9punkt - Die Debattenrundschau

Das Modell des Auswegs

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.08.2015. Sascha Lobo fürchtet in Spiegel online: Durch das Netz entsteht Terrorismus. Georg Seeßlen prangert in der taz mit Blick auf die Flüchtlinge und die Ausländerfeinde das Wuchern der Dispositive an. Der Schriftsteller Dietmar Krug spricht sich im Standard entschieden gegen den Begriff der "Sexarbeit" aus. Die Zeit bringt neue Erkenntnisse über das "coole System" von NSA und Verfassungsschutz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.08.2015 finden Sie hier

Europa

Die Ungarn fühlen sich von den Flüchtlingen belästigt. "Und wie sieht die Zauberformel des ungarischen Premierministers aus?", fragt Hélène Bienvenu in Slate.fr: "Ein Stacheldrahtzaun von 175 Kilometer Länge, errichtet entlang der Grenze zu Serbien. Ungarn tritt also nach Griechenland, Bulgarien und Spanien in den Club jener EU-Länder ein, die über eine solche Einrichung verfügen. Und es schlägt sie sogar mit der Länge des Zauns."

Kim Lane Scheppele kommentiert dazu in Politico.eu: "Wenn die EU nichts zu der ungarischen Lösung der Flüchtlingsfrage sagt, wird ihr Schweigen als grünes Licht erscheinen."
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Internet

Sascha Lobo ist inzwischen ganz auf jene Seite übergetreten, die "das Netz" als den entscheidenden Faktor für die ausländerfeindlichen Bewegungen ansieht. In seiner Spiegel-Online-Kolumne scheibt er: "Genau jetzt findet in Deutschland ein Defining Moment statt, eine der Situationen, die eine Generation prägen können. Aus einem diffusen und rassistischen Mob, aus Leuten, die hauptberuflich deutsch sind und sonst nichts, gerinnt eine terroristische Bewegung. Und das Internet, die sozialen Medien spielen dabei eine wichtige, vielleicht entscheidende Rolle."
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Ideen

Schon seltsam, wie sich unsere Intellektuellen mit der Flüchtlingsfrage auseinandersetzen. Georg Seeßlen sagt in der taz seine erwartbaren Sachen, aber dann kommt"s abstrakt: "Die Dispositive "wuchern", so Agamben; im Leben des Einzelnen wie der Gesellschaft gibt es keinen Moment, in dem sie nicht wirken. Dispositive verdrängen nach und nach alle anderen Formen von Kommunikation und Wahrnehmung, vor allem die von Demokratie, Aufklärung und Humanismus geprägten, die Theorien, die Debatten, die Kritik, am Ende, wer weiß, das Denken selber."

Recht verschwurbelt klingt auch, was der Wuppertaler Philosophieprofessor Peter Trawny in der FAZ schreibt. Die Begriffe Humanismus und Solidarität serviert er ab und erkennt auf einen "auf Hochtouren laufenden Kapitalismus, in dem der am meisten profitiert, der am intelligentesten agiert. Freilich liegt genau hier das Problem. Was wir mit der großen Geschichte Europas verbinden - die Ideen von Athen, Jerusalem, Rom und Paris -, hat eine universale Emanzipation hervorgebracht, die sich im Universalismus von Technik und Kapital eine entsprechende Welt zu bauen verstand." Ach so!

Im zweiseitigen Zeit-Interview spricht der von Seeßlen bemühte Giorgio Agamben über Europa, die Kapitulation der historischen Kräfte vor der Ökonomie und die Neubelebung der Zukunft aus dem Geiste des Mönchsorden. Iris Radisch kommt Agambens Sprüngen kaum hinterher: "Ich glaube in der Tat, das Modell des Kampfes, das die politische Einbildungskraft der Moderne paralysiert hat, sollte durch das Modell des Auswegs ersetzt werden. Das ist, wie mir scheint, in Griechenland besonders deutlich geworden. Syriza musste kapitulieren, da sie sich auf einen aussichtslosen Kampf eingelassen hat und den einzig gangbaren Weg verworfen hat: den Austritt aus Europa. Selbstredend gilt dies auch für die individuelle Existenz. Kafka wiederholt es unermüdlich: Suche nicht den Kampf, sondern finde einen Ausweg. Offensichtlich hängen das faustische Modell des Kampfes und das kapitalistische Modell der Produktivitätssteigerung auf Engste zusammen."
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Kulturpolitik

Italien diskutiert darüber, ob das Kolosseum künftig gewinnbringend für Veranstaltungen genutzt werden soll, berichtet Henning Klüver in der NZZ. Hanno Rauterberg beklagt in der Zeit den Kleinmut der Berliner Senatsbaudirektorin Regula Lüscher in der Debatte um das Berliner Kulturforum.
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Geschichte

Ungarische Forscher glauben, das Grab des türkischen Sultans Süleyman der Prächtige gefunden zu haben, berichtet Boris Kálnoky in der Welt. Süleyman starb 1566 bei der Belagerung der Burg von Szigetvár in Südungarn und wurde auch dort beerdigt: "Nun muss nur noch gegraben werden. Am 1. September soll es losgehen. Dabei lebt bei aller Freundschaft zwischen Ungarn und Türken deren altes Ringen um Geltung in Szigetvár wieder auf. Es war die Türkei, die das schon seit 2013 laufende Süleyman-Projekt finanziell ermöglichte. Damit gingen aber genaue Vorstellungen einher: Ankara wollte eine Moschee, von den Osmanen in der alten Festung errichtet, nicht nur restaurieren, sondern mit einem neuen, 24 Meter hohen Minarett versehen. Es wäre das höchste Gebäude in Szigetvár geworden."
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Gesellschaft

Der Schriftsteller Dietmar Krug spricht sich im Standard entschieden gegen den Begriff der "Sexarbeit" aus: "Reicht ansonsten schon der bloße Verdacht des Sexismus aus, um einen Mann an den Pranger zu stellen, wird plötzlich beim offensichtlichsten Sexismus, beim Anspruch, den Körper der Frau als Ware zu benutzen, ein Freibrief ausgestellt."

Wie keine Lust auf Sex zu haben, zu einer Krankheit wurde, lernt Marie Schmidt in der Zeit aus der Geschichte um Flibanserin, das angebliche "Viagra für die Frau": "Die Bezeichnung trügt über den Unterschied hinweg, dass Viagra binnen einer halben Stunde auf die Blutzirkulation in den Geschlechtsorganen wirkt, während Flibanserin ein Psychopharmakum ist, das man über Wochen regelmäßig einnehmen muss. Viagra hilft dem Mann, der zwar will, aber gerade nicht kann, Flibanserin langfristig der Frau, die könnte, aber nicht will."
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Überwachung

Kai Biermann und Yassin Musharbash haben für die Zeit herausgefunden, dass auch der Verfassungsschutz sehr eifrig mit der NSA zusammengearbeitet hat. In einem Abkommen von April 2013 vereinbarten die Geheimdienstler Nutzungsbedingungen für die beliebte Spionagesoftware Xkeyscore: "In dem Papier heißt es: "The BfV will: To the maximum extent possible share all data relevant to NSA"s mission." Auf Deutsch: Das BfV verpflichtete sich, die mithilfe von Xkeyscore gewonnenen Informationen so weit wie möglich mit den NSA zu teilen. Das war der Deal: Daten gegen Software. Für den Verfassungsschutz war das ein schönes Geschäft. Die Überlassung der Software sei ein "Vertrauensbeweis", freute sich ein Beamter. Ein anderer nannte Xkeyscore ein "cooles System"."
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