9punkt - Die Debattenrundschau

Und hier hast du übrigens einen Widder

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.03.2024. Im Spiegel hofft Fania Oz-Salzberger, dass irgendwann nach dem Krieg und nach dem Sieg über die Hamas und nach Netanjahu eine Zweistaatenlösung zustande kommt. In der SZ unterhalten sich Sasha Marianna Salzmann und Ofer Waldman über die "Gleichzeit", die am 7. Oktober ausbrach. In der FAZ verzweifelt Martin Schulze Wessel über die Geschichtsversionen von SPD-Politikern. In der taz erklärt Catherine Belton, wie der Westen Putin besiegen kann. Und in der Welt zeigt Donald Tusk auf ein Ferienfoto vom 31. August 1939.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.03.2024 finden Sie hier

Politik

Im Gespäch mit Juliane von Mittelstaedt vom Spiegel hofft die israelische Historikerin Fania Oz-Salzberger, dass die Israelis es bald schaffen, Benjamin Netanjahu loszuwerden, dem sie vorwirft, den Krieg brutal zu führen und vor allem in die Länge zu ziehen, um an der Macht zu bleiben. Klar macht sie allerdings auch: "Ich glaube fest daran, dass die Hamas besiegt werden muss. Sie muss unsere Geiseln freilassen." Danach hofft sie auf einen Modus Vivendi mit den Palästinensern in einer Zweistaatenlösung. Denn "der Traum von einem glücklichen jüdisch-arabischen Staat" werde nicht wahr werden" und "ich möchte daher an dieser Stelle deutlich sagen: Ich werde kein Mitbürger der Menschen aus Gaza sein, die das Massaker verübt oder es bejubelt haben. Auch nicht ihr freundlicher Nachbar. Meine Hoffnung - denn ich habe Hoffnung - ist es, ein unfreundlicher, aber friedlicher Nachbar eines zukünftigen Palästinas zu sein."

Oz-Salzberger setzt ihre Hoffnungen in gemäßigte Politiker wie Naftali Bennett. Dieser wendet sich auf Twitter an alle, die Israel als den Kriegstreiber sehen: "Die israelische Armee ist eine Bürgerarmee. Es sind unsere Jungen und Mädchen, die dort dienen. Sie können ein CEO, ein Lehrer oder ein Klempner sein, Ihre Kinder werden Seite an Seite dienen. ... Das bedeutet, dass wir den Krieg hassen. Es sind nicht 'die Kinder von anderen'. Es sind unsere." An die Adresse der westlichen Länder sagt Bennett. "Freunde, lasst mich deutlich sagen: In diesem Moment verfolgen radikal-islamische Terroristen in Madrid, New York, Paris und London diesen Krieg. Wenn Israel daran gehindert wird, die Hamas zu besiegen, wird sich jeder einzelne von ihnen inspiriert fühlen. Wenn wir die Hamas zerschlagen, werden auch ihre Hoffnungen auf Terror zunichte gemacht. Dann werdet auch ihr sicherer sein."

Kann man tatsächlich die Behauptungen Israels anzweifeln, dass die UNRWA mit der Hamas engstens verquickt ist? Wohl kaum, meint Stephan-Andreas Casdorff im Tagesspiegel: "Die vielen Computer, die beim Vormarsch in Gaza gesichert wurden, die Dateien, die Karten, die Akten, von Waffen dieses eine Mal nicht weiterzureden - wer behauptet, dass diese manipuliert worden sind, kann schnell der Lüge überführt werden. Die Unterlagen lügen nicht. Dass Schulleiter der UNRWA mit dem jüngsten Terror verbunden waren; dass 15 Mitarbeiter unter den Kommandeuren waren, die das große Töten in Israel befehligten; dass viele der Schulen mit terroristischer Infrastruktur verbunden waren, über und unter der Erde - bedeutet das gar nichts? Ist das verzeihlich? Kann das passieren?"
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Ideen

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Die Autorin Sasha Marianna Salzmann und Ofer Waldman, einst Hornist in Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra, legen in den nächsten Tagen bei Suhrkamp einen Briefwechsel vor, der den 7. Oktober reflektiert, Titel: "Gleichzeit". Sie schreibt aus Berlin, er aus Jerusalem. Lothar Müller befragt die beiden für die SZ. Den Titel erklärt Waldman mit einem Zusammenstürzen der Zeitebenen: "Allein das Aussprechen des Wortes 'Pogrom' als Bezeichnung für ein Geschehen, das auf souveränem israelischen Gebiet geschehen ist, dem man aber ohnmächtig gegenüberstand, war ein Aufbrechen der bis dahin klaren generationellen Schichtung: erste Generation, zweite Generation, dritte Generation. Ich bin Ende der Siebzigerjahre geboren, in einem selbstsicheren, sehr mächtigen israelischen Staat." Für Salzmann manifestiert sich "Gleichzeit" auch im Gespräch mit der arabischen Seite: "Was uns jenseits aller nationalen und religiösen Zuschreibungen verbindet, das ist der Schmerz, ist die Trauer um eine Welt, die vorbei ist. Auch die Wut kann ein verbindendes Element sein."

Der Historiker Urs Lindner, zur Zeit Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, verspricht in der taz "Wege aus der Dichotomie" im Historikerstreit 2.0 und im Streit um Antisemitismus. Alles ganz einfach, findet er, man muss nur akzeptieren, dass Antisemitismus ein Extremfall des Rassismus und die Schoa ein Extremfall genozidaler Verbrechen ist, schon wird aus der Position der Postkolonialisten Dirk Moses und Jürgen Zimmerer die Kompromissposition! In den letzten dreißig Jahren hätten sich "Shoah-Historiografie, die (nichtdeutsche) Singularitätsdiskussion wie auch die Globalisierung der Shoah-Erinnerung allesamt in Richtung Extremfallkonzeption bewegt. Kaum jemand in diesen Bereichen bestreitet mehr, dass die Shoah substanziell ein Genozid war - also ein Exemplar einer übergeordneten Kategorie. Als singulär kann sie damit nur noch im Sinne des Extremfalls aufgefasst werden."

Kritik an Antisemitismus ist im Grunde schon seit Jahrzehnten eine vom Rechtsextremismus gekaperte Aktivität, findet der Politologe Cas Mudde in einem längeren Twitter-Thread, der sich ein bisschen verschwörungstheoretisch liest: "Im Westeuropa der Nachkriegszeit, das durch den Holocaust und immer noch stark kolonial geprägt war, wurde Antisemitismus zum wichtigsten (einzigen) Indikator für Rassismus im Allgemeinen und für die extreme Rechte im Besonderen. Rechtsextreme Parteien in Westeuropa verstanden dies schnell und hielten sich sowohl vom Antisemitismus als auch vom Antizionismus (zumindest offiziell) fern. In der 'dritten Phase' (1980-2000) ... entwickelten mehrere Parteien eine pro-jüdische oder pro-Israel-Position, die manchmal sogar mit dem Philo-Semitismus kokettierte (welcher oft antisemitische Tropen enthält). Im Zuge der weit verbreiteten islamfeindlichen Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 begannen sich Antisemitismus und Islamophobie deutlich zu überschneiden."

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Omri Boehm (dem Oz-Salzberger oben, ohne ihn zu nennen, seine Einstaaten-Flause aus dem Kopf schlägt) versucht in seinem viel gefeierten Buch "Radikaler Universalismus" die Idee des Univeralismus ausgerechnet aus der Bibel abzuleiten. Er eliminiert den Gott gesandten Engel aus der Geschichte Abrahams, der gerade nolens volens seinen Sohn opfern will und macht die angebliche Verweigerung der Opferung durch Abraham zur Urtat des Universalismus. In der SZ fühlt sich Gustav Seibt an Thomas Manns Roman "Joseph und seine Brüder" erinnert, der die gleiche Szene reflektiert. Mann fasse die Prüfung Abrahams auch als eine Prüfung Gotts auf, nämlich zur Frage, "ob dieser Gott ein Moloch sei, 'Melech, der Baale Stierkönig', dem nach Menschenopfern verlange. 'Nein', spricht dieser Gott... 'was ich befahl, habe ich nicht befohlen, auf dass du es tuest, sondern auf dass du es nicht tun sollst, weil es schlechthin ein Greuel ist vor meinem Angesicht, und hier hast du übrigens einen Widder.'"

Außerdem: Andrian Kreye schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman. Und Jan Philipp Reemtsma erklärt im Spiegel-Gespräch, warum sein Hamburger Institut für Sozialforschung mit ihm enden soll.
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Europa

Catherine Belton, Autorin eines der wichtigsten Bücher über Putin und seine westlichen Helfershelfer, lobt im Gespräch mit Jens Uthoff von der taz die Entschlossenheit der EU gegenüber Putin ("abgesehen von ein paar Ausrutschern des Bundeskanzlers Olaf Scholz"). Auf die Frage, ob sie eine Niederlage Putins für denkbar hält, antwortet sie: "Das kommt darauf an, wie man Niederlage definiert. Es gab einen Punkt vor etwas einem Jahr, als Putins Thron gewackelt hat, als Russland militärisch schwach war und Jewgeni Prigoschin einen Putsch plante. Es besteht immer noch die Möglichkeit, Russland derart militärisch zu schwächen. Aber nur wenn der Westen die Kurve kriegt und die Ukraine in die Lage versetzt, sich nicht nur selbst zu verteidigen, sondern tatsächlich einen bedeutenden militärischen Angriff an der Frontlinie zu starten. Die Frontlinie ist aber über tausend Kilometer lang... Der Westen muss umdenken, die Waffenindustrie muss mehr produzieren."

Neulich hat der renommierte SPD-Außenpolitiker Michael Roth, einer der wenigen Putin-Kritiker in der Partei, seinen Rückzug aus der Politik angekündigt - er folgt damit anderen Außenpolitikern der SPD, der so langsam die letzten Reste von Expertise abhanden kommen, fürchtet der Historiker Martin Schulze Wessel in der FAZ. Beispiel: Martin Schulz, Ex-Kanzler-Kandidat der SPD, der jetzt bei der Friedrich-Ebert-Stiftung sein Gnadenbrot verdient. Er hat dem ukrainischen Präsidenten in Zeit online vorgeworfen, dieser habe das Minsker Abkommen sabotiert. "Das Gegenteil ist der Fall. Tatsächlich war Selenski im Wahlkampf im Frühjahr 2019 Befürworter einer Verständigung mit Russland. Als Präsident war er bereit, für Frieden in der Ostukraine schmerzhafte Kompromisse mit Russland einzugehen, bis er bei dem Gipfeltreffen im Elysée-Palast im Dezember 2019 auf den unbedingten Machtwillen Putins stieß. Fälschlich zu behaupten, Selenski sei der erklärte Gegner der Vereinbarungen von Minsk gewesen, ist keine Petitesse. Es stellt die Genealogie des aktuellen Kriegs auf den Kopf."

"Wir müssen uns daran gewöhnen, dass eine neue Ära begonnen hat, die Vorkriegszeit" warnt der polnische Premier Donald Tusk im Gespräch mit der Welt am Sonntag. Ihm geht ein Bild nicht aus dem Kopf: "Ich erinnere mich an ein Foto aus meiner Kindheit, das im Haus meiner Familie hing. Es zeigte den Strand von Sopot voller lachender Menschen. Aufgenommen wurde es am 31. August 1939 - ein paar Stunden später begann fünf Kilometer entfernt der Zweite Weltkrieg. Ich weiß, es klingt niederschmetternd, vor allem für die jüngere Generation."

In der Türkei sind morgen Kommunalwahlen. Unter anderem wird die wichtige Frage entschieden, wer Bürgermeister von Istanbul sein wird. Für Erdogan ist diese Wahl entscheidend, schreibt Bülent Mümay in seiner FAZ-Kolumne. "Umfragen zum Wahlergebnis in Istanbul weisen darauf hin, dass es für Erdogan nicht nach Wunsch läuft. Obwohl er das gesamte Kabinett zum Wahlkampf nach Istanbul geschickt und sämtliche Ressourcen des Staates mobil gemacht hat, sieht es nicht danach aus, dass der AKP-Kandidat, ein Mann aus der Verwaltung, Ekrem Imamoglu besiegen kann."
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Religion

Die Menschenrechtsaktivistin Sara Khan hat im Auftrag der britischen Regierung einen Bericht über "Threats to Social Cohesion" vorgelegt (hier als pdf-Dokument). Darin spricht sie auch den Druck an, der von Islamisten ausgeübt wird. Dieser Druck ist auch in Großbritannien gewaltig, notiert Nick Cohen in seinem Blog, auch wenn er viel weniger thematisiert werde als in Frankreich. Cohen erzählt die von Khan aufgearbeitete Geschichte eines Lehrers, der in einer Stunde über Religionsfreiheit ein Bild (keineswegs eine Karikatur) Mohammeds zeigte, zusammen mit Bildern von Jesus Christus und Moses. Er bekam den üblichen Ärger, musste die Schule und die Stadt verlassen. "Das Gymnasium und die Behörden weigerten sich, die Drohungen gegen den Lehrer als einen Angriff auf die Grundsätze einer freien Gesellschaft zu werten. Anstatt ihn zu verteidigen, suspendierte die Schule ihn und sagte, er dürfe auf keinen Fall mit seinen Kollegen sprechen. Damit nicht genug, wurden zwei weitere Lehrer suspendiert, die dieselbe Schulstunde unterrichtet hatten. Tracy Brabin, die damalige Labour-Abgeordnete für Batley und Spen, gab eine Erklärung ab, in der sie sich weder um die Sicherheit des Lehrers noch um seine Werte scherte. 'Die Verärgerung und Beleidigung, die sein Verhalten hervorgerufen hat, sind verständlich, aber sie waren auch vorhersehbar. Ich freue mich, dass die Schule eingesehen hat, wie unangemessen dies war und sich für die Beleidigung entschuldigte.'"
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Geschichte

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Katja Hoyer hat letztes Jahr mit ihrem Buch "Diesseits der Mauer" eine große Debatte ausgelöst. Manche Milieus im westlichen Ausland hatten schon in der Mauerzeit die These gern gehört, dass die DDR das "bessere Deutschland" sei. Hoyer stieß mit ihrer Verteidigung der gar nicht so schlechten Lebenswelt der DDR zuerst in Großbritannien, dann auch hierzulande auf große Begeisterung, nur in der Kritik nicht. Das schmerzt sie immer noch, wie sie im Gespräch mit Wiebke Hollersen und Anja Reich von der Berliner Zeitung darlegt. Für sie gibt es sogar so etwas wie eine "Cancel Culture": "Ich habe mehrere Kollegen kennengelernt, Deutsche, die zur DDR forschen, aber dafür bewusst nach England oder in die USA gegangen sind. Ihnen wurde an Universitäten in Deutschland geraten, dass sie in einem weniger politisch aufgeladenen Umfeld freier arbeiten können. Da hängen keine Erwartungen an den Forschungsmöglichkeiten. "
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