9punkt - Die Debattenrundschau

Bürger kommt herunter vom Balkon

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.02.2018. Der Satz des polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki, es hätte auch jüdische Täter im Holocaust gegeben, empört unter anderem taz und Welt. Im Weekly Standard erklärt Steven Pinker, warum Identitätspolitik nicht aufgeklärt ist. In der NZZ zieht Ivan Krastev eine Parallele zwischen der liberalen Revolution in Osteuropa 1989 und heutigen Migrationsbewegungen. Wenn das Buch verschwindet, verschwindet auch die Wahrheit, fürchtet Florian Felix Weyh in seinem Dlf-Essay,
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.02.2018 finden Sie hier

Europa

In Tschechien tobt eine vom Populisten Tomio Okamura vergiftete Debatte um einen Gedenkort für die Verfolgung der Roma im Holocaust, berichtet Alexandra Mostýn in der taz. Allerdings müssen sich die gemäßigten Parteien an die eigene Nase fassen: "In den 25 Jahren seit Bestehen der Tschechischen Republik waren Christdemokraten wie Sozialdemokraten, meist gemeinsam, insgesamt zwölf Jahre an der Macht. In dieser Zeit hat sich die Situation der Roma nur verschlechtert. Die Anzahl der Roma-Ghettos ist von ein paar Stadtvierteln auf 600 angewachsen. Noch immer werden Roma-Kinder in Schulen segregiert, 80 Prozent der Tschechen lehnen Roma als Nachbarn ab. Solange der Antiziganismus im Land nicht effektiv bekämpft, sondern durch Segregation und Ghettoisierung noch gefördert wird, haben Populisten wie Okamura ein leichtes Spiel, sich dessen zu bedienen."

Ebendort kommentiert Klaus Hillenbrand die Äußerung des polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki, es hätte auch jüdische Täter im Holocaust gegeben: "So wie Morawiecki das interpretiert, was geschehen ist, ebnet er einen Weg zur historischen Lüge."

"Was soll die Anspielung auf angebliche 'jüdische Täter'?", fragt Alan Posener in der Welt: "Gewiss, es gab jüdische Denunzianten. Die Judenräte in den Gettos mussten Transportlisten für die Vernichtungslager zusammenstellen. Jüdische Gettopolizei trieb die zur Vernichtung vorgesehenen Menschen zu den Zügen. Jüdische Häftlinge mussten die Gaskammern und Verbrennungsöfen betreiben. Alle diese Leute waren 'Mittäter', so wie einer, der sein eigenes Grab schaufeln muss, bei seinem eigenen Mord mitmacht, was die Juden in den Wäldern Litauens ja auch tun mussten."
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Wissenschaft

Die Wahrheit steht auf dem Spiel, behauptet Florian Felix Weyh in einem Dlf-Essay, denn das Buch geht verloren, und damit die Fußnote und die Belegbarkeit von Behauptungen: "Elektrifiziert sich der bislang überwiegend noch an Papier gebundene Wissensdiskurs vollständig, dann bekommen wir gewaltige Schwierigkeiten beim Umgang mit Wahrheitssetzung und Wahrheitsfindung... Im digitalen Flirren ist alles manipulierbar, weil alles aus demselben Lehm geknetet wird." Die Wikipedia, die es immerhin geschafft hat, ein sicher verbesserungsfähiges kollektives System der Wissensabsicherung zu schaffen, kommt bei Weyh nicht vor.
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Geschichte

Arno Widmann erinnert sich in der Berliner Zeitung an den Vietnam-Kongress an der TU Berlin 1968, an das zerstörte West-Berlin und an die Demo, die dem Kongress folgte: "Man ging langsam, hakte sich unter, rannte ein paar Schritte und ging wieder langsam. Das gab diesem mir endlos erscheinenden Zug - von wohl nicht mehr als 12.000 Menschen - eine Dynamik, eine Energie, die ich aus der Frankfurter Praxis nicht kannte. So lächerlich es mir vorkam, dass man den aus den Fenstern blickenden Berlinern zurief: 'Bürger kommt herunter vom Balkon, unterstützt den Vietcong!', so hatte das doch in schmalen Straßen einen Hall, der auf die, die ihn erzeugt hatten, mächtig zurückwirkte."
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Stichwörter: 68er, West-Berlin, Vietnam

Politik

Von Europa mehr oder weniger unbemerkt breitet sich China auch in Lateinamerika aus, schreibt Michi Strausfeld in der NZZ: "Zahlreiche Großprojekte wie der Bau von Straßen, Eisenbahnlinien und Häfen werden finanziert, Raffinerien ausgebaut, Elektrizitätswerke und Minen gekauft. China ist inzwischen der wichtigste Handelspartner von Argentinien, Brasilien, Chile und Peru sowie prioritärer Gläubiger von Brasilien, Venezuela oder Ecuador."
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Ideen

Die "Verdammten dieser Welt" machen keine Revolution mehr, sie emigrieren. Die Osteuropäer, die solche Angst davor haben, sollten das am besten verstehen, meint Ivan Krastev in der NZZ. Die in Polen, Ungarn oder der Slowakei "im Gang befindliche Gegenrevolution begreift sich als Kampf zur Verteidigung der Normalität. Das Paradoxe daran ist, dass die liberale Revolution von 1989 sich selber auch als Revolution verstand, die Normalität schaffen würde. Die Migrationswelle, die in Ostmitteleuropa einen Backlash auslöste, ist in vielerlei Hinsicht der Zwilling der 'samtenen Revolutionen' von 1989. Im Rückblick erkennen wir, dass die damaligen osteuropäischen Revolutionen die ersten Revolutionen waren, in denen Migration wichtig war."

Steven Pinker, der gerade das Buch "Enlightenment Now - The Case for Reason, Science, Humanism, and Progress  veröffentlicht hat, erklärt im Gespräch mit Adam Rubenstein im Weekly Standard, warum Identitätspolitik nicht aufklärerisch ist: "Wenn sie über das Ziel der Bekämpfung von Diskriminierung und Unterdrückung hinausschießt, ist sie ein Feind der Vernunft und aufklärerischer Werte, und das betrifft ironischerweise auch die Suche nach Gerechtigkeit für unterdrückte Gruppen. Vor allem anderen beruht Vernunft auf der Annahme einer objektiven Realität und universeller logischer Standards. Wie Tschechow sagte, gibt es keine nationalen Multiplkationstabellen und es gibt auch keine für ethnische oder LGBT-Gruppen."
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