9punkt - Die Debattenrundschau

Ohne Freiheit bleibt einem nichts mehr

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.12.2023. Alle reden über die Vertreibung von 750 000 Palästinensern durch die Israelis. Für die 900 000 Juden, die aus islamisch dominierten Staaten vertrieben wurden, interessiert sich niemand, stellt der Historiker Volker Weiß in der SZ fest. Beim Thema NS-Raubkunst versagt der deutsche Staat, kritisiert in der Welt der Historiker Julien Reitzenstein. Die FAZ wundert sich über die vielen Busse mit bosnischen Kennzeichen am Wahltag in Belgrad. Und: Der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm erhält den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.12.2023 finden Sie hier

Politik

"Was heute als Palästinakonflikt gilt, war stets ein Kampf verschiedener Strömungen um Hegemonie", schreibt der Historiker Volker Weiß, der in einem langen Essay in der SZ nachzeichnet, wie die Palästinenser von den umliegenden arabischen Staaten vor allem als "Verfügungsmasse zur Eskalation" betrachtet werden und auf die vielen "blinden Flecken" der Solidaritätsszene hinweist. So erscheine auch die Flüchtlingsfrage - "eines der Hauptargumente der Palästina-Solidarität - in einem anderen Licht: Denn während die circa 750 000 palästinensischen Flüchtlinge der israelischen Staatsgründung von 1948 auch aufgrund ihrer bis heute von arabischen Staaten verweigerten Integration einen festen Platz im internationalen Bewusstsein haben, sind die circa 900 000 Juden, die im Zuge des Nahostkonfliktes aus islamisch dominierten Staaten vertrieben wurden, öffentlich kaum ein Thema. Der Historiker Nathan Weinstock hat in einer umfangreichen Arbeit diese 'quasi vollkommene Säuberung der arabischen Welt von ihrer jüdischen Komponente' nachgezeichnet. Er beschrieb die Vertreibung aus dem Nahen Osten einschließlich Irans binnen weniger Jahrzehnte, darunter aus Ländern, in denen Juden schon zu vorislamischen Zeiten gelebt hatten. Weinstock, ursprünglich spezialisiert auf die jüdische Arbeiterbewegung, frappierte vor allem die Ignoranz der Linken gegenüber diesem Geschehen."

"Das (west-)deutsche Beispiel nach 1945 skizziert auch die Lösung des Palästinaproblems", überlegt Michael Wolffsohn in der Welt: "Am Anfang stünde die Besatzung und allmähliche Übertragung der Zivilverwaltung an lokale Akteure. Aber selbst wenn sogar die USA darauf beharrten, die Sicherheitskontrolle im Gaza-Streifen zu internationalisieren, würde sich Israel diesem Wunsch nicht fügen, jedenfalls nicht völlig. Denkbar wäre eine Beteiligung amerikanischer, britischer, deutscher, französischer und arabischer Soldaten, vor allem aus Ägypten und Jordanien. Sie sind als Nachbarn direkt vom Konflikt betroffen, und beide haben kein Interesse an hochgerüsteten radikalen Palästinensern. Das jordanische Königshaus betrachtet und behandelt sie ohnehin als Fünfte Kolonne im eigenen Land. Langfristig würde der Gaza-Streifen, wie Westdeutschland ab 1949, wirtschaftlich allmählich aufblühen und als entmilitarisierter Kanton autonom oder später als Staat 'Gaza-Palästina' die eigenen Geschicke lenken. Ohne eigenes Militär."

Völkermord, Genozid - das sind so Vorwürfe, die gern Richtung Israel gemacht werden. Juristisch lässt sich das nicht halten, schreibt Christoph Gunkel, der sich für Spon mit einigen Juristen und Historikern unterhalten hat. Nach der Uno-Konvention von 1948 über die Verhinderung und Verfolgung des Genozids, lernt er vom Völkerrechtler Daniel-Erasmus Khan, "ist ein Völkermord eine bestimmte Handlung, 'die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören'." Es kommt also nicht auf die Zahl der Toten an (ein Genozid ist sogar ganz ohne Tote denkbar, lernen wir), sondern auf die Absicht. Für den Holocaustforscher Omer Bartov ist auch so klar, dass Israel einen Völkermord plant: "'Es gibt klare Aussagen israelischer Politiker und Militärs, die von der Auslöschung, Zerstörung und Beseitigung der palästinensischen Bevölkerung sprechen', sagte er dem Spiegel. 'Das sind genozidale Äußerungen.' Daraus könnte sich ein Genozid entwickeln". Für Khan jedoch ist das ein "'Missbrauch' des Begriffs: 'Aus völkerrechtlicher Sicht ist das kein Genozid. Eine Absicht, eine ethnische Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören, wird man den Israelis unter keinen Umständen unterstellen können.' Das Ziel Israels sei trotz der hohen Verluste nicht die Tötung der Zivilisten, sondern die Zerstörung der Hamas, einer Terrororganisation. 'Das aber ist grundsätzlich ein legitimes Kriegsziel.'"

Peinlich findet Ulrich Schmid in der NZZ die Doppelzüngigkeit, mit der China nicht nur mit Blick auf den Nahostkonflikt agiert. Peking lobt die Hamas, toleriert Antisemitismus im Netz, aber macht gern Geschäfte mit Israel: "Milliarden haben sie in den letzten Dekaden in israelische Startups investiert - die hochgelobten Palästinenser fertigte man mit ein paar Millionen ab. Mehr als 1000 israelische Startups sind in China tätig. Tausende Juden und Israeli machen Geschäfte in Schanghai und Guangzhou, Unis haben sich verpartnert, singende Heere chinesischer Christen besuchen jährlich Jerusalem. Seit 2014 ist der bilaterale Handel von 11 Milliarden Dollar auf mehr als 23 Milliarden angewachsen. Netanyahu besuchte China 2013 und 2017, unterzeichnete Abkommen im Dutzend und lud die Chinesen höflich ins Land. Die ließen sich nicht lumpen. In Haifa managt die Schanghai International Port Group einen Privathafen, in Ashdod einen Terminal. Der Leasing-Vertrag in Haifa läuft über 25 Jahre."

In Hongkong steht zur Zeit der Verleger Jimmy Lai vor Gericht. Ihm wird Verschwörung mit "ausländischen Kräften" vorgeworfen, berichtet Jochen Stahnke in der FAZ. "Die von ihm begründete Zeitung Apple Daily war das wesentliche Sprachrohr der Demokratiebewegung. Und so richtet sich der Prozess neben Lai auch gegen drei mit Apple Daily verbundene Unternehmen. Ein großes Polizeiaufgebot sicherte den Gerichtssaal der Sonderverwaltungszone am Montag ab. Mittel zum Zweck der unter chinesischer Führung agierenden Hongkonger Behörden ist das 2020 verabschiedete nationale Sicherheitsgesetz, das die Regierung im Zuge der Hongkonger Demokratieproteste eingeführt hatte. Als 'Hongkongs Totengeläut' hatte Lai das Gesetz noch kurz vor seiner Verhaftung im britischen Sender BBC bezeichnet. Kurze Zeit später war Lai einer der ersten Regimekritiker, den die Behörden auf Grundlage des Sicherheitsgesetzes verhafteten. Lais Konten wurden eingefroren. So konnte er seine Zeitung, die Redaktionsräume und seine Journalisten nicht mehr bezahlen. Lai musste Apple Daily schließen." Dem 76-Jährigen, der seit drei Jahren in U-Haft sitzt, droht nun eine lebenslange Haftstrafe, so Stahnke.

In der taz berichtet Fabian Kretschmer über den Prozess, der für China durchaus Beispielcharakter hat: "Für Peking ist Jimmy Lai vor allem deshalb ein rotes Tuch, weil er sich bis zum heutigen Tag den Drohungen der chinesischen Regierungen nicht gebeugt hat - und das nicht trotz, sondern gerade weil ihm die Konsequenzen seines Handelns bewusst sind. 'Ganz egal zu welchem Zeitpunkt oder in welcher Situation du bist: Es ist immer eine gute Idee, für deine Freiheit zu kämpfen', sagte Lai kurz vor seiner Festnahme im Interview mit dem US-Sender CNN: 'Denn ohne Freiheit bleibt einem nichts mehr.'"
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Ideen

Der eigentliche Skandal in Masha Gessens New-Yorker-Essay liegt nicht in dem, was sie vergleicht oder gleichsetzt, sondern in dem, was sie nicht benennt und nicht vergleicht, schreibt Perlentaucher Thierry Chervel in einer Intervention zu dem umstrittenen Text. An einer Stelle will sie den Vergleich, an anderer will sie ihn quasi untersagen: "Netanjahu hatte den Mordkarneval der Hamas mit dem 'Holocaust by bullets' verglichen und löst damit bei Gessen Empörung aus. Dieser Vergleich diene nur dazu, 'die kollektive Bestrafung der Bewohner des Gazastreifens' diskursiv abzustützen: 'genauso wie Putin, der untermauern will, dass Russland berechtigt ist, ukrainische Städte mit Teppichbomben zu bombardieren, zu belagern und ukrainische Zivilisten zu töten, indem er sie als 'Nazis' oder 'Faschisten' bezeichnet.' Während der Nazi-Vergleich mit Blick auf Israel für Gessen zulässig ist, ist er es mit Blick auf die Hamas genausowenig wie mit Blick auf die Ukraine! Jene 'Gräueltaten, die wir noch nicht ganz begreifen können', sollen ohne Namen bleiben."

Auch in Gessens Preisrede vom Samstag, die bei Zeit online veröffentlicht ist, finden die Hamas-Verbrechen nicht die geringste Erwähnung. Der Holocaust-Vergleich interessiert sie nur in Bezug auf Israel. Auf den Einwand eines Journalisten, dass die Ghettos der Nazis doch um etwa fünfzig mal dichter bevölkert waren als die der Nazis, antwortet mit einem - äh - sexistischen Witz: "Ein Mann bietet einer Frau eine astronomische Geldsumme für Sex an. Sie willigt ein, mit ihm zu schlafen - sagen wir, für 10 Millionen Dollar. 'Würdest du für 10 Dollar mit mir schlafen?', fragt er dann. Empört antwortet sie: 'Was denkst du, was ich für eine bin?' - 'Wir wissen schon, was du bist. Wir feilschen nur noch um den Preis.' Ich wünschte, ich könnte einen Witz finden, der die Sexarbeit nicht stigmatisiert, um diese philosophische Konstruktion zu veranschaulichen, die darin besteht, dass die Dinge im Wesentlichen ähnlich sein können und sich in den Einzelheiten unterscheiden."

"Wir müssen die Zwischentöne aus Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft vernehmen und verstärken", schreiben in der FR die Politologinnen Hanna Pfeifer und Irene Weipert-Fenner, die mehr Differenzierung im Diskurs über den Nahost-Konflikt fordern: "Was bedeutet Solidarität mit Israel? Mit wem ist man solidarisch - der Regierung, dem Staat, dem Volk - und mit welchen Teilen eines Volkes genau, das doch viele Fraktionen wie Stimmen hat? Hat die Solidarität jenseits des Eintretens für das Existenzrecht Israels Grenzen oder ist sie in der Tat 'bedingungslos', also unabhängig vom konkreten Verhalten der staatlichen Gewalten? Ist andersherum mit 'Free Palestine' das Ende von Besatzung und Blockade und die Möglichkeit einer gleichberechtigten Ko-Existenz von Palästinenser:innen und Israel:innen in einem Staat oder in zwei Staaten gemeint? Oder bezeichnet 'Free Palestine' dasselbe wie 'from the river to the sea', der Parole, deren öffentliches Skandieren seit Kurzem in Deutschland verboten ist?"
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Kulturpolitik

Beim Thema NS-Raubkunst versagt der deutsche Staat seit Jahrzehnten, konstatiert in der Welt der Historiker Julien Reitzenstein, der, nachdem Claudia Roth ein Raubkunstgesetz verweigerte, begrüßt, dass Roth nun auf der Festveranstaltung zum 25-jährigen Bestehen der Washingtoner Prinzipien versprach, "an gesetzlichen Verbesserungen zum Ausschluss der Verjährung bei NS-Raubgut, zur Bestimmung eines zentralen Gerichtsstands und zu einer gesetzlichen Verankerung des Auskunftsanspruchs" von Eigentümern gegenüber Museen zu arbeiten. Aber: "Eine Zustimmung zu einem eigenen Gesetz zum Umgang mit geraubtem Kulturgut ist insbesondere seitens Bayern zweifelhaft, das darauf verweist, dass Kultur Ländersache sei. Insofern steht seit Roths Festlegungen die Frage im Raum, wozu einem Gericht nun die Zuständigkeit für Raubkunst erteilt werden sollte, falls kein Raubkunstgesetz kommt, auf dessen Grundlage das Gericht urteilen kann. Möglicherweise hat sich Roth also - vielleicht aufgrund des Widerstandes einiger Bundesländer - von der Idee eines gesonderten Raubkunstgesetzes verabschiedet, nicht aber von einem Raubkunstgesetz auf dem Weg der Änderung und Ergänzung bestehender Gesetze?"

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Omri Boehm erhält den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. In der Begründung der Jury heißt es: Boehm werde ausgezeichnet "für die Konsequenz, mit der er den Kern des humanistischen Universalismus, die Verpflichtung zur Anerkennung der Gleichheit aller Menschen, gegen jegliche Relativierung verteidigt. In seinem jüngsten Buch 'Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität' (2022) tritt Boehm den ideologischen Verhärtungen der Gegenwart entschieden entgegen, nimmt Immanuel Kants Definition von Aufklärung als ,Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit' beim Wort und unterzieht den westlichen Liberalismus, vor allem aber das Denken in Identitäten, die sich absolut setzen, einer kritischen Revision."

Im Tagesspiegel kommentiert Gregor Dotzauer: "Er will nichts davon wissen, den BDS vorbehaltlos als antisemitisch zu bezeichnen, kämpft aber auch gegen die hemmungslos propalästinensische Parteinahme der postkolonialen Linken, und er will Nakba und Shoah als doppelten Bezugspunkt einer gerechten Politik verankern. Omri Boehm macht es vielen nicht leicht. Aber Versöhnung lässt sich nur erzielen, wo zuvor Streit war. Für die hoffnungslos zerfallene Öffentlichkeit kann dies nur von Vorteil sein."
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Gesellschaft

In der taz verstehen der Politikwissenschaftler Özgür Özvatan und der Ökonom Volkan Sezgin die Debatte über angeblich zu viele Migranten nicht: Sollen sie doch kommen, rufen die beiden in der taz. Deutschlands Wirtschaft braucht sie. "Der Migrationsökonom Herbert Brücker hat vorgerechnet, dass bereits 2021 nahezu zwei Drittel der Schutzsuchenden, die 2015 nach Deutschland kamen, erwerbstätig waren. Wenn wir unsere Behörden auf Vordermann bringen, Barrieren für den Arbeitsmarktzugang abbauen, mehr Plätze in Bildungseinrichtungen schaffen, dann beschleunigen wir die Erwerbsbeteiligung von Schutzsuchenden." Notwendig wären jetzt aber bessere Infrastrukturen, fordern die beiden.
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Europa

In Serbien hat die "Serbische Fortschrittspartei" von Präsident Aleksandar Vučić die Parlamentswahl am Sonntag und auch die Kommunalwahlen in Belgrad gewonnen, berichtet Michael Martens in der FAZ. Ob es dabei allerdings mit rechten Dingen zuging? "Laut den Vorwürfen der Opposition haben die von der SNS dominierten Behörden systematisch Einwohner der besonders nationalistischen Serbenrepublik von Bosnien-Hercegovina zum Schein mit Wohnsitzen in Belgrad angemeldet, um ihnen so das Wahlrecht in der Hauptstadt zu verschaffen. Diese 'Quasibelgrader' seien am Sonntag mit zahlreichen Bussen aus Bosnien nach Belgrad gebracht worden, um bei der Kommunalwahl für die SNS zu stimmen. Tatsächlich waren am Sonntag zahlreiche Busse mit bosnischen Kennzeichen in Belgrad zu sehen."
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Stichwörter: Serbien

Medien

Zunächst erhoben Mitarbeiter der rumänsichen Tageszeitung Libertatea und der investigativen Sportzeitung Gazeta Sporturilor Vorwürfe gegen den Schweizer Medienkonzern Ringier, der Konzern untergrabe kritische Berichterstattung gegenüber Anzeigenkunden, Chefredakteure und leitende Redakteure wurden bald entlassen, die Printausgabe der GSP eingestellt - Ringier streitet die Vorwürfe ab, berichtet Cathrin Kahlweit in der SZ: "Das Pikante jedoch an dieser speziellen Auseinandersetzung ist, dass Ringier in den Augen der empörten Journalisten - vor allem - die rumänische Glücksspielindustrie schützt. Laut Raimar Wagner, Leiter des rumänischen Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung, ist die Glücksspielindustrie in Rumänien sehr mächtig, 'das sieht man in der öffentlichen Präsenz und in der Werbung. Daher kann man ein Zusammenspiel der Branche mit der Politik nicht ausschließen'. Die Naumann-Stiftung hat gerade gemeinsam mit dem Zentrum für unabhängigen Journalismus (CJI) einen aktuellen Bericht zur Lage der rumänischen Medien vorgestellt. Das Vertrauen in Medien sei auf dem niedrigsten gemessenen Stand aller Zeiten, heißt es dort; politischer und ökonomischer Druck auf Medieneigentümer, Redaktionen und Journalisten nehme stetig zu und gefährde die redaktionelle Unabhängigkeit. Und nächstes Jahr finden, aber das nur nebenbei, vier Wahlen in Rumänien statt: Kommunal- und Europa-, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen."
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Stichwörter: Rumänien, Ringier