9punkt - Die Debattenrundschau

Kein Verlangen nach Demokratie

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.10.2023. Es wird schwer für Israel, die Hamas ist nicht nur eine Organisation, sondern eine Ideologie, sagt der israelische Hamas-Experte Assaf Moghadam in der taz. Die türkische Republik wird hundert. Aber bis heute gibt es in der Türkei keinen Gesellschaftsvertrag, kein ziviles Gefühl für die Gesellschaft, sagt der türkische Politologe Cengiz Aktar in der FR. Terroristen, das sind für Erdogan demokratisch gewählte kurdische Bürgermeister, Journalisten oder Feministinnen, die Hamas zählt nicht dazu, schreibt Deniz Yücel in der Welt. Alle Medien sind entsetzt über die krass antisemitischen Instagram-Posts der "Fridays for Future".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.10.2023 finden Sie hier

Politik

Lisa Schneider spricht für die taz mit dem israelischen Militär- und Hamas-Experte Assaf Moghadam, der auf Israel eine äußerst schwere Aufgabe zukommen sieht: Hamas sei nicht einfach eine Organisation, sondern eine Ideologie. Und für Israel gilt es die ungeheure Sicherheitslücke aufzuarbeiten, die sich am 7. Oktober aufgetan hat: "Die Hamas war selbst überrascht vom Erfolg ihrer Operation. Sie hatte Karten der Umgebung und der Kibbuzim, die sie angegriffen hat. Sie kannte sogar die Namen der Bewohner, wusste, in welchen Räumen Waffen lagerten und wo die Sicherheitskräfte sitzen. In manchen Kibbuzim wollten sich die Bewohner verteidigen, liefen zu den Waffendepots - nur dass dort schon Hamas-Mitglieder auf sie warteten. Die offene Frage ist: Woher hatten sie diese Informationen? Gab es Verräter innerhalb Israels? Ich glaube, ja."

Franca Wittenbrink hat es für die FAZ auf sich genommen und besucht jenen Ort, wo sich in Kühlcontainern Hunderte Leichen stapeln, die vom Militärrabbiner Haim Weisberg identifiziert werden sollen: "Mittlerweile steht er vor einem weiteren Kühlcontainer, in dem sich kleinere Plastiksäcke stapeln. Sie enthalten Körperteile von Kindern, die bislang nicht identifiziert werden konnten."

Es reicht nicht, die Hamas-Attentäter "nur" als Terroristen zu bezeichnen, schreibt in einem sehr persönlichen Text in der SZ der israelische Historiker Amir Teicher: "Die militärische Division aus geschulten, trainierten und koordinierten Kommandokämpfern und die vielen Mitläufer, begeistert von der Möglichkeit, Menschen, die als ihre Feinde ansahen, auszuplündern - sie verbreiteten nicht einfach nur Terror. Sie definierten ihn neu. Terror, in der aktualisierten Definition: eine brutale Orgie des Blutvergießens, die nicht nur Leben nimmt, sondern den existenziellen Glauben an die Grundlagen des Lebens selbst destabilisiert."

Die Kriege in Israel und in der Ukraine sind miteinander verknüpft. In beiden wird die Demokratie gegen ein antiwestliches Bündnis verteidigt, das in beiden Fällen gleich ist, schreibt Richard Herzinger in der Zeitschrift Internationale Politik: "in Wahrheit können beide Kriegsschauplätze nicht voneinander getrennt betrachtet werden. Zwar ist in den aktuellen Debatten über die Lage in Israel und Gaza häufig davon die Rede, dass der Hamas-Terror von der Islamischen Republik Iran unterstützt, wenn nicht initiiert und angeleitet wird. Kaum jedoch wird thematisiert, wie eng die wachsende Aggressionsbereitschaft des iranischen Regimes mit dem globalen Kriegskurs Russlands verwoben ist."
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Religion

Das Islamische Zentrum Hamburg (IZH), über das der Verfassungsschutz inzwischen riesige Dossiers angelegt hat, ist nichts anderes als eine "Miniatur des iranischen Monster-Staats", schreibt Georg Mascolo, der in der SZ nicht fassen kann, dass das IZH trotz Drängens verschiedener Parteien bis heute nicht verboten wurde: "Wie immer, wenn sich plötzlich die Ereignisse überstürzen, bleibt die entscheidende Frage, warum alle Warnungen und Forderungen so lange unerhört bleiben konnten. Beim IZH heißt die beschämende Antwort, dass hier die so gern bemühte Formel von Israels Sicherheit als deutscher Staatsraison über Jahrzehnte im politischen Tagesgeschäft ziemlich kleingerieben wurde. Mal war es der religiöse Dialog in der Hansestadt, dann kam außenpolitische Rücksichtnahme hinzu. Immer fand sich ein Grund, den iranischen Außenposten in Bestlage unangetastet zu lassen."
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Europa

Ein Land ohne Recht und Gesetz ist keine "Republik", schreibt der türkische Schriftsteller Ahmet Altan, der 2016 wegen Verbreitung "subliminaler Botschaften" für vier Jahre in der Türkei inhaftiert wurde, zum hundertjährigen Bestehen der türkischen Republik in der SZ: "Eine Republik ohne Demokratie ist 'krank'. Es ist kein neues Leiden. Seit Gründung der Republik war die Türkei nie eine wahre Demokratie. Da es an Demokratie mangelte, waren auch Recht und Gesetz stets mangelhaft. Auch mein Vater musste vor fünfzig Jahren wegen seiner Texte ins Gefängnis. Nicht die aktuelle Regierung hat die Türkei krank gemacht, vielmehr ist ein altes, chronisches Leiden virulent geworden. Die Krankheit hat gewissermaßen Metastasen gebildet und über den ganzen Körper gestreut. Entsprechend haben sich in der Türkei Leid und Schmerzen verstärkt. Natürlich können wir nicht ausschließlich die Politiker und Regierenden für das Leiden verantwortlich machen. Sie hatten ohnehin nie vor, Demokratie einzuführen, aber die Gesellschaft forderte Demokratie auch nicht ein. Wird eine Gesellschaft einhundert Jahre lang ohne Demokratie regiert, bedeutet das, diese Gesellschaft hat kein Verlangen nach Demokratie."

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Trotz moderner Infrastruktur ist die Türkei "weiterhin ein Entwicklungsland mit enormen Problemen in jedem einzelnen Segment des sozialen, politischen und ökonomischen Lebens", sagt der türkische Politologe Cengiz Aktar, dessen Buch "Die türkische Malaise" vor zwei Jahren erschien, im FR-Gespräch: "Die Schuld für vieles, aber bei Weitem nicht alles, trägt der politische Islam, also das AKP-Regime von Recep Tayyip Erdogan. Die meisten Probleme sind älter. … Ein Hauptproblem ist, dass es in der Türkei keinen Gesellschaftsvertrag gibt, kein ziviles Gefühl für die Gesellschaft. Die Türkei besteht vielmehr aus verschiedenen Gruppen, die alle miteinander verfeindet sind und in ihren jeweiligen Hochburgen für sich leben: die Säkularen, die konservativ-sunnitischen Türken, die Aleviten, die Kurden usw. Und diese Gruppen haben untereinander wenig Berührungspunkte. (…) Die Türkei hat mit den Völkermorden und Pogromen an Armeniern, Griechen und anderen nichtmuslimischen Minderheiten vor über hundert Jahren ihr Bürgertum zerstört. Man kann eine Bourgeoisie aber nicht auf Knopfdruck neu erfinden, wie es dem Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk vorschwebte."

Terroristen, das sind für Erdogan demokratisch gewählte kurdische Bürgermeister, Journalisten oder Feministinnen, die Hamas zählt nicht dazu, schreibt Deniz Yücel, der in der Welt nach Erdogans Bekenntnis zur Hamas Konsequenzen fordert: "Mit seinem Bekenntnis zur Hamas hat Erdogan die Türkei auf schockierende Weise positioniert: auf Seiten der Mörderbande namens Hamas. Gemeinsam mit dem iranischen Mullah-Regime. Für den Umgang mit der Türkei muss das Folgen haben. Ein Staat, der sich als Schutzpatron des islamistischen Terrors versteht, sollte in Deutschland nicht länger so schalten und walten können wie bisher. Eine erste angemessene Antwort wäre, die in den achtziger Jahren getroffene Zusammenarbeit mit der türkischen Religionsbehörde Diyanet aufzukündigen und die rund tausend Imame, die als Beamte des türkischen Staates an den Moscheen des Ditib-Verbandes tätig sind, außer Landes zu weisen. Ob Erdogans Bekenntnis für die türkische Außenpolitik eine Zäsur darstellt, wird von den Reaktionen abhängig sein. Die innenpolitische Zäsur ist schon jetzt offensichtlich."

Das Ende der Parlamentswahlen in Polen gleicht einem "Wunder" und zeigt: "Man kann modernen Gesellschaften nicht dauerhaft rückwärtsgewandte Politik aufzwingen", konstatiert Thomas Schmid in der Welt (und in seinem Blog). Umso fataler wäre es, wenn die EU und Deutschland nun zur Tagessordnung übergehen würden, meint er: "Nie wurde erwogen, das größte, bevölkerungsreichste und wirtschaftlich dynamischste Land im Osten Europas in die informelle Runde der großen europäischen Player zu holen. Und niemand nahm die polnische Sorge ernst, die der entschiedene EU-Befürworter Tadeusz Mazowiecki, der 1989 der erste nicht kommunistische Ministerpräsident Polens wurde, so formuliert hat: 'Ein Volk, das seine volle Souveränität gerade wiedererrungen hat, kann sich nur schwer mit dem Gedanken anfreunden, einen Teil seiner Souveränität abzutreten, und sei er noch so winzig.' Darauf haben die kulturell blinde EU und auch Deutschland nicht gehört. Sie haben diese Sorge als eine hinterwäldlerische Marotte abgetan. Auch diese Ignoranz hat damals den Aufstieg und Erfolg der PiS beflügelt, die es gut verstand, das polnische Opfer-Bewusstsein neu zu bebrüten."

Nirgends in Europa wütet der muslimische Antisemitismus gefährlicher als in Frankreich, konstatiert FAZ-Korrespondentin Michaela Wiegel: "Der islamistische Terroranschlag auf die jüdische Schule in Toulouse im März 2012 war ein Frühwarnzeichen für den Zusammenbruch des kollektiven Wertesystems. Inzwischen wird die Mehrheitsgesellschaft attackiert. Bereits zum zweiten Mal ist ein Lehrer Opfer eines islamistischen Anschlags geworden. Die landesweite Schweigeminute an den Schulen zu Ehren des getöteten Französischlehrers wurde an vielen Orten gestört. Gegen 357 Störenfriede sind Disziplinarverfahren eingeleitet worden. Das ist ein erster Schritt gegen die Gleichgültigkeit, mit der Verstöße bislang hingenommen wurden."
Archiv: Europa

Medien

Die heutige Ausgabe der taz wirkt etwas, äh, antizyklisch. Sie ist mit "Total utopisch" betitelt und lässt auf vielen Seiten offenbar junge Leute (naja, zumindest unter vierzig) zu Wort kommen. Themen sind etwa: "Das gesellschaftliche Bild von Männlichkeit ist veraltet und schadet allen Geschlechtern. Was Männer tun können, um sich davon zu emanzipieren" (hier) oder "Der Nollendorfkiez richtet sich heute primär an ein schwules Publikum. Wie aber wäre es, wenn sich hier vor allem trans* Personen Freiräume aufbauen könnten?" (Hier) Die taz-Volontärin Alexandra Hilpert schreibt im Editorial: "Wir sind jung. Und wir haben Angst. Meine Generation steht vor einer Klimakrise, unsere Lebensgrundlagen verschwinden, Hass, Kriege und Rechtsruck bedrohen unser Zusammenleben. Die Generationen vor uns, das seid unter anderem ihr Gen Xler und Boomer, haben mit ihrem Hunger nach Wachstum unsere Welt zerstört."

Die Organisation "Fridays for Future" wartet auf Instagram mal wieder mit krass antisemitischen Kacheln auf, berichtet die Jüdische Allgemeine. Die Posts sichten sich insbesondere gegen die Medien: "Auch der Vorwurf des Antisemitismus werde von den Medien gezielt eingesetzt, um Stimmung gegen die Palästinenser zu machen, behauptet FFF. Ausdrücke wie 'islamischer Antisemitismus' oder 'importierter Antisemitismus' seien in den westlichen Medien Chiffren, um die Palästinenser zu 'entmenschlichen', und der Nahostkonflikt sei in Wahrheit gar so nicht kompliziert wie alle behaupteten."


Während Greta Thunberg in einem Post ihre Palästina-Solidarität bekannte, hat sich Luisa Neubauer, das deutsche Gesicht von "Fridays for Future", von antisemitischen Posts ihrer Mitkämpfer distanziert, aber Josef Schuster vom Zentralrat der Juden fordert Neubauer laut Bild und Jüdischer Allgemeiner (hier) auf, weiter zu gehen und sich überhaupt von der Organisation zu lösen: "Wenn Neubauer ihre Worte von der Solidaritätskundgebung am Brandenburger Tor am Sonntag ernst meine, wo sie sich über den weltweiten Antisemitismus entsetzt gezeigt und die besondere Verantwortung Deutschlands für Israel betont habe, müsse sie sich von dieser Organisation lossagen. 'Von Fridays for Future International erwartet man nichts anderes mehr, als krude Geschichtsverdrehung, Dämonisierung Israels und nun auch noch Verschwörungsideologie", sagte Schuster. Das gelte mittlerweile auch für Greta Thunberg."

Im nicht utopischen Teil der taz berichtet Elisa Pfleger und erläutert: "Als Graswurzelbewegung hat Fridays for Future keine transparente Organisationsstruktur, weder international noch national. Es gibt dementsprechend kein durch die Basis gewähltes Team für Öffentlichkeitsarbeit oder Sprecher*innen, die man für den Post zur Rechenschaft ziehen kann." In der FAZ kann es Michael Hanfeld kaum fassen: "Wüsste man es nicht besser und hätte man die vorangegangenen Stellungnahmen von Greta Thunberg und ihren Jüngern nicht verfolgt, würde man es nicht für möglich halten, dass Fridays for Future ein derart krudes Pamphlet auflegt. Es ist die gegenwärtige, linke, antikoloniale Primitiv-Version des Mythos von der 'jüdischen Finanzherrschaft', verfasst im Stürmer-Stil."
Archiv: Medien

Ideen

"Vor welchem Mob knickt die BPB  hier ein?" ruft der Postkolonialist Jürgen Zimmerer. Was war geschehen? Die Bundeszentrale für politische Bildung wollte unter dem Titel "We Still Need to Talk " eine Konferenz zum Thema einer "relationalen Erinnerungskultur" veranstalten und hat die für Dezember geplante Veranstaltung nun abgesagt. Es wäre endlich mal eine nicht polarisierte Debatte geworden! Denn es hätte sich mehr oder weniger jene Elite des Postkolonialismus getroffen, die findet, dass Deutschland einen Erinnerungskult betreibt und dass es "nicht per se" antisemitisch sei, wenn man sich ein Palästina vom Fluss bis zum Meer wünscht. Zu den Sprechern hätten Edwin Nasr, Hanno Hauenstein, Omri Boehm, Charlotte Wiedemann, Emily Dische-Becker, Michael Wildt, Jürgen Zimmerer und andere gehört (mehr hier). Der bpb wurde offenbar mulmig. Die Veranstaltungsankündigung hat sie von der Website genommen und schreibt in einer Stellungnahme: Mit der Veranstaltung "wollten wir eine in den Wissenschaften geführte Debatte rund um das Thema 'Verflechtungsgeschichte', die international und in den letzten Jahren zum Teil erbittert geführt wurde, aufgreifen und den Diskursraum für die politische Bildung und die Öffentlichkeit öffnen. Dieses Unterfangen stellte sich von Anfang an als schwierig dar. ... Aber momentan wird das alles überlagert durch die fürchterlichen Ereignisse des 7. Oktobers 2023. Es ist eine Zeit der Trauer und unserer Solidarität mit Israel und den Opfern."
Archiv: Ideen