9punkt - Die Debattenrundschau

Selbstreferenzieller Zirkel

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.02.2021. Putin mag im Fall Nawalny den Richter und den (dilettantischen) Henker gespielt haben, ermöglicht wird sein Regime durch Deutschland, schreibt Garri Kasparow bei CNN. Ein neues Netzwerk für Wissenschaftsfreiheit will sich gegen Konformitätsdruck in den Unis stellen - die Zeitungen reagieren unterschiedlich. Die SZ freut sich über die Verknappung von Zitatobergrenzen im neuen Urheberrechtsentwurf der Bundesregierung. Erben ist ungerecht, sagt der Soziologe Jens Beckert in der Zeit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.02.2021 finden Sie hier

Europa

Putin mag im Fall Nawalny den Richter und den (dilettantischen) Henker gespielt haben. Ermöglicht wird sein Regime durch Deutschland und den übrigen Westen, schreibt Garri Kasparow in einer scharfen Polemik für CNN: "Deutschland glaubt, es kann Russland in Menschenrechtsdingen kritisieren, während es die Nord Stream 2-Gaspipeline vorantreibt, die Putins Taschen mit Geld und die Waffen seines Militärs mit Kugeln füllen wird. Diese Kugeln werden gegen Europäer in der Ukraine und, Gott bewahre, gegen Russen auf den Straßen eingesetzt. Europa denkt, es könne Geschäft und Politik trennen, aber für Putin ist das alles dasselbe: Geschäft."

Die russische Regierung versucht mit einer Flut von Gesetzen und brutaler Gewalt jede Opposition zu unterdrücken. Das nimmt immer surrealere Züge an, schreibt die heute in Berlin lebende russische Kulturjournalistin Irina Rastorgujewa in der FAZ. "Mittlerweile gilt eine einsame Mahnwache als Massenveranstaltung, zugleich werden zweihundert Leute in den staatlichen Medien als zwei, also praktisch niemand, dargestellt. Ungeachtet der Tatsache, dass fünf von ihnen sich der Verhaftung widersetzten und mehr als hundert eine Geldstrafe erhielten."
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Ideen

Eine Gruppe von Geistes- und Sozialwissenschaftlern, darunter Sandra Kostner, Andreas Rödder und Ulrike Ackermann, veröffentlicht als "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit" ein Manifest gegen die (so im Papier nicht benannte) "Cancel Culture" an den Universitäten: "Einzelne beanspruchen vor dem Hintergrund ihrer Weltanschauung und ihrer politischen Ziele, festlegen zu können, welche Fragestellungen, Themen und Argumente verwerflich sind. Damit wird der Versuch unternommen, Forschung und Lehre weltanschaulich zu normieren und politisch zu instrumentalisieren. Wer nicht mitspielt, muss damit rechnen, diskreditiert zu werden. Auf diese Weise wird ein Konformitätsdruck erzeugt, der immer häufiger dazu führt, wissenschaftliche Debatten im Keim zu ersticken."

Das Netzwerk sei gegründet worden, berichtet Thomas Thiel in der FAZ, um Opfern der Cancel Culture, die von ihren Institutionen oft im Regen stehen gelassen würden, Unterstützung anzubieten. "Wie die Initiatorin und Sprecherin, die Migrationsforscherin Sandra Kostner, auf der Pressekonferenz sagte, beansprucht man keine Deutungshoheit über bestimmte Themen, sondern will auf eine Debattenkultur hinwirken, in der sich Redner keine Sorgen mehr darüber machen müssen, für bestimmte Standpunkte persönlich diskreditiert zu werden. ... Das Gründungsmanifest lässt keine politischen oder weltanschaulichen Ziele erkennen."

In der SZ will Paul Munzinger das Netzwerk nicht so ganz ernst nehmen. Wer ist denn dieser mächtige Mainstream, der konformes Verhalten erzwingt, fragt er. "Ironischerweise, sagt Rödder, sehe man heute die Folgen der unternehmerischen, auf Leistung gepolten Universität. Sie zwinge dazu, Anträge so zu formulieren, wie sie die Entscheider in den Gremien lesen wollten - also etwa mit Genderstern. Die unternehmerische Universität als Steigbügelhalterin des linken Mainstreams - eine mutige These ist das in jedem Fall."

Im Interview mit der Zeit erklären Sandra Kostner und Andreas Rödder, warum diese These überhaupt nicht absonderlich ist: "Die 'unternehmerische Universität' brauchte einen Indikator zur Leistungsmessung", erklärt Rödder, "und das sind vor allem Drittmittel, also von außen eingeworbene Forschungsgelder. Diese werden zumeist durch Gremien vergeben, in denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, also Kollegen sitzen. Das führt zu neuen Kartellbildungen und erhöht den Konformitätsdruck. Denn um Drittmittel zu bekommen, benötigen Sie die Zustimmung von Gutachtern und Entscheidern in den Gremien. Dadurch ist ein selbstreferenzieller Zirkel entstanden: Man versucht, Zustimmung zu erheischen - und tut nichts, von dem anzunehmen ist, dass es nicht die Zustimmung der anderen findet."

Der ehemalige Grünen-MdB Volker Beck stellt das Netzwerk auf Twitter dagegen gleich in die Nähe von Houston Stewart Chamberlain:

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Gesellschaft

Die Burka lässt sich nicht mit dem Argument der Freiheit verteidigen, schreibt der Essayist Kacem El Ghazzali in der NZZ, denn es handelt sich beim Tragen der Burka nicht um die individuelle Entscheidung einer Frau: Und "auch im Kontext eines liberalen Staats, der die individuelle Entscheidungsfreiheit garantiert, sollten der moralische Druck und die Indoktrinierung, die Familie und religiöse Autoritäten auf die Entscheidungen des Einzelnen ausüben können, nicht übersehen werden."

Anthroposophen haben einen seltsamen Status in der deutschen Gesellschaft. Es ist nicht so, dass jeder Bio-Käufer an den Zinnober glaubt, den sie ums Gemüse treiben, aber sie kaufen es halt doch - und der Bewegung sind ganze Supermarktketten (Alnatura) und Banken (GLS-Bank) und natürlich viele Schulen zuzuordnen. Bei Corona sind viele Anthroposophen eher unter den "Querdenkern" wiederzufinden. Ronald Düker zitiert in der Zeit etwa Äußerungen des Biologen Christoph Hueck, der bei "Querdenken"-Demos redet und zugleich Redakteur der anthroposophischen Zeitschrift Die Drei ist. "Der Glaube, durch das Tragen einer Maske den Tod anderer Menschen verhindern zu können, dieser Glaube an die Beherrschbarkeit des Lebens ist Überheblichkeit gegenüber den Schicksalsmächten", schreibt Hueck dort (PDF-Dokument). Und Düker kommentiert: "ist es Schicksalsvergessenheit, sich vor dem Virus schützen zu wollen? In anthroposophischer Perspektive jedenfalls beweist der hygienebewusste Maskenträger nur, dass er keine spirituelle, sondern lediglich eine materialistische Einstellung zum Leben hat."

Erben ist ungerecht und verschärft in einer alternden Gesellschaft wie der unseren die Ungleichheit zwischen Arm und Reich immer mehr, sagt der Soziologe Jens Beckert, Autor des Buchs "Unverdientes Vermögen" im Gespräch Uwe Jean Heuser und Roman Pletter von der Zeit. Zur Ungerechtigkeit trage auch ein nicht ausreichender Sozialstaat bei: "In einer Gesellschaft, die immer stärker auf individuelle Verantwortung setzt, steigt auch die Angst vor dem Abstieg. Das Vermögen der Familie wird dann zur Versicherung und unbedingt verteidigt. Die Bereitschaft der Vermögenden zu einem solidarischen Ausgleich sinkt. Das lässt sich auch empirisch zeigen."
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Urheberrecht

Es ist ein Kompromiss, jetzt kann man ihn nur ausprobieren, meint Andrian Kreye in der SZ zum jüngsten Entwurf für ein neues Urheberrecht: "Im letzten Entwurf sollten 20 Sekunden Audio oder Video, 1000 Zeichen Text und 250 Kilobyte für Fotos und Grafiken unter eine sogenannte Bagatellgrenze fallen. Die neuen Grenzwerte sind 15 Sekunden, 160 Zeichen und 125 Kilobyte. Der Zaun ist also zumindest für Autoren, Buch- und Presseverlage wieder deutlich höher." Ohne Leerzeichen besteht dieses Zitat aus 269 Zeichen. Wir werden künftig nur noch im Telegrammstil debattieren.
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Kulturmarkt

Der Deutsche Bibliotheksverband (dbv) hat vor einigen Tagen eine Gleichstellung von Ebooks und physischen Büchern gefordert. Dagegen wehrt sich Nadja Kneissler, Vorsitzende des Verleger-Ausschusses des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, im Börsenblatt: "Die Forderungen des dbv schaden Autor*innen und Verlagen, denn sie zielen auf eine deutliche Einschränkung ihrer Rechte hin. Der vorgeschlagene Eingriff ins Urheberrecht hebelt die Vertragsfreiheit der Verlage aus und hätte massive Umsatzverluste bei Verlagen, Autor*innen und im Buchhandel zur Folge. Letztlich würden die Bibliotheken einen kostenlosen Parallelmarkt aufbauen, der schnell den bestehenden Markt angreifen und die Existenz von Verlagen und Buchhandlungen gefährden würde."
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Geschichte

In der SZ kann Alexander Menden schon verstehen, dass in ehemaligen Sklavenhalter- oder Sklavenhändlergesellschaften wie Britannien und den USA Denkmäler gestürzt werden, aber in Deutschland sei das doch unnötig, meint er: "Die Kolonialgeschichte wird derzeit zu Recht im Rahmen von Restitutionsdebatten auch in Deutschland wissenschaftlich aufgearbeitet. Dies wird vermutlich noch lange im Schatten der Verbrechen der Nazizeit geschehen. Über deren Bedeutung aber besteht trotz revisionistischer Töne de facto ein weitaus breiterer gesellschaftlicher Konsens als es ihn etwa in den USA über das rassistische Erbe der Sklaverei gibt."
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Medien

Der Blogger Don Alphonso, früher FAZ, heute Welt, mobilisiert laut Antonia Baum in der Zeit ein Netz von rechtsextremen Trollen. Wenn er jemanden attackiert, seien sie es, die die Angegriffenen mit ihren Hasspostings und Drohmails terrorisieren. Die Welt diene ihm dabei als das bürgerliche Umfeld, das ihm Respektabilität verleihe: "Exakt so beschreibt es der Rechtsextremismusforscher Matthias Quent: Es gebe die Tendenz, dass jemand, der 'öffentlich renommiert' sei, vorangehe und die Zielperson aussuche, auf die 'sich dann Rechtsradikale stürzen'." Die Opfer, so Baum,  seien "eher junge Leute mit eher linken, feministischen, antirassistischen Ansichten, die häufig in den sozialen Netzwerken publizieren". Baum erwähnt nicht, dass Don Alphonso gerade selbst umgekehrt einige Parlamentarierer und Parlamentsmitarbeiter der Linken und Grünen benannt hatte, die wiederum die Tagesspiegel-Redakteurin Fatina Keilani mit Hasspostings verfolgt hatten (unser Resümee).
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Stichwörter: Don Alphonso, Trolle