Außer Atem: Das Berlinale Blog

Die ganze Wirklichkeit hat Platz - das Berlinale-Wochenende im Pressespiegel

Von Thomas Groh
24.02.2020. Mit Kelly Reichardts am Samstag gezeigtem Revisionswestern "First Cow" hat das Festival seinen ersten Favoriten. Christian Petzold ergründet derweil die Sümpfe unter Berlin. Liebesreigen in Schwarzweiß: Philippe Garrel hat einen französischen Film aus den 70ern gedreht, dabei aber nicht an die Nonchalance gedacht. Die neue Berlinale ist die alte, meint Artechock. Und die Welt protestiert vor dem Kinosaal für mehr deutsche Untertitel.
Raue Landschaft, zarter Kern: Kelly Reichardts "First Cow"

Mit einigen starken Wettbewerbsfilmen ist das Wochenende am Potsdamer Platz zu Ende gegangen. Gar nicht überraschend fände es zum Beispiel Welt-Kritikerin Cosima Lutz, wenn die in der Wildnis Cookies backenden Pelztrapper aus Kelly Reichardts Western "First Cow" am Ende des Festivals auch noch den Goldenen Bären erlegen. Schön an dem Film ist, wie er Erwartungen und Klischees unterläuft - etwa, was die Darstellung von Freundschaft betrifft. Der Regisseurin gelinge erneut "ein atmosphärisch opulentes, dabei in seiner Bildsprache gleichsam heruntergedimmtes Porträt eines abgelegenen, stillen Amerika. ... Es sind kleine Gesten und Dinge, die diesen so zarten wie monumentalen Film funkeln lassen." Ziemlich fantastisch findet auch Perlentaucherin Thekla Dannenberg diesen Film, der die Signaturen seines Genres erfolgreich umgeht: Die "Bilder vermeiden das Erhabene, Weite, Offene. Sie sind in jeder Hinsicht tief gehängt. Die Kamera bewegt sich wenig, sie zeigt die Menschen im Unterholz beim Pilzesuchen, beim Fallenstellen, in selbstgezimmerten Hütten, im Matsch. Das Licht verliert hin und seine Fahlheit, wird strahlender, aber winterlich bleibt es in dieser übervollen, aber rauen Landschaft. ... Hier kann niemand einfach ein neues Leben beginnen, die meisten müssen ihr altes fortsetzen, und zwar unter härteren Bedingungen." Ein Film, dessen gedämpftes Tempo auch neu sehen lässt, meint Barbara Schweizerhof in der taz, und es gestattet "in der großen, rastlosen Übergangsgesellschaft, die diese 'Frontier' war, innezuhalten fürs bislang Übersehene." Weitere Besprechungen auf Intellectures, critic.de und im Tagesspiegel. Für den Freitag zeichnet Barbara Schweizerhof den Werdegang der Regisseurin nach. Für den Tagesspiegel hat Andreas Busche mit Reichardt gesprochen.

Liebe in Zeiten des Spätkapitalismus: Christian Petzolds "Undine"

Deutsche Märchenromantik im Nicht-Ort von Berlins Mitte, Kritik am idiotischen Wiederaufbau des Stadtschlosses inklusive: "Undine" von Christian Petzold, der erste deutsche Film im Wettbewerb. Undine, die ans Land gekommene Wassernixe, die die Liebe eines Mannes findet, den sie töten muss, wenn er sie betrügt, wird gespielt von Paula Beer, ist eine Mitarbeiterin der Berliner Museen und erklärt den buchstäblichen Sumpf, auf dem Berlin errichtet wurde. Ihr Liebhaber ist Franz Rogowski. Hinter dieser Anordnung steckt "Petzolds erklärter Wille, Berlin den Zauber zu verleihen, den ihm der Kapitalismus ausgetrieben hat", schreibt Perlentaucherin Thekla Dannenberg. "Dabei verfällt er keinesfalls einer Verklärung der Stadt. Seine Bilder und Figuren sind sehr heutig und sehr real. Aber wie er seine Anna-Seghers-Verfilmung 'Transit' im Heute und im Marseille der dreißiger Jahre zugleich spielen ließ, so hat auch 'Undine' dieses eigentümlich Schillernde, das Petzolds Filmen eigen ist." Philipp Schwarz vermisst auf critic.de "Momente, in denen der Film erkundet, wie sich die abstrakten - also den Horizont eines einzelnen menschlichen Daseins übersteigenden - Dynamiken dennoch in einem individuellen Leben und Erleben niederschlagen." Bei der Pressekonferenz zum Film bestätigte sich Andreas Fanizadehs Eindruck: Petzold richtet sich hier "mit der wahren Romantik gegen die neuen Preußen", denn "die restaurative Preußen-Renaissance in Berlins neuer Mitte, kontert der Regisseur mit seinen mythisch aufgeladenen Unterwasserwelten", erklärt Fanizadeh in der taz. Christiane Peitz vom Tagesspiegel bleibt eher skeptisch: "Diesmal bleiben die mythischen und magischen Momente seltsam äußerlich, der Gegenwart aufgepfropft", wobei nicht alles Schatten ist: "Betörend" sind die Aufnahmen unter Wasser, "mit Ruinen-Architektur, Schlingpflanzendschungel und einem kapitalen Wels. Petzolds bestechend unbestechlicher Blick auf die Stadt und die deutsche Gegenwart beschert einem zudem lohnenswerte (und amüsante) Exkurse." Andreas Busche hat für den Tagesspiegel mit Petzold gesprochen.

Schwarzweißer Liebesreigen, aber es mangelt an Nonchalance: Philippe Garrel auf ausgetretenen Pfaden.

Mit Philippe Garrels "Le Sel des Armes" weht ein Hauch "betagter Jugendlichkeit" in den Wettbewerb, schreibt Perlentaucher Thierry Chervel: Diesen Film hätte der französische Auteur schon in den 70ern drehen können: "Dass er in Schwarzweiß gedreht ist, trägt zu diesem sanft nostalgischen, aber nie selbstverliebten oder durch Anspielungen erzeugten Fluidum bei." Auch dass der blass bleibenden Figur sich reihenweise die jungen Frauen an den Hals werfen, ist sehr typisch für die Tradition des französischen Autorenfilms: "Aber Garrels Film hat die Nonchalance nicht mehr, die dieses Kino in den sechziger oder siebziger Jahren ganz selbstverständlich mitbrachte." Taz-Kritiker Ekkehard Knörer wurde das Liebesreigen rund um einen im Grunde ja doch bloß toxischen Kerl bei allem Schwarzweiß schlussendlich doch zu bunt. Drängend "wird die Frage: Warum eigentlich wird mir das hier so ausführlich und dann letztlich nur aus seiner Sicht präsentiert? ... Lieber hätte man etwa die weitere Geschichte Djemilas erfahren, die nur noch einmal, stumm, aber markant, auftreten wird. Aber Garrel bleibt natürlich Garrel und folgt lieber den sehr ausgetretenen Pfaden." Auch SZ-Kritikerin Susan Vahabzadeh winkt ab: "Es gibt nicht viel zu entdecken in 'Le Sel des Larmes', außer vielleicht unfreiwilliger Komik." Und auch Till Kadritzke beobachtet auf critic.de: "Selbst in der Liebe, dieser Feier des Neuen an sich, scheint es für den Regisseur nichts Neues mehr zu geben."

Beim Perlentaucher weist Ekkehard Knörer zudem auf zwei Perlen im Forumsprogramm hin: "The Calming", Song Fangs Film über eine junge Filmemacherin, ist für Knörer "ein kleines Wunder" und zwar vor allem "auch, weil man denken könnte, man hätte das, was man hier sieht, auch die Art, wie es gefilmt ist, schon oft und öfter gesehen - ich staune aber, wie sehr es mich in diesem Film noch einmal anders, noch einmal neu, wie ein erstes Mal packt, wobei 'packen' hier eigentlich das Gegenteil meint: leise berührt, besänftigt, auf fast schon aufwühlende Weise beruhigt." Außerdem laut Knörer den Kampf um ein Ticket wert: Luca Ferris "La Casa dell'amore", das Porträt der Trans-Frau Bianca Dolce Miele, gefilmt ausschließlich in deren Wohnung: "Aller Realismus ist in 'La Casa dell'amore' von Anfang an stilisiert. Aber so, dass die ganze Wirklichkeit Platz hat, in der Wohnung, in den Innenraumbildern. Weil zur ganzen Wirklichkeit die Wünsche gehören, die Selbstinszenierung, die Lust und die Vorlust, weil die Wirklichkeit die Träume umfasst. So ist das eine Dokumentation, die nichts dekuvriert, die sich als Erfüllungsgehilfin ihrer Heldin versteht, die Sicherheit schafft und die Regeln der Außenwelt souverän suspendiert."

Schnitt zur Grundsatzkritik: "Es gibt keine neue Berlinale", stellt Dunja Bialas auf Artechock nach den ersten Tagen der Orientierung auf dem Festival statt, dem ersten unter der neuen Leitung von Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek: Änderungen gebe es lediglich in Details, dafür auch hinter den Kulissen mehr Kontinuitäten und Verpflichtungen als man meinen könnte: "Subjektiv setzt sich das Gefühl fest, dass die Berlinale jetzt noch mehr Filme im Programm hat, da man die beiden abgeschafften Reihen (neben 'Kulinarisches Kino' ist das die Reihe 'Native') ohnehin ausgeblendet hatte. Jetzt drängt sich dagegen plötzlich 'Encounters' auf, und das geht dann im Zweifelsfall auf Kosten der Besuche im 'Forum', zumal mit Filmen von Victor Kossakowsky, Matías Pineiro, Josephine Decker, Sandra Wollner und Heinz Emigholz. Alles Namen, die sich mit dem Forum verbinden."

Außerdem hat Hanns-Georg Rodek das offenbar allerdrängendste aller allerdrängendsten Probleme des Festivals identifiziert: "Kein anderes Land exerziert einen derartigen Kotau gegenüber dem Englischen", poltert er einigermaßen losgelassen in der Welt. Für seinen Geschmack werde auf dem Festival viel zu wenig Deutsch gesprochen, viel zu oft auf deutsche Untertitel verzichtet und auch dass man den neuen Festivalleiter Carlo Chatrian nicht dafür maßregele, bislang kein vorweisbares Deutsch zu sprechen, hält er im Grunde für nicht hinnehmbar: "Es zeugt von Pflichtvernachlässigung, wenn die Aufsichtsgremien dieser Institutionen das stillschweigend tolerieren."

Weiteres: Beim Perlentaucher denkt Jochen Werner nach, wie Leonie Krippendorfs in "Kokon", Kazik Radwanski in "Anne at 13,000 ft." und Melanie Waelde in "Nackte Tiere" ihre weiblichen Hauptfiguren ins Bild setzen. Die taz spricht mit Faraz Shariat über dessen im Panorama gezeigtes Spielfilmdebüt "Futur Drei". Bert Rebhandl denkt im FAZ-Blog über den ersten Jahrgang des Forums nach, der im Jubiläumsjahrgang in Teilen nochmal gezeigt wird. Im Tagesspiegel gratuliert Christiane Peitz dem Forum zum 50-jährigen Bestehen. Die MOZ spricht mit Cristina Nord über ihren ersten Jahrgang als neue Leiterin des Forums. Christiane Peitz spricht im Tagesspiegel mit Ulrike Ottinger, die in diesem Jahr mit der Berlinale Kamera ausgezeichnet wird. Michael Pekler führt im Freitag durch die King-Vidor-Retrospektive.

Besprochen werden Marco Dutras Wettbewerbsfilm "Todos os Mortos" ("eine Art Gothic-Wesen aus der Unterwelt", schreibt Eva-Christina Meier in der taz, Perlentaucher), der Encounters-Eröffnungsfilm "Malmkrog" von Cristi Puiu (Perlentaucher, ZeitOnline), Luca Ferris "La Casa dell'amore" (Perlentaucher), Giorgio Dirittis im Wettbewerb gezeigte Künstlerbiografie "Hidden Away" (taz, unsere Kritik hier), Victor Kassakowskys im Encounters-Wettbewerb gezeigter Schweine-Film "Gunda" (FAZ, Tagesspiegel), Raul Ruiz' und Valeria Sarmientos Forums-Eröffnungsfilm "El tango del viudo y su espejo deformante" (Perlentaucher), "Persian Lessons" mit Lars Eidinger als Nazi (Tagesspiegel), Matteo Garrones "Pinocchio" mit Roberto Benigni (Tagesspiegel), Kitty Greens "The Assistant" über Machtmissbrauch in der Medienbranche (Tagesspiegel) und Bastian Günthers "One of these Days" (Tagesspiegel).

Außerdem: Der vierte Podcast von critic.de. Der Kritikerspiegel von critic.de. Die SMS von Cargo.