9punkt - Die Debattenrundschau

Der Hase bei einem Hunderennen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.04.2024. Die Hamas hat überhaupt kein Interesse daran, den Krieg zu beenden, denn "jeder tote Palästinenser, der blutend in die Kamera gehalten wird, bringt ordentlich Cash, das fröhlich in Katar ausgeben werden kann", erklärt Mirna Funk in der Welt. In der SZ streiten Gesine Schwan und Martin Schulze Wessel über die Russlandpolitik der SPD. Deutschland "ist ein manisch-depressiver Musterschüler, der es allen recht machen möchte", ruft der Spiegel jenen entgegen, die die deutsche Haltung gegenüber Israel kritisieren. Und im Tagesspiegel weiß Bénédicte Savoy, wie viel Raubkunst noch in deutschen Museen lagert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.04.2024 finden Sie hier

Politik

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All jene, die so inbrünstig Israel den Krieg in Gaza verteufeln, haben es immer noch nicht verstanden, seufzt Mirna Funk, die gerade das Buch "Von Juden lernen" veröffentlicht hat, in der Welt. Die Hamas hat überhaupt kein Interesse daran, den Krieg dort zu beenden, denn: "Jeder tote Palästinenser, der blutend in die Kamera gehalten wird, bringt ordentlich Cash, das fröhlich in Katar ausgeben werden kann." Nicht nur die absurden Forderungen, mit denen die Terrororganisation bisher jeden Deal über einen Waffenstillstand hat platzen lassen zeigen, dass die Palästinenser den Hamas-Millionären nicht egaler sein könnten: "Denn während die Gerechtigkeitskämpfer glauben, kurz vor der Befreiung Palästinas zu stehen, begreifen sie nicht, dass das Versprechen auf die Befreiung Palästinas für die Hamas nichts weiter als der Hase bei einem Hunderennen ist. Es ist der Köder, der Blinker - die Lüge. Denn würde es einen Staat geben, dann wäre Schluss mit High Life in Katar. Dann müsste richtig gearbeitet werden, dann flössen keine Hilfsgelder mehr und auch keine unterstützenden Milliarden vom Iran, um Unruhe in der Levante zu stiften und die arabischen Allianzen zu erschüttern und die arabischen Fehden zu untermauern."

Wütend verurteilt indes die israelische Journalistin Ofra Rudner in einem von der taz aus Le Monde diplomatique übernommenen Haaretz-Artikel Benjamin Netanjahu, der bis zum 7. Oktober die Illusion von einem israelischen "Empire" samt eigener "kleiner Kolonie" genährt habe, was von der liberalen Mehrheit und den Medien meist einfach hingenommen worden sei: "Nachdem die Illusion am 7. Oktober zerschmettert wurde, hofften einige von uns, dass man in Israel beginnen würde, der Realität ins Auge zu sehen. Doch stattdessen haben die Illusion und das falsche Bewusstsein nur eine andere Form angenommen, die militanter und gefährlicher ist: die Fantasie vom 'absoluten Sieg'. Und so werden wir zu Touristen, die einen Krieg, der uns zerstört, zum Anlass für Freizeitvergnügungen machen."

Zwischen dem 19. April und dem 4. Juni ist in Indien im Ausnahmezustand: Sechs Wochen lang werden knapp eine Milliarde Menschen das indische Parlament wählen, berichtet Martin Kämpchen, der in der FAZ erläutert, wie abhängig die Menschen in Indien vom Rückhalt einer Partei sind: "Die Partei ist die Zuflucht des einfachen Volkes, nachdem ihm die staatliche Verwaltung, die Polizei und die Gerichte kein Gehör schenken, auf es herabblicken oder sogar schikanieren." Sie haben "große Macht über die Einzelnen, weil sie sich überall direkt, ohne den offiziellen Weg zu wählen, helfend einmischen und Lobbyarbeit machen. Dass ein akut Kranker ein Bett in einem übervollen Krankenhaus bekommt, dafür sorgen die Parteileute. Sie verlangen, dass ein zusätzliches Bett auf dem Flur aufgestellt wird, und lassen es auch auf einen Streit ankommen. Dass ein Bauer, der von dem Großgrundbesitzer wegen eines Feldstücks, das er kaufen will, drangsaliert wird, zu seinem Recht kommt und das Feld nicht verkaufen muss oder dafür einen gerechten Preis bekommt, das besorgen die 'Jungs' der Partei. Dass die frei gewordene Lehrerstelle in einer Privatschule von einem Kandidaten ihrer Partei besetzt wird (ganz gleich, ob er oder sie qualifiziert ist), das überlässt man den Raufbolden der Partei. Sie schrecken nicht davor zurück, einzuschüchtern, Gewalt anzudrohen, Psychodruck aufzubauen."
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Europa

Im SZ-Interview mit Jens-Christian Rabe und Lothar Müller debattieren die SPD-Politikerin Gesine Schwan und der Osteuropa-Historiker Martin Schulze Wessel über die deutsche Haltung im Ukrainekrieg. Wenn man sich nicht dazu entscheide, die nötigen Waffen an die Ukraine zu liefern, damit diese die russischen Truppen aus ihrem Gebiet drängen kann, lasse man sie de facto "ausbluten", kritisiert Schulze-Wessel scharf: "Wenn man Russlands Aggression nicht entschieden entgegentritt, stachelt man den imperialen Ehrgeiz Putins an - über die Ukraine hinaus. Scholz geht den Weg eines trügerischen Mittelwegs. Besser wäre, die Ukraine so zu unterstützen, dass sie den Krieg gewinnen kann." Schwan sieht hier vielmehr taktische Klugheit: "Der Eindruck der Halbherzigkeit und des Hinterherhinkens entsteht nicht, weil sie nichts riskieren wollen, also weil sie es sich nicht mit Russland verderben wollen und Rücksicht nehmen auf innerparteiliche Strömungen. Der Eindruck entsteht, weil sie bei diesem Krieg mehr im Blick haben müssen als nur das Verhältnis der Ukraine zu Russland und Fragen des Waffennachschubs. … Konkret heißt das: Bei jeder Waffenlieferung muss mitüberlegt werden, ob sie eine nicht mehr steuerbare Eskalation des Krieges begünstigt oder nicht."

Vermittlungsgespräche mit Putin werden scheitern, bekräftigt Jean-Claude Juncker nochmal im FAZ-Gespräch mit Simon Strauss, in dem er ebenfalls die Defensivität von Olaf Scholz kritisiert: "Es wäre der EU zu raten, ihre Mitglieder zu bitten, nicht mit öffentlichen Vorschlägen vorzupreschen, die nicht mit den anderen Partnern in der Europäischen Union abgesprochen sind. Wer dies dennoch tut, der macht sich schuldig, ob bewusst oder unbewusst, das Spiel von Putin mitzuspielen. Ich bin der Auffassung, dass man in einem so zugespitzten Konflikt nie sagen sollte, was man nicht tut, weil das das Geschäft des Gegners, in diesem Fall Putin, vereinfacht. Ich bin aber auch dagegen, dass man europäische Soldaten in die Ukraine schickt. Dies würde einen Schaden provozieren, der lange anhalten könnte."
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Internet

China hat seine digitalen Desinformationskampagnen zunehmend perfektioniert, weiß Kira Kramer in der FAZ. Seit 2017 fluten chinesische Akteure das Internet bereits mit Fake-Inhalten, von westlichen Beobachtern wurde die Operation "Spamouflage" getauft. Im US-Wahlkampf wird jetzt eine neue Strategie erprobt, so Kramer. Die "Spamouflage"-Akteure geben sich als amerikanische Patrioten aus, mit Amerikaflagge und Wappenadler im Profil, dazu häufig echte Videos von Trump, wie er tanzt, wie er redet. Und auf einmal stehen die Fake-Konten nicht mehr am Rand, sondern im Zentrum der Debatten. Erstmals führen die Beiträge der vermeintlichen Trump-Anhänger dazu, dass andere Nutzer die Konten des 'Spamouflage'-Netzwerks ernst nehmen. Als Fake sind sie nicht mehr ohne Weiteres zu erkennen. Mitunter haben sie fünfstellige Followerzahlen und das Zehnfache an Interaktionen."
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Ideen

Wem ist "damit geholfen, wenn eine Künstlerin wie Laurie Anderson nicht nach Essen kommt? Wenn man Judith Butler nachträglich den Adorno-Preis aberkennt? Wenn Nancy Fraser ihre Vorträge nicht hält", fragt Tobias Rapp, der deutschen Kulturinstutionen im Spiegel in dieser Hinsicht Kleingeistigkeit vorwirft. Und dennoch ist all das Gerede von eingeschränkter Meinungsfreiheit in Deutschland falsch, meint er, vor allem wenn von ausländischen Zeitungen immer wieder nur in Berlin lebende Expats befragt werden, die kaum Deutsch reden und das Land nicht verstehen: "Nicht, wie das politische System funktioniert oder die künstlerischen Institutionen, die von diesem finanziert werden. Nicht, was in den deutschen Medien diskutiert wird, die ja vor allem auf Deutsch erscheinen. Aber eben auch nichts über die Mentalitäten im Land. Nichts über die fragile Identität der deutschen Juden, die Jahrzehnte im Schatten des Holocaust lebten und immer vor der Frage standen: 'Warum bin ich noch hier?' (…) Deutschland ist eben nicht wie andere Staaten und Berlin nicht wie andere Hauptstädte. Es ist ein manisch-depressiver Musterschüler, der es allen recht machen möchte, kein Leuchtturm der Freiheit, auch wenn das natürlich ebenfalls ein Anspruch ist, den man an sich selbst hat."

Weitere Artikel: In der taz berichtet Julia Hubernagel von der Pressekonferenz von "Die Vielen", dem bundesweiten Bündnis aus Kulturinstituten, das gegen Rechtsextremismus kämpfen will: "Einfacher sind die Zeiten in den vergangenen sieben Jahren nicht gerade geworden. Die Kulturszene ist zunehmend mit sich selbst beschäftigt, im Kontext des Kriegs in Gaza tun sich Gräben auf. Diese Differenzen gilt es wohl oder übel auszuhalten, soll dem Rechtspopulismus etwas entgegengehalten werden." Baha Kirlidokme meldet in der FR den Beginn des umstrittenen Palästina-Kongress in Berlin (unser Resümee) und fasst die verschiedenen Positionen zusammen.
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Kulturpolitik

Beim Thema Restitution von Raubkunst gab es in Deutschland zum einen ein zeitlich bedingtes, "natürliches Vergessen", erklärt die  Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy im Tagesspiegel-Interview mit Nicola Kuhn, zum anderen eine "gewollte Amnesie". Zusammen mit ihrem Kollegen Albert Gouaffo aus Kamerun fand Savoy heraus, dass sich an die 40.000 Kulturgüter in deutschen Museen befinden - die Ergebnisse ihrer Forschung veröffentlichten sie in einem "Atlas der Abwesenheit" (hier frei verfügbar), der letztes Jahr große Wellen schlug (Unser Resümee). Savoy begrüßt, dass die Restitution der Raubgüter und die Aufarbeitung der Kolonialverbrechen mittlerweile in der öffentlichen Debatte angekommen sind ("Noch vor sieben Jahren nannte die Stiftung Preußischer Kulturbesitz den deutschen Kolonialismus eine Sommerloch-Debatte"). Die oft geäußerte Befürchtung, die deutschen Museen könnten sich leeren, hält sie für Unsinn: "Sollten von den 40.000 kamerunischen Kulturgütern in Deutschland 5000 zurückgehen, blieben 35.000 - immer noch genug. Viele Staaten und communities wollen nur zurück, was ihnen historisch wichtig ist. Ich bin unbesorgt. Das größte Beispiel für eine Restitution war 1815, als Napoleon besiegt wurde. Der Louvre musste alles zurückgeben, was Frankreich in Preußen, Österreich, Italien, Flandern, den Niederlanden sich angeeignet hatte. Den Louvre gibt es immer noch. Als diese Schätze weg waren, kamen andere Sammlungsgebiete: Ägypten, Mesoamerika, Mesopotamien. Museen sind lebende, hungrige Organismen."
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Gesellschaft

Die Sozialarbeiterin und Leiterin staatlich anerkannte Beratungsstelle für Schwangerschaftsfragen im Evangelischen Beratungszentrum in München Sabine Simon gibt im SZ-Interview mit Elisa Britzelmeier ihre Einschätzung über die Folgen der möglichen Legalisierung von Abtreibungen. Vor allem hängen die Auswirkungen davon ab, so Simon, ob damit auch die Beratungspflicht für Schwangere, die abtreiben wollen, wegfällt (unser Resümee). Organisationen wie pro familia fordern das, Simon sieht es etwas anders: "Wir machen seit Jahren die Erfahrung, dass die meisten Frauen die Beratung als letztlich hilfreich erleben. Zu uns kommen etwa viele Frauen, die erst seit Kurzem in Deutschland sind und teils gar nicht wissen, wie das mit Mutterschutz und Elternzeit funktioniert oder welche finanziellen Hilfen ihnen zustehen. Mit diesem Wissen können sie dann aber eine informierte Entscheidung treffen. Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass die meisten Frauen ohne diese Verpflichtung nicht zur Beratung gegangen wären. Ob diese Erfahrung dazu berechtigt, Frauen weiterhin eine Beratungspflicht aufzuerlegen, dazu gibt es bei den verschiedenen Trägern unterschiedliche Haltungen."
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Stichwörter: Abtreibung