9punkt - Die Debattenrundschau

Wenn es Krieg gibt, na gut

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.01.2024. Die Historikerin Fania Oz-Salzberger erklärt in der Zeit, wie schwer es ist, eine linke Israelin zu sein - vor allem angesichts einer "westlichen Linken, die uns verraten hat". Der Völkermord an den Herero wurde von deutschen Siedlern nach Kräften unterstützt, sagt der Historiker Matthias Häussler der SZ. Der 7. Oktober muss auch in Deutschland ein Weckruf sein, fordert Ahmad Mansour im Focus: Schluss mit dem "Rassismus der niedrigen Erwartungen". Die Tage der Demokratie sind aber ohnehin gezählt, meint Emmanuel Carrère in der NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.01.2024 finden Sie hier

Medien

Holger Stark, der als Spiegel-Redakteur 2010 mit dem Wikileaks-Gründer Julian Assange zusammengearbeitet hatte, alarmiert in der Zeit, dass Assange nun nach einem letzten Gerichtstermin in London Ende Februar in die USA ausgeliefert werden könnte, wo ihm eine langjährige Gefängnsstrafe droht: "Woher kommt dieser Zerstörungswille? Und wo bleibt der öffentliche Aufschrei, der angesichts der brachialen Verfolgung angemessen wäre?" Und "Warum also wird Assange für etwas ins Gefängnis geworfen, wofür man Journalisten mit Preisen auszeichnet?"

Die britische Zeitung The Daily Telegraph könnte bald dem Vizepräsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate, Abu Dhabis Scheich Mansour bin Zayed Al-Nahyan, gehören, schreibt Daniel Zylbersztajn-Lewandowski in der taz. Die bisherigen Inhaber, die Familie Barclay, konnte einen Schuldenberg von 1,4 Milliarden Euro nicht tilgen, wozu sich die neuen Besitzer bereiterklärten, was aber nicht ausreichen könnte: "Das liegt an kritischen Stimmen aus den Reihen konservativer Politiker:innen, die sich gemeinsam in einem offenen Brief gegen die Übernahme durch einen anderen Staat aussprachen. Der lauteste unter ihnen war der ehemalige Tory-Chef Iain Duncan Smith. In einem Meinungsstück im Daily Telegraph selbst sprach er von potenziellen Risiken, etwa möglichem Einfluss von China oder Russland auf Abu Dhabi. Gerade in einer Zeit der Beeinflussungsversuche in den sozialen Medien sei die Unabhängigkeit des Daily Telegraph wichtig."
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Politik

Zu den Opfern des Hamas-Blutrauschs vom 7. Oktober gehörten ausgerechnet viele Mitstreiter der israelischen Friedensbewegung. Mariam Lau hat für die Zeit mit einigen von ihnen gesprochen, darunter mit Fania Oz-Salzberger, Tochter von Amos Oz: "In diesen Tagen in Israel eine demokratische Linksliberale zu sein, sagt die Historikerin bitter, heiße, an vier Fronten zu kämpfen: 'Gegen einen barbarischen islamischen Dschihadismus. Gegen einen messianischen jüdischen Fundamentalismus. Gegen die verrückte Bibi-Sekte', also die Anhänger Netanjahus. Und 'gegen eine westliche Linke, die uns verraten hat.' Letzteres empfindet Fania Oz als 'besonders schmerzhaft, wie ein Streit in der Familie, der einen mit dem Gefühl zurücklässt, dass es keinen Ort gibt, an den man flüchten kann, und auch keinen mehr geben wird'."

Jan Feddersen hält in der taz ein Plädoyer pro Israel aus linker Perspektive: "Israel müsste für Linke - nicht: Linksidentitäre, die vom Global South sprechen und die Welt sich nur ethnisiert vorstellen können, nicht als Mixtur wie eben etwa in Israel - auch deshalb attraktiv sein, weil es Meinungs- und Organisationsfreiheit gibt. Weil dessen arabische BürgerInnen einen viel höheren Lebensstandard genießen als etwa in Staaten wie Jordanien, dem Libanon oder Ägypten. Nichts in Israel ist paradiesisch, im Gegenteil. Gegen die Politik Netanjahus hat die Hälfte der jüdischen Israelis (und auch der nichtjüdischen BürgerInnen) in den zehn Monaten vor dem 7.Oktober Woche für Woche lautstark protestiert. Das sind politische Kulturen der Selbstkritik, die in den benachbarten arabischen Ländern nicht einmal denkbar wären."

Die Tage der Demokratie sind gezählt, meint der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère im NZZ-Gespräch mit Roman Bucheli und Benedict Neff: "Die Demokratie und alles andere werden verschwinden, ganz sicher." Das sei nicht nur monokausal mit einer zu starken Migration zu erklären, sondern "als Folge von allem: als Folge der Klimakatastrophe, der Migrationskrise, der künstlichen Intelligenz. Es liegt doch auf der Hand, dass da eine globale Katastrophe auf uns zukommt. Und was sind wir da: ein kleiner Klecks, sehr provinziell. So etwas wie die Demokratie hat da keine Überlebenschance mehr." Danach komme nur noch "das Ende unserer Gattung. Ich zähle mich zu den radikal pessimistischen Menschen. Ich hoffe, dass ich mich täusche, aber ich glaube, dass wir hier in den nächsten fünfzig Jahren eine Katastrophe historischen Ausmaßes erleben werden."
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Geschichte

Im SZ-Interview mit Jakob Wetzel spricht der Historiker Matthias Häussler über den deutschen Völkermord an den Herero, der vor 120 Jahren begonnen hatte. Im Nachlass des deutschen Kommandeurs Lothar von Trotha fand Häussler auch mehrere Hinweise darauf, dass die deutschen Siedler bewusst Hass schürten. "Bei den ersten Siedlern seit den 1870er-Jahren war das noch anders. Die waren eine kleine Minderheit und traten sehr vorsichtig auf (...). Doch um die Jahrhundertwende kamen immer mehr Siedler, und ihnen ging auch nicht mehr um einen sozialen Aufstieg, sondern sie kamen aus Furcht vor der Proletarisierung, also vor dem Abstieg. Die Mentalität war anders, es gab viel Ellenbogen, auch untereinander. Aber sie konnten sich auf eines einigen: auf den Herrenanspruch über die Indigenen. Der jeder Realität spottete, denn die Siedler waren wirtschaftlich alle höchst abhängig, die meisten arbeiteten für den Staat. Noch dazu waren sie der Willkür der Behörden ausgeliefert. Ihre Aggressionen richteten sich aber gegen die Afrikaner, die noch dazu begehrtes Land besaßen. Und deshalb gab es kein Interesse an Mäßigung, im Gegenteil: Die Siedler hatten Interesse an einer Eskalation. Von wegen: Wenn es Krieg gibt, na gut, dann wird sich der Staat drum kümmern, und am Ende bekommen wir das Land und die Herden."
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Gesellschaft

Der 7. Oktober muss auch in Deutschland ein Weckruf sein, fordert Ahmad Mansour in seiner Focus-Kolumne. Westliche Gesellschaften müssten anerkennen, dass sie ein Problem mit Integration haben und dass Hassausbrüche migrantischer Jugendlicher sich nicht einfach aus Diskriminierung speisen. Dies zu behaupten sei ein "Rassismus der niedrigen Erwartungen. Wer das vertritt, wird die Menschen nicht dazu ermutigen in Eigenverantwortung und Mündigkeit zu gehen, sich selbst zu reflektieren und alte Muster abzulegen. So verfestigt sich erlernte Hilflosigkeit weiter und mündet in einem Wettbewerb um die Zugehörigkeit zur am meisten benachteiligten Opfer-Gruppe."
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Ideen

2024 ist ein Kant-Jahr. Peter Neumann weist in der Zeit auf die Aktualität von Kants später Schrift "Zum ewigen Frieden" hin, auf die sich heute Jügen Habermas oder Omri Boehm beziehen: "Für Kant war Frieden kein natürlicher Zustand zwischen den Menschen, auf den man sich einfach verlassen kann. Frieden muss gestiftet, gehütet und abgesichert werden. Und auch wenn es nach einer Binsenweisheit klingt, weist Kant doch auf eine entscheidende Fehleinschätzung hin: Vielleicht war es eine Illusion, den Frieden für normal zu halten." Ebenfalls für die Zeit unternimt Michael Thumann einen Spaziergang durch "Königsberg, heute Kaliningrad, wo man versucht, aus dem Philosophen der Aufklärung einen Russen und Kronzeugen Putins zu machen".

Was "woke" Ideen an Unis angeht, so müssen wir in Europa mit Staunen feststellen, dass die trumpistische Rechte in den USA so brachial vorgeht, dass man das nur noch als umgekehrte Cancel Culture bezeichnen kann. In diesem Kontext sieht Bernd Pickert in der taz auch den Rücktritt der Harvard-Präsidentin Claudine Gay, die Antisemitismus an ihrer Uni nur in Kontexten verfolgen wollte und leider auch für ihre akademischen Arbeiten plagiiert hatte (was, so Pickert, aber ein Trumpist herausgefunden hatte): "Vermutlich war Claudine Gay tatsächlich nicht mehr zu halten - die Rechte kann hier einen Triumph feiern. Aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich Elise Stefanik, Christopher Rufo oder auch der im Hintergrund agierende Financier Bill Ackman damit zufriedengeben. Sie werden nicht ruhen, bis African-american studies, Gender Studies oder alles, was sie als Wokeness diskreditieren, aus den Unis verbannt ist."

Der Schriftsteller Jonas Lüscher wirbt im SZ-Interview mit Andreas Tobler für mehr Verständnis für verschiedene Positionen innerhalb der Linken, die dieses Lager nach dem 7. Oktober spalten. Linken Antisemitismus gebe es zwar, aber die einen Linken dächten eben so und die andern so. Lüscher will das nicht so eng sehen: "Ja, etwas mehr Großzügigkeit wäre manchmal wünschenswert. Und vor allem weniger Unbarmherzigkeit - auf allen Seiten. Das gilt auch für unseren Umgang mit Intellektuellen wie Judith Butler, Masha Gessen oder Susan Neiman, die dafür kritisiert wird, dass sie die deutsche Erinnerungspolitik in Teilen für kontraproduktiv hält. Ich bin vielleicht nicht mit allem einverstanden, was sie im Einzelfall schreiben, finde gewisse Dinge sogar falsch, aber zugleich halte ich sie für kluge Menschen, deren Beiträge ich nicht einfach in Bausch und Bogen verwerfen möchte. Damit machen wir es uns zu einfach und berauben uns wichtiger Impulse."
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Europa

Mit Hingabe erzählt Viktor Jerofejew in der FAZ von den Auswirkungen einer "Sexbombe" auf die russische Wirklichkeit. Ein berühmtes Sternchen hatte zu Silvester zu einer "Fast-nackt"-Party eingeladen, und die Rapper kamen allein mit einer Socke bekleidet, die sie sich über den Schwanz gezogen hatten. Diese Kultur des totalen Spaßes passte gar nicht zur entfesselten Kriegspropaganda, die Moskau heute dominiert, so Jerofejew: "Bestimmt aber versetzt eine so wurstige Einstellung der Stars gegenüber der 'militärischen Spezialoperation' der Staatsmacht einen weit größeren Schlag als der intellektuelle Widerstand der aufgeklärten Klasse."
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