9punkt - Die Debattenrundschau

Der Rohstoff der Reue

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.12.2023. Die in Deutschland so beliebte Sünderpose ist oft nur eine Form des Paternalismus, kritisiert die Zeit. Es könnte schwieriger werden, den Wokeismus los zu werden als den Maoismus, warnt Alain Finkielkraut in der NZZ. Die FR hofft derweil auf eine Linke, die sowohl humanistisch als auch radikal ist. Im Tagesspiegel fragt der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle, warum die historischen Ursachen des Nahost-Konflikts hierzulande so wenig bekannt sind. In der SZ empfiehlt der Vorsitzende des Palästina-Forums Aref Hajjaj dem Nahen Osten für eine friedliche Zukunft das Schweizer Modell.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.12.2023 finden Sie hier

Ideen

Gegen Hitler stand die britische Linke damals geschlossen, heute gehören manche "Teile dieser 'Linken' zur Vorhut des Putinismus und zum Hort des Antisemitismus", konstatiert der britische Journalist Paul Mason in der FR. Trotzdem hofft er auf einen Umschwung unter den Linken. "Es kann eine Linke geben, die sowohl humanistisch als auch radikal ist. Es kann eine Linke geben, die es versteht, die Palästinenser gegen Kriegsverbrechen zu verteidigen und gleichzeitig das Existenzrecht Israels zu verteidigen. Es kann eine Linke in der akademischen Welt geben, die bereit ist, die formale Logik wieder durchzusetzen und jungen Menschen beizubringen, Sätze wie 'wir machen das israelische Regime für alle Gewalt verantwortlich' ins Lächerliche zu ziehen."

Im Gespräch mit Benedict Neff in der NZZ spricht der Philosoph Alain Finkielkraut über den "Wokeismus", den er gerade besonders an Universitäten und in der französischen Linken verortet. Außerdem erklärt er den wesentlichen Unterschied zwischen der woken und kommunistischen Ideologie: "Das ist nicht das Gleiche. Der Wokeismus ist die totale Infragestellung der westlichen Kultur. Es ist ein misstrauischer und sogar anklagender Blick auf unser gesamtes Erbe. Die Lieblingsbeschäftigung des Wokeismus ist es, in Form eines Tribunals über die Vergangenheit zu richten, die rassistisch, sexistisch, homophob und so weiter war. Eine absolute Sensibilität bekämpft alle Formen der Stigmatisierung. Die kommunistische Ideologie wurde zu einem bestimmten Zeitpunkt mit der Realität konfrontiert: in Form der Sowjetunion und des maoistischen Regimes in China. Für die Woken gibt es diesen Realitätscheck nicht. Hinzu kommt, dass der Wokeismus mit einem demografischen Wandel in unserer Gesellschaft einhergeht. Er verbindet sich mit dem Islamismus. Aus diesem Grund wird es vielleicht schwieriger, diese Ideologie abzuschütteln."

In der Jungle World überlegt Magnus Klaue, ob wir in einem neuen Zeitalter der Zensur leben. Eher nicht, meint er, "die gegenwärtigen Formen der Sprach- und Ausdrucksreglementierung, die von ihren Gegnern als Zensur missverstanden werden, haben die historische Erosion jener Zensur zur Voraussetzung, die die bürgerliche Gesellschaft hervorgebracht hat. Als ästhetische und publizistische Institution war jene der objektive Ausdruck des Selbstwiderspruchs der bürgerlichen Gesellschaft, die die Konsequenzen der von ihr beförderten Freiheit und Gleichheit im selben Moment, da sie sie garantierte, einhegen und zurücknehmen musste. Gender-Sprache, freiwillig betriebene politisch korrekte Sprachkosmetik, Trigger-Warnungen und dergleichen sind demgegenüber Ausdruck einer Gesellschaft, deren Mitglieder jenen Widerspruch kaum noch erfahren, geschweige denn reflektieren können, und die sich als systemtheoretisch vernetzten Kommunikationsverbund betrachtet, dessen freies Fließen kein Zensor und kein Reaktionär mehr stören darf. Getilgt werden muss aus diesem Kreislauf alles, was an Vergangenes, Historisches, Gewordenes, wie auch alles, was an die Offenheit der Zukunft erinnert."

Der Tagesspiegel veröffentlicht einen zwei Seiten langen Essay des Historikers Konstantin Sakkas über den Frieden. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg sei der Frieden in der Welt äußerst brüchig gewesen. So kamen zwischen 1945 und 2022 10 Millionen Menschen in bewaffneten Konflikten um. "Doch ist die internationale Ordnung so schlecht wie ihr Ruf? Jahrhundertelang haben Frankreich und Deutschland sich bekriegt, heute sind sie durch EU und Nato mehrfach Verbündete. Griechenland und die Türkei wurden beide 1952 in die Nato aufgenommen, um zu verhindern, dass zwischen den beiden über lange Zeit verfeindeten Staaten ein Krieg ausbricht, der sich zum Krieg zwischen dem Westen und der UdSSR auswachsen würde. Auch heute wäre das Ausscheiden der Türkei aus der Nato ein bündnispolitischer Super-Gau."
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Gesellschaft

An Weihnachten ist Jochen Bittner der "Sündenstolz", der auch in manchen Kirchen gepredigt wird, besonders unangenehm aufgefallen. Während wir uns ausnehmend gut in der Pose der Sünder gefallen, die schuld sind am Leid der ganzen Welt, nehmen wir die Sünden der anderen, zum Beispiel den Terror der Hamas oder das Massaker an über 140 Christen von Islamisten in Nigeria zu Weihnachten, nur ungern wahr, kritisiert er in der Zeit. "Diese Teilblindheit Europas hat eben mit einem Sündiger-als-du-Glauben zu tun. Wenn derjenige am ehesten auf Erlösung hoffen darf, der sich seine Sündhaftigkeit am schonungslosesten bewusst macht, dann dürfen die eigenen Sünden nie versiegen. Sind sie ja der Rohstoff der Reue. Was wiederum bedeutet: Die Anderen, die dürfen nie und nimmer sündiger sein als ich. Diese Idee ist natürlich nichts anderes als eine vornehme Form von Paternalismus. Sie erkennt dem anderen nicht die gleiche Fähigkeit zur Selbstkorrektur zu, weil sie ihm nicht die gleiche Fähigkeit zur Schlechtigkeit zutraut."
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Stichwörter: Hamas

Politik

Die Demokratie ist bedroht, stellt der Ex-Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle im Tagesspiegel-Gespräch mit Daniel Friedrich Sturm fest. Dabei hat ihn überrascht, in welchem Ausmaß der Antisemitismus in Deutschland Fuß fassen konnte. "Antisemitismus ist Antisemitismus, er ist eine zutiefst hasserfüllte, menschenfeindliche Ideologie, für die es keinerlei Rechtfertigung gibt und die bekämpft werden muss. Aus welchem gesellschaftlichen Lager der Antisemitismus herkommt, ist daher zunächst einmal irrelevant, da stimme ich mit dem Kanzler ganz überein. In einem zweiten Schritt müssen wir aber sehr wohl fragen, wie es zu der jetzigen Situation kommen konnte. Dabei ist zu differenzieren. Antisemitismus hat unterschiedliche Ursprünge. Viele, die sich jetzt zu Wort melden, haben zum Beispiel von den historischen Ursachen des Nahost-Konflikts wenig bis keine Ahnung. Da müssen wir fragen: Hat das auch mit unserer Bildungsarbeit in Deutschland zu tun?"

Jedenfalls kann man nicht einfach sagen, dass der heutige Antisemitismus von muslimischer Seite "importiert" sei, denn er steht in direkter Kontinuität zum Antisemitismus der Nazis, notiert Richard Herzinger im Perlentaucher: "Zwar gibt es zweifellos eine lange Tradition originär islamischer Judenfeindschaft. Doch zur Herausbildung eines eliminatorischen Antisemitismus islamistischer Prägung kam es erst, als der politische Islam in den 1920er und 1930er Jahre ideologische Anleihen bei dem europäischen Faschismus und insbesondere dem deutschen Nationalsozialismus nahm. Die Historiker Jeffrey Herf ('Nazi Propaganda for the Arab World', 2009) und Matthias Küntzel ('Nazis und der Nahe Osten', 2019) haben gezeigt, welch prägenden und nachhaltigen Einfluss die speziell an die arabische Welt gerichtete antisemitische NS-Kriegspropaganda auf den dortigen radikalen Islam ausgeübt hat."

In der SZ empfiehlt Aref Hajjaj, Vorsitzender des "Palästina-Forums", das sich für eine Zweistaatenlösung einsetzt, angesichts des gegenwärtigen Konflikts mal auf die Schweiz zu schauen. "Selbstverständlich lässt sich das infernale Spannungsverhältnis zwischen Israelis und Palästinensern nicht mit der Lage in der Eidgenossenschaft vergleichen, für die Kriege immer nur auswärts verortbar sind". Dort sei es aber gelungen, verschiedene Sprach- und Kulturräume friedlich zu vereinen. Das könne auch mit Israelis und Palästinensern gelingen. "Wenn irgendwann einmal aber Vertrauen gewachsen ist, könnte das Schweizer Modell durchaus Ansatz zur Bildung eines gemeinsamen Staates sein. Größe von Bevölkerung und Fläche sind vergleichbar, ebenso die immense kulturelle Vielfalt: In beiden Fällen gibt es vielschichtige multikulturelle, multilinguale und multikonfessionelle Elemente. (...) Im Abraham/Ibrahim-Staat gäbe es zwei Sprachen (Hebräisch und Arabisch), wobei Englisch als Lingua franca gelten könnte. In beiden Fällen besteht, was im Sinne der Konfliktreduktion im Alltag durchaus vorteilhaft sein könnte, meist eine territoriale Trennung der unterschiedlichen Sprach- und Kulturräume."
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Geschichte

Vor fünfzig Jahren erschien Alexander Solschenizyns "Archipel Gulag" im Pariser Emigrantenverlag YMCA-Press und versetzte der verbliebenen prokommunistischen Linken in westlichen Ländern den Todesstoß. Arno Widmann erinnert sich in der FR daran, wie er das monumentale Werk zum ersten Mal las. Was er beim Lesen erstmals begriff, war, dass nicht nur die Lager, sondern schon die Revolution ein "Verrat an der Menschheit" gewesen war: "Es war von Anfang an ein Krieg gegen die Bevölkerung. Die Lager wurden mal verschwiegen, mal propagiert als die Hochöfen, in denen aus rückständigen Russen die neuen Sowjetmenschen geschmolzen würden. 'Heutige Überlegungen über die Jahre 1918-1920 bringen uns in Verlegenheit: Sind auch all jene den Gefängnisströmen zuzurechnen, die noch vor der Gefängniszelle umgelegt wurden?' Der Archipel Gulag ist nur ein Teil eines mörderischen, die gesamte Gesellschaft durchziehenden Unterdrückungssystems. Das macht Alexander Solschenizyn deutlich. Er beschreibt und verflucht. Er fragt nicht danach, wie es möglich war."

Christoph Dieckmann schreibt auf Zeit Online über die Umstände, unter denen das Buch erschien. Und über den jetzigen Stand in Russlands Blick auf die Geschichte: "Alexander Solschenizyn starb 2008. Der Archipel Gulag wurde auf Putins Wunsch 2009 Schullektüre. 2021 ließ Putin die Menschenrechts-Organisation Memorial verbieten. Das offizielle Erinnern folgt seit Chruschtschow dem Prinzip 'Opfer ohne Täter': Wo epochal gehobelt wurde, fielen auch Späne - betrüblich, doch nur eine Fußnote der großen russischen Geschichte."
Archiv: Geschichte