spürt man in Ilya Khrzhanovskys Film, aber nicht Grossmans Erschrecken.

Der Film ist in Russland verboten, aber nicht weil er die Wahrheit erzählt, sondern als Propaganda für Pornografie (was natürlich ein Vorwand des Putinismus sein kann). Am Ende, fürchte ich, schnurrt zumindest dieser Ausschnitt aus Khrzhanovskys 700 Stunden Material auf ein "es ist so, wie es ist" zusammen, die flache Redundanz eines Schlagertextes. Wie eine Kakerlake lachte der Schnauzbart und lacht er eventuell immer noch.

"DAU. Natasha". Regie: Ilya Khrzhanovsky (auch Ilya Khrzhanovskiy, Ilja Chrschanowski oder Ilja Krschanowski geschrieben). Mit Natalia Berezhnaya, Olga Shkabarnya, Vladimir Azhippo, Alexei Blinov, Luc Bigé. Russland 2020. 145 Minuten (Vorführtermine)