9punkt - Die Debattenrundschau

Immer nüchtern, immer auf Inklusion bedacht

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.07.2023. Mariupol ist zerbombt und von der Bevölkerung verlassen. Sonja Margolina erzählt in der NZZ, wie Putin die Stadt als Potemkinsches Dorf wieder aufbauen will. "Depubliziert": Fabian Wolff existiert nicht mehr, zumindest nicht als Autor de Süddeutschen Zeitung bei sueddeutsche.de, hat die Jüdische Allgemeine herausgefunden. Das Ruhr Museum Essen zeigt eine Ausstellung über die Ruhrbesetzung 1923 bis 1925. Die FAZ erzählt wie die extreme Rechte hier ihr Instrumentarium schärfte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.07.2023 finden Sie hier

Europa

In Mariupol ist eine unbekannte Zahl von Zivilisten zu Tode gekommen, allein im Theater der Stadt starben durch Putins Kriegverbrechen Hunderte. Nun wird die Stadt im Stil eines Potemkinschen Dorfs wiederaufgebaut, berichtet Sonja Margolina in der NZZ. Die meist russischsprachige ukrainische Bevölkerung hat die Stadt zum größten Teil verlassen. "Derzeit läuft der Bevölkerungsaustausch auf Hochtouren. Laut dem Berater des letzten ukrainischen Bürgermeisters von Mariupol, Pjotr Andrjuschtschenko, werden Ukrainer zügig durch Umsiedler aus Russland ersetzt. Mittlerweile sollen ungefähr 40.000 'zivile Besatzer', zum Teil ganze Familien, in die Wohnungen der evakuierten und geflohenen Mariupoler eingezogen sein. Dem ukrainischen Telegram-Kanal freeradio.com berichtete Nadeschda, eine junge Einwohnerin, welche ihre Wohnung und ihre Dokumente verloren hatte und daher nicht ausreisen durfte, über die Zustände in der besetzten Stadt: 'Hier trifft man Tadschiken, Usbeken und andere zentralasiatische Völkerschaften. Sie sind zahlreicher als die Einheimischen, die meistens schon im Rentenalter sind.'"

Thomas Avenarius hat für die SZ die zerstörten Kulturstätten von Odessa beucht und kommt um eine bittere Beobachtung nicht herum: "Der Angriff war aber weit mehr als eine weitere Barbarei in diesem an Barbareien nicht armen Gemetzel. Er ist der Beweis dafür, dass der von der Unesco verliehene Titel 'Weltkulturerbe' im ersten großen Krieg des 21. Jahrhunderts so wenig schützt wie der Segen der gnädigen Gottesmutter von Kasperowskaja."

Der Politikwissenschaftler Steven Hummel hat Fälle der Zusammenarbeit demokratischer Parteien mit der AfD in sächsischen Kommunen untersucht - meist sei die CDU betroffen. Im Gespräch mit Sabine am Orde von der taz definiert er Zusammenarbeit so: "Wenn es auf Initiative der AfD einen Antrag oder einen Personalvorschlag gibt und demokratische Parteien stimmen zu. Wenn demokratische Parteien etwas initiieren und wissen, dass eine Mehrheit nur mit der AfD zu erreichen ist. Wenn man sich bei der Vergabe von Posten, etwa wenn Leute in Aufsichtsräte oder städtische Gremien entsendet werden, mit der AfD verständigt. Das würde ich alles als Zusammenarbeit bezeichnen."

Ein Europa von rechts wird angesichts überall zulegender rechtspopulistischer Parteien denkbar, fürchtet der Politologe Hans Kundnani im Tagesspiegel: "Die Basis dafür ist eine Konvergenz zwischen den 'pro-europäischen' konservativen und den euroskeptischen rechtsradikalen Parteien. Insbesondere seit der Flüchtlingskrise 2015 haben konservative Parteien rechtsradikale Inhalte übernommen, vor allem bei den Themen Zuwanderung, Identität und Islam. Parallel haben manche rechtsradikale Parteien ihren Euroskeptizismus gemäßigt, Melonis Partei zum Beispiel."
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Geschichte

Foto: Haus der Essener Geschichte / Stadtarchiv 

Hubert Spiegel bespricht für die FAZ die Ausstellung "Hände weg vom Ruhrgebiet! Die Ruhrbesetzung 1923 bis 1925" im Ruhr Museum Essen und erzählt, wie die extreme Rechte in der Weimarer Republik angesichts der Bestzung des Ruhrgebiets durch französische und beigische Soldaten ihr Instrumentarium schärfte. Es war eine Propagandaschlacht: "Während Franzosen und Belgier ihr Vorgehen als gerecht, angemessen und dem Versailler Vertrag entsprechend darstellen wollen, schlägt die deutsche Seite oft unverhohlen nationalistische und auch rassistische Töne an: Dass seit Kriegsende auch etwa 25.000 sogenannte 'Kolonialsoldaten' aus Nordafrika, Madagaskar, dem Senegal und Vietnam im Rheinland stationiert waren, wurde als 'Schwarze Schmach' gebrandmarkt. Auf zahlreichen Plakaten wurden rassistische Zerrbilder schwarzer Soldaten gezeigt, die meist spärlich bekleidete oder nackte deutsche Frauen bedrohen, rauben, fesseln, schänden."
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Kulturpolitik

Thomas Thiel greift in der FAZ Vorwürfe des Mobbings in den "Arolsen Archives" auf, einer wenig bekannten Institution, die aber "alles sammelt, was man über Opfer und Verfolgte des NS-Regimes in Erfahrung bringen kann" (mehr hier). Die Archives werden mit  mit 16,4 Millionen Euro jährlich von der Bundesbeauftragten für Kultur finanziert. Die Chefin Floriane Azoulay und ihr Adlatus Steffen Baumheier sollen ihr Personal in Angst und Schrecken gehalten haben, wie es in einem Dossier von Mitarbeitern heißt, das der Rechtsanwalt Daniel Vogel Anfang März an die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien schickte. "Der Stein war ins Rollen gekommen, als eine Mitarbeiterin im Frühjahr die Missstände intern angesprochen hatte. Daraufhin war ihr fristlos gekündigt worden. Nachdem die Vorwürfe durch die Gruppe der Beschwerdeführer, deren Teil sie war, öffentlich gemacht worden waren, schob man eine zweite Kündigung nach." Nun soll aber aufgeklärt werden, ließ Claudia Roth verlauten, der Untersuchungszeitraum wird aber auf eine kurze Zeit begrenzt: "Damit fällt ein Großteil der erhobenen Vorwürfe unter den Tisch."
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Gesellschaft

Mt den Krawallen im Columbiabad muss man sich gar nicht befassen. Ärger in Schwimmbädern ist siebzig Jahren ein regelmäßiges Sommertheater, meint der Pophistoriker Bodo Morozek in der taz, und wenn, dann dient Berichterstattung Zwecken: "Die ausschnitthafte Kolportage von Einzelfällen bietet ein höchst selektives Bild, das umso problematischer ist, wenn aus Gründen der Dramatisierung eine Präzedenzlosigkeit behauptet wird, die schon ein oberflächlicher Blick in die Pressearchive widerlegt."

Im Görlitzer Park haben einige Männer aus dem Drogenhändlermilieu eine Frau vergewaltigt und ihren Freund gezwungen, bei der Vergewaltigung zuzusehen. "Zu der Tat kam es in den frühen Morgenstunden des 21. Juni", berichtet Markus Wehner in der FAZ. Die Polizei hatte den Vorfall nicht gemeldet, erst die Bild-Zeitung machte auf den Fall aufmerksam. "Polizei und Staatsanwaltschaft rechtfertigten sich nach Kritik in den Medien, dass sie sich so lange zur Vergewaltigung im Görlitzer Park nicht geäußert hatten. Um Täter zu ermitteln, sei es oft wichtig, dass sie nicht durch Berichterstattung gewarnt würden, sagte der Sprecher der Staatsanwaltschaft der FAZ. Auch gehe es um Opferschutz."
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Medien

Im Internet nennen sie es "Depublikation". Die Süddeutsche Zeitung hat elf Artikel des Publizisten Fabian Wolff von ihrer Internetseite entfernt, berichtet die Jüdische Allgemeine. "Die Chefredaktion der zweitgrößten deutschen Tageszeitung bestätigte den ungewöhnlichen Schritt nun auf Anfrage der Jüdischen Allgemeinen. 'Der freie Autor Fabian Wolff hat für zahlreiche Medienhäuser gearbeitet. Für die SZ verfasste er zwischen 2018 und 2023 elf Buchrezensionen. Die Redaktion hat entschieden, diese zu depublizieren', so SZ-Chefredakteurin Judith Wittwer." Sucht man  bei sueddeutsche.de, ist Fabian Wolff tatsächlich nur noch als Gegenstand der Berichterstattung existent, nicht mehr als Mitarbeiter. Ganz tilgen lässt sich die Zusammenarbeit natürlich nicht. Eine Suche in der Genios-Datenbank fördert noch alle Ergebnisse zutage, dort kann man einen Wolff-Artikel zur Not noch "für 4,71 Euro kaufen". Im Perlentaucher bleiben die Resümees zu den Buchkritiken, die die SZ bei Wolff in Auftrag gegeben hatte bestehen, zum Beispiel zu Norman Maneas Roman "Der Schatten im Exil", zu Gabriele Tergits Roman "Der erste Zug nach Berlin", besonders auch zu W. E. B. DuBois Buch "Along the color line" - Eine Reise durch Deutschland 1936" ("Rezensent Fabian Wolff nimmt die Veröffentlichung von W.E.B. Du Bois' Reisebericht zum Anlass für einige grundlegende Bemerkungen über den postkolonialen Diskurs", resümierten wir) und und zu Barbara Honigmanns Essaysammlung "Unverschämt jüdisch" ("Wie die Autorin, immer nüchtern, immer auf Inklusion bedacht, in Reden und Essays sich mit dem (eigenen) jüdischen Leben in der DDR befasst, das liest der Rezensent auch als Fußnotenwerk zu Honigmanns autobiografischem Schreiben.")

A propos löschen. In der selben SZ beklagt der bekannte Rechercheur Georg Mascolo, dass der Staat zwar Transparenz-Gesetze erlässt, sich in der Praxis aber nicht dran hält: "Behörden, zu viele jedenfalls, blockieren und unterlaufen, was der Staat selbst gesetzlich garantiert hat. Ebenso gravierend ist, dass jedenfalls in der Bundesregierung und den Ministerien eine schleichende Veränderung eingesetzt hat. Immer weniger wird in ordentlichen Vermerken niedergeschrieben, ausgewichen wird auf elektronische Kommunikation, die dann gelöscht wird."

Und noch einer wird gelöscht: Unter der Regierung der Postfaschistin Giogia Meloni wird auch die Staatsanstalt RAI bereinigt. Unter anderem  jetzt auch die Programme des Anti-Mafia-Journalisten Roberto Saviano gestrichen, berichtet Christian Schubert für die FAZ.
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