9punkt - Die Debattenrundschau

Wie bewahren wir in so einer Zeit Menschlichkeit?

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.04.2024. Antisemitismus ist ihnen nicht neu, aber die Erfahrung, von der universellen Gültigkeit der Menschenrechte ausgeschlossen zu werden, machen sie erst seit dem 7. Oktober, sagen Ofer Waldman und Sasha Marianna Salzmann im Tagesspiegel. Schon die junge Bundesrepublik machte Geschäfte mit Diktaturen, erinnert der Historiker Frank Bösch in der FR. Im taz-Gespräch wirft Nancy Fraser der Uni Köln Verleumdung vor. Nach einem 600-seitigen Expertenbericht hofft die taz auf Streichung von Paragraf 218. Und die FAZ weiß, was unter der neuen rechten slowakischen Kulturministerin Martina Šimkovičová blüht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.04.2024 finden Sie hier

Politik

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Im Tagesspiegel unterhalten sich Ofer Waldman und Sasha Marianna Salzmann mit Christiane Peitz über die permanente Ausnahmesituation, in der sie sich seit dem 7. Oktober befinden. Ihr Buch "Gleichzeit", in dem sie ihren Briefwechsel veröffentlichen, ist eine "Absage ans Rechthaben", sagt Salzmann, ein Versuch, aus dem Kreislauf der Polarisierung heraus zu treten. Geschockt waren beide über die Reaktionen, denen sie sich in der Zeit nach dem Hamas-Massaker ausgesetzt sahen, wie Salzmann erklärt: "Mich hat anfangs vor allem die Kaltblütigkeit erschreckt, mit der das Massaker sofort analysiert, relativiert und beurteilt wurde. Sofort wurde vergewaltigten Frauen ihre Erfahrung abgesprochen - weil sie Jüdinnen sind. Das sind Erfahrungen, die unsere Art, die Welt wahrzunehmen, für immer prägen werden. Wie bewahren wir in so einer Zeit Menschlichkeit? Durch Anhalten. Nachdenken."  Waldman ergänzt: "Ich kenne antisemitische Anfeindungen aus meiner Zeit in einem deutschen Orchester. Da sagte mir ein Kollege ins Gesicht, 'die Juden' schadeten dem Orchester. Ich dachte nur: Alter, aus welcher Museumsvitrine kommst du denn? Aber die Erfahrung, von der universellen Gültigkeit der Menschenrechte ausgeschlossen zu werden, weil ich Jude bin, habe ich vor dem 7. Oktober noch nie gemacht."


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Der Historiker Frank Bösch erklärt im FR-Gespräch, warum die junge Bundesrepublik mit Diktaturen wie dem Iran oder Spanien kooperierte. Die BRD wollte sich in der Weltgemeinschaft etablieren, so Bösch, der ein Buch zum Thema geschrieben hat, gleichzeitig suchte sie gezielt den Kontakt zu Ländern, die die DDR nicht als Staat anerkannten. Als sich kritische Stimmen erhoben, setzte die Adenauer-Regierung auf repressive Mittel, so Bösch: "In den 1960er Jahren nahm die Kritik zu, auch bedingt durch eine generelle kritische, investigative Wende im Journalismus. Er richtete sich gegen autoritäre Regime, motiviert auch durch die Proteste von Migrantinnen und Migranten aus diesen autokratisch regierten Ländern. Sie demonstrierten zunehmend seit den 1960er Jahren, etwa Gastarbeiter:innen aus Franco-Spanien oder Griechenland oder aus dem Iran. ...Tatsächlich zeigt sich, dass die Regierung Adenauer, aber auch ihre Nachfolger, Journalistinnen und Journalisten gezielt unter Druck setzten, nicht kritisch zu berichten. Dies geschah teils sogar auf Forderung Irans durch juristische Schritte und polizeiliche Durchsuchungen. Zudem gab es eine gezielte Verfolgung von protestierenden Migrantinnen und Migranten, bis hin zur Abschiebung, sofern es sich um sozialistische, protestierende Migrantinnen und Migranten handelte."

Ronen Steinke berichtet für die SZ aus Den Haag, wo im Eilverfahren darüber entschieden werden soll, ob Deutschland weiter Waffen an Israel liefern darf. Interessant, meint Steinke, Deutschland zählt zu den größten Waffenexporteuren der Welt, geklagt hat bisher niemand: "Nicht, als Deutschland im Jahr 2021 Rüstungsgüter im Wert von vier Milliarden Euro an Ägypten genehmigte - an eine Militärdiktatur immerhin, die schon damals der von Saudi-Arabien angeführten Kriegskoalition in Jemen angehörte. In einem Krieg, der nach Einschätzung der Vereinten Nationen eine der größten humanitären Katastrophen der Gegenwart ausgelöst hatte. Mehr als 10 000 arabische Zivilisten, größtenteils Kinder, waren darin schon ums Leben gekommen, das Land war abgeriegelt und hungerte - und noch heute, 2024, bombardieren Saudi-Arabien und seine Verbündeten, die es offiziell nur auf die Islamistengruppe der Huthi abgesehen hatten, Krankenhäuser, Schulen, Häuser. Zum Vergleich: Die Waffenlieferungen an Israel beliefen sich im vergangenen Jahr auf 326,5 Millionen Euro. Das ist zwar mehr als in anderen Jahren, aber es ist eine Summe, über die man in Saudi-Arabien lange nur müde gelächelt hätte..."
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Ideen

Das Existenzrecht Israels stelle weder sie noch die anderen Unterzeichner des Manifests "Philosophy for Palestine" in Frage, sagt Nancy Fraser heute im taz-Gespräch mit Daniel Bax: "Ich und die rund vierhundert Menschen, die diese Erklärung unterschrieben haben, werden durch solche Behauptungen verleumdet. Der Rektor und die Kräfte innerhalb der deutschen Regierung, die ihn unterstützen, sollten mit ihren Falschdarstellungen des Briefs konfrontiert werden und für diese Verzerrungen zur Rechenschaft gezogen werden. Der Kölner Rektor ist übrigens auch der Präsident des DAAD, der den gesamten Austausch der deutschen Wissenschaft mit internationalen Wissenschaftlern und Studenten organisiert. Wenn es für Stipendien und andere Formen des akademischen Austauschs jetzt diese Art von McCarthy-haften Anforderungen geben sollte, wäre das sehr beunruhigend."

Für die taz-Nahaufnahme hat Bax sich außerdem mit in Berlin lebenden palästinensischen Kulturschaffenden getroffen, die über Rassismus und Ausgrenzung klagen, darunter der Buchhändler und Filmfestival-Organisator Fadi Abdelnour, der meint "bei den großen Kulturinstitutionen herrsche Verunsicherung und Angst (…) Es gab eine Welle von Absagen aufgrund von 'Antisemitismus'-Vorwürfen, auch gegen jüdische Künstler. Palästinensische Stimmen würden kaum noch auf ein Podium geladen. Wenn es Veranstaltungen und Podiumsgespräche gibt, dann meist in unabhängigen Hinterhofkinos, in linken Treffpunkten oder akademischen Hinterzimmern. 'Wer weltoffen denken möchte, für den wird der Raum immer kleiner', sagt Fadi Abdelnour. Man müsse vorsichtig sein, um nicht anzuecken."

Weitere Artikel: Omri Boehm versucht in seinem Buch "Radikaler Universalismus" die Idee des Universalismus aus der Bibel abzuleiten, indem er den von Gott gesandten Engel aus der Geschichte Abrahams, der gerade seinen Sohn opfern will, eliminiert und die angebliche Verweigerung der Opferung durch Abraham zur Urtat des Universalismus machte. In der SZ fühlte sich Gustav Seibt kürzlich an Thomas Manns Roman "Joseph und seine Brüder" erinnert, der die gleiche Szene reflektiert (Unser Resümee). Zur Erweiterung von Seibts "berührendem mythengeschichtlichen Exkurs" empfiehlt Thomas Wagner auf den Geisteswissenschaftenseiten der FAZ heute Rüdiger Haudes "Als Adam grub und Eva spann" sowie Jan Assmanns Buch "Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Ägypten, Israel und Europa" und Ton Veerkamps "Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung". Sehr wortreich denkt Dietmar Dath im Aufmacher des FAZ-Feuilletons mit Goethe und Maxwell über die Zukunft der KI nicht nur im Bereich der Chemie nach.
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Kulturpolitik

Mit Martina Šimkovičová hat die ultrarechte Nationalpartei (SNS) eine besonders honorige Person zur neuen slowakischen Kulturministerin ernannt, berichtet Yelizaveta Landenberger in der FAZ. Wegen Hassposts zu Migranten vom slowakischen Privatsender Markíza entlassen, verbreitet sie auf ihrem eigenen Internet-Desinformationssender Verschwörungstheorien und bekannte auf Facebook, sie wolle "der größte Homophob der Slowakei werden". Ihre Umstrukturierungen lassen entsprechend nichts Gutes erahnen: Sie will etwa den öffentlich-rechtlichen Rundfunk RTVS zugunsten einer Art Staatsfernsehen auflösen und Direktoren staatlicher Galerien ohne Angabe von Gründen entlassen können, berichtet Landenberger. "Auch die Vergabe von Fördermitteln (...) möchte Šimkovičová kontrollieren. De facto würde das ein Aus für aus öffentlichen Mitteln finanzierte Kulturzentren bedeuten, die ein für die ultrarechte Ministerin politisch unliebsames Profil aufweisen. Zuvor hob Šimkovičová schon das infolge des Angriffskriegs gegen die Ukraine eingeführte Kooperationsverbot mit russischen und belarussischen Institutionen auf. Šimkovičová selbst bezeichnet ihre Linie als 'Rückkehr zur Normalität'. 'Die LGBT-Organisationen werden nicht länger vom Geld der Kulturabteilung parasitieren', schrieb sie in einem offiziellen Post auf Facebook."
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Gesellschaft

Für die taz haben Patricia Hecht und Dinah Riese den 600seitigen Bericht der 18köpfigen von der Bundesregierung eingesetzten "Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin" gesichtet, der sich mit der Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, Eizellenspende und altruistischer Leihmutterschaft beschäftigt und zu dem Schluss kommt: "Nach verfassungs-, völker- und europarechtlicher Prüfung sei die grundsätzliche Rechtswidrigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen 'nicht haltbar'". Bahnbrechend, so Hecht und Riese, sei, dass "zum ersten Mal hierzulande eine ernsthafte Abwägung der Grundrechte der Schwangeren und der Rechte eines Embryos vorgenommen wird. Ein Zwang zur Fortsetzung einer noch frühen Schwangerschaft stelle einen 'nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Grundrechte der Frau dar'. Je kürzer die Schwangerschaft bestehe, desto eher sei ein Schwangerschaftsabbruch zulässig. In den ersten drei Monate sollen Abbrüche demnach legal sein - offen lassen die Sachverständigen aber, ob das über weitreichende Ausnahmen im Strafrecht geregelt oder ob der Paragraf 218 ganz aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden sollte. In dem Fall könnte er durch ein eigenes Gesetz für reproduktive Rechte ersetzt werden."

"Das ist ein historischer Moment", sagt Alicia Baier, Ärztin und Mitbegründerin des Vereins Doctors for Choice Germany im taz-Gespräch. Die Umsetzung "würde bedeuten, dass wir Menschen- und Frauenrechte in Deutschland endlich achten. Nicht umsonst wurde die Bundesrepublik für ihre restriktive Rechtslage von der UN-Frauenrechtskonvention gerügt. Eine weitreichende Umsetzung würde Abbrüche endlich als das anerkennen, was sie sind: als wichtige medizinische Leistung statt als Straftat. Und es würde eine gute und gerechte Versorgung möglich, nicht zuletzt, indem der Eingriff Kassenleistung wird."
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Geschichte

Vergangene Woche hatte der Althistoriker Mischa Meier in der FAZ Putin mit dem Hunnenfürsten Attila verglichen, um vor Appeasement zu warnen (Unser Resümee). So ein Vergleich ist wenig zielführend, konstatiert heute ebenfalls in der FAZ der Althistoriker Hartwin Brandt: "Die Hunnen im fünften Jahrhundert waren, wie Meier selbst richtig herausstellt, ein labiles und dynamisches Gebilde; ihr Name bezeichnet eine nicht fest ansässige, auf kurzfristige Bereicherung ausgerichteten, nicht mit einem staatlich-institutionellen Unterbau versehene 'Kriegerkoalition'. Theodosius II. schließlich war nach allem, was wir wissen, ein schwacher, von einflussreichen Personen am Hof gelenkter Kaiser, dessen 'Herrschaft' über ein ohnehin von Desintegrationsprozessen gebeuteltes Restreich vor allem von notorischen innerrömischen Auseinandersetzungen um Religionsfragen geprägt war. Wie gering und oberflächlich die Parallelen zu den heutigen Verhältnissen und hier in Rede stehenden, fürchterlichen Ereignissen in Osteuropa ausfallen, liegt auf der Hand. Die verhängnisvollen Auswirkungen einer Appeasement-Politik lassen sich gewiss eindrücklicher von neu- und zeithistorischer Seite erhellen, wie der aufsehenerregende Brief von Historikerinnen und Historikern mit SPD-Parteibuch an den SPD-Parteivorstand (...) gezeigt hat."

Bei geschichtedergegenwart.ch beleuchtet der Historiker Florian Wagner mit Blick auf die "Remigrationspläne" der AfD die historische Symbiose zwischen rechtem Denken und einer aktualisierten Form von Siedlungskolonialismus: Die Vorstellung von Rassentrennung taucht in rechten Ideologien verklausuliert unter dem Begriff des "Ethnopluralismus" auf, erklärt er: "Dieser Siedlungskolonialismus ist genauso völkisch-rassistisch wie es der Nationalsozialismus war. Er propagiert und praktiziert das Weißsein als einzig erhaltenswerte Lebensform, die vor Nicht-Weißen getrennt oder 'segregiert' werden müsse und dürfe, um die Kontamination und potenzielle Degeneration der weißen Rasse zu vermeiden. Diese zutiefst kolonialrassistische Weltsicht gilt nicht nur Rechtsextremen als normal, sondern auch vielen moderateren Unterstützer:innen eines 'Ethnopluralismus'. Auch darum bestand die Hoffnung unter Rechtsextremen, dass ihr Remigrationsplan in der deutschen Gesellschaft konsensfähiger war als eine direkte Bezugnahme auf die nationalsozialistischen Deportationen."

Matthias Heine zeichnet in der Welt die Geschichte der deutschen Rechtschreibreform nach und erinnert daran, dass diese ihre Ursprünge bei den Nazis hatte. Mehrere Anläufe gab es im Dritten Reich, die Sprache zu modifizieren, so Heine, bis die Reform angesichts der sich verschlechternden Kriegslage als nicht "kriegswichtig" eingestuft und fallen gelassen wurde. Mit Hitlers Tod war die Geschichte allerdings nicht beendet, erfahren wir von Heine: "Anfang der Fünfzigerjahre kamen die alten Bekannten in einer 'Arbeitsgemeinschaft für Sprachpflege' 1954 zusammen. ... Die Reformvorschläge, die die Wissenschaftler nun in einer gemeinsamen 'Stuttgarter Erklärung' formulierten, griffen die Ideen von damals wieder auf. Mit der Erklärung beginnt die Vorgeschichte der Rechtschreibreform von 1996 offiziell. Dass sie schon 1933-1945 begann, wurde von den Reformern 1996 gerne verschwiegen und jede Erinnerung daran - etwa durch den Historiker Christian Meier, damals Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung - als skandalöser Nazivergleich abgetan."
Archiv: Geschichte

Medien

Die vom SWR entlassene Moderatorin Helen Fares (unser Resümee) hat auf Instagram ein Statement zu ihrer Kündigung abgegeben, so Susanne Lenz in der Berliner Zeitung, in dem sie behauptet, der Grund für ihre Kündigung seien rechte Stimmen beim Sender. Sie verteidigt ihre Haltung zu Israel und ihre Nutzung der App "No Thanks": "Eines wolle sie klarstellen: 'Wir sind nicht antisemitisch, weil wir Produkte boykottieren, mit denen ein Land unterstützt wird, das sich vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Völkermords verantworten muss', sagt Helen Fares. Israel habe in Gaza Zehntausende 'abgeschlachtet'. Dass Hamas-Terroristen Israelis vergewaltigt und brutal ermordet haben, davon ist bei ihr nicht die Rede. Sie verteidigt den Boykott als übliche Protestform."
Archiv: Medien
Stichwörter: Hamas