Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
16.06.2004. Widmann will Anna Rheinsberg vor der Liebe retten, verfällt dem Prager Deutsch Vilem Flussers, tanzt mit Friedhelm Kamp zu europäischen Sonetten, lauscht den Entschuldigungen von Hannah Arendt und Uwe Johnson, bewundert die großartigen Fänge Gottfried Benns und befährt die Bundesautobahn von Johannes W. Betz. Lesen Sie den neuen Nachttisch.
Der Tag deiner Zunge

Die Erzählerin trifft einen Jugendfreund wieder. Sie werden wieder ein Paar. Jedenfalls so weit es ihnen möglich ist. Der Untertitel sagt es: es ist "eine Liebesgeschichte". Aufgeschrieben hat sie Anna Rheinsberg. Wer ihre Erzählungen kennt, der mag, wie sie Kesses und Kitschiges verbindet, wie sie springt zwischen starken Lyrismen und frechen Sprüchen. Wer das nicht mag, der liest ihre Geschichten nicht. Denn den Ton schlägt sie immer gleich auf der ersten Seite an, und sie lässt nie ab von ihm.

Die Erzählerin liebt den Herumstrolcher Basco. Sie stattet ihn mit Eigenschaften aus, wie nur die Liebe sie entdeckt. "Basco" ist eine Projektionsfläche. Er ist der Mann, vom dem die Erzählerin träumt. Sie liebt, wie er sitzt und wie er steht. Sie liebt seinen Rücken und sein Gesicht, und sie liebt, was er sagt und was er beschweigt. Sie schwärmt dabei nicht, sondern sie tut so, als handele es sich um nüchterne Tatsachenfeststellungen. So verblendet ist sie. Das ist rührend. Man möchte sie am Ärmel zupfen und ihr sagen: Schau, es ist nur ein Mann. Wie die anderen auch. Ein ganz normaler Mann mit ganz normalen Händen und einer ganz normalen Sprechfaulheit.

Aber das geht nicht. Denn die Erzählerin hat sich mit ihrem Basco in ihrem Buch versteckt, und da wird sie erst wieder herauskommen, wenn sie mit einem Flavio in einem anderen Buch auftaucht. Sie wird uns nicht erzählen, wie sie eines Tages, eines Nachts erkannte, wer Basco war, und wie schwierig es wurde, mit dieser Erkenntnis zu leben, und wie lange es dauerte, bis sie sich entschloss, mit dieser Erkenntnis und ohne Basco zu leben. Das wird die Erzählerin uns ersparen wollen, sie liebt die Liebe und das Verliebtsein zu sehr, um sich Zeit für die Trennung und die Erkenntnis zu nehmen. Ihrer kleinen, warmen Erzählung hat Anna Rheinsberg Zeilen der schmerzerfahrenen amerikanischen Dichterin Anne Sexton vorangestellt, die nicht vergessen werden sollten:

That was the day of your tongue,/
your tongue that came from your lips/
two openers, half animals, half birds,/
caught in the doorway of your heart.

(Das war der Tag deiner Zunge,/
deiner Zunge, die von deinen Lippen kam,/
zwei Öffnern, halb Tiere, halb Vögeln,/
festgehalten an der Schwelle deines Herzens.)

Anna Rheinsberg: "Basco - Eine Liebesgeschichte". Edition Nautilus, Hamburg 2004, 96 Seiten, 12,90 Euro, ISBN 3894014350.


Geschichte einer Stimme

Vilem Flusser wurde 1920 in Prag geboren. 1939 floh er vor den Nazis nach England. Ein Jahr später ging er nach Sao Paolo in Brasilien, wo er Kommunikations- und Wissenschaftsphilosoph wurde. 1972 floh er vor dem Militärregime und ließ sich in einem kleinen südfranzösischen Dorf nieder, das über einer steinzeitlichen Siedlung steht. 1991 kam er bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Seine Bücher wurden in den achtziger Jahren viel gelesen. Man wird in den kommenden Jahrzehnten nicht ohne sie auskommen. Aber auch der begeistertste Leser sollte Flussers CD über "Heimat und Heimatlosigkeit" hören. Sie ist ein großartiges Gegengift für alle nostalgischen Regungen der Gegenwart.

Flusser, der im Prager Deutsch aufwuchs, war dreiundsechzig Jahre alt als er das erste Mal auf Deutsch veröffentlichte. "Für eine Philosophie der Fotografie" hieß das Buch. Er war, wie er erzählt, darauf angewiesen, sich selbst immer wieder übersetzen zu müssen. Heimat, so macht Flusser klar, sind die Zwänge, die einem so früh angetan wurden, dass man sie nicht mehr als solche empfindet. Flusser erzählt von dem Versuch, aus Brasilien, diesem chaotischen Konglomerat, eine Heimat zu machen. Ein Versuch, an dem er beteiligt war, bis er merkte, dass er dabei war, sich und seiner neuen Umgebung Fesseln anzulegen, die zu nichts gut waren als zu verhindern, dass man klüger, weiser, menschlicher wurde.

Es gibt seine Bücher, in denen das alles steht und viel besser steht, als ich es referiere, aber es ist noch überzeugender, seine Stimme zu hören. Das alte Prager Deutsch, das hier und da überlagert wird von durch die Aneinanderreihung von a, u, und o in die Länge gezogenen brasilianischen Lauten, immer wieder ein auffälliger englischer Zwischenton. Und auch das Französische bricht manchmal durch, wenn ein ch auf ein i folgt. Flussers Stimme hat Flussers Geschichte aufgezeichnet, und wer ihr zuhört, der bekommt eine Ahnung davon, wie weit man sich von der Heimat entfernen kann, ohne sie los zu werden, und wer nicht nur hört, wie Flusser spricht, sondern auch darauf, was er sagt, dem wird klar, dass darin auch ein Fluch liegt.

Vilem Flusser: "Heimat und Heimatlosigkeit". 1 CD, c+p 1999 suppose Köln, 16,80 Euro, ISBN 3932513126.


Tanz der Vampire

Es sind zwei dicke Bände mit insgesamt fast eintausend Seiten. "Das europäische Sonett" heißen sie. Ihr Autor ist Friedhelm Kemp, der Essayist, Herausgeber und Übersetzer. Aus der Kunstgeschichte kennt man Lehrer, die einem die Augen öffneten, indem sie sich vor ein Bild stellten und einem zeigten, was sie sahen. Sie erklärten nicht viel, die kunsthistorische Literatur spielte kaum eine Rolle. Sie standen vor einem Tizian und sagten: "verrückt dieser knallrote Bademantel". Und mit einem Male war aus einem Jahrhunderte entfernten Bild ein Stück Gegenwart geworden. Man hatte es erkannt. Natürlich wusste der Lehrer und wussten die empfindlicheren unter seinen Schülern ganz genau, dass das kein Bademantel war, sie wussten, wie Kardinäle sich wo warum anzuziehen hatten, aber dieses Wissen hatte den Schülern immer wieder die Augen verklebt, so dass sie nicht sahen, mit welcher Lust Tizian in den Farbtopf gelangt hatte.

Friedhelm Kemps "Das europäische Sonett" ist eine Wanderung durch die Literaturgeschichte Europas - oder doch jedenfalls Italiens, Frankreichs, Spaniens, Englands und Deutschlands - , bei der der 1914 geborene Friedhelm Kemp den Leser aufmerksam macht auf Dinge, die ihm in seinem Jahrzehnte langen Umgang mit Sonetten wichtig wurden. Das Buch schreitet in sechshundert Einzelanalysen die Sonettgeschichte chronologisch ab. Davon abgesehen ist es angenehm unsystematisch. Kemp springt vor und zurück. Er assoziiert. Das Buch wurde nicht geschrieben, sondern gesprochen. Das ist, hat man sich erst einmal daran gewöhnt, eine erhebliche Erleichterung. Man folgt dem behenden Erzähler Kemp gerne auch auf verschlungenen und scheinbar verschlingenden Seitenwegen, weil man durch die Buchseiten hindurch einer hingerissenen, hinreißenden Stimme zuhört.

Man verfolgt besonders gerne, wie Sonette auf Sonette antworten. Manchmal sind es witzige Dialoge, die gleich zu Beginn der Sonettgeschichte die Autoren Dante Aligheri, Guido Cavalcanti (Gedichte italienisch und in der englischen Übersetzung von Ezra Pound), Cino da Pistoia (Gedichte) und Dante da Maiano (Gedichte italienisch und italienisch-englisch) mit einander führten, dann wieder greifen Autoren auf, was Jahrhunderte vor ihnen gedichtet wurde und machen sich einen neuen Reim darauf. Friedhelm Kemp kennt das nicht nur alles, sondern es scheint ihm auch stets präsent zu sein. Friedhelm Kemp ist kein unter Büchern begrabener Hieronymus im Gehäus, er tanzt zwischen den toten Dichtern. Seine Grazie erweckt sie, und sie tanzen mit ihm. Er haucht ihnen sein Leben ein, und sie beleben ihn.

Die Gedichte sind eingebettet in Kemps Vortrag. Sie stehen da in der Sprache, in der sie geschrieben wurden und - meist - in einer deutschen Fassung. Die konzentriert sich oft auf die Mitteilung des Inhalts, sodass es unbedingt erforderlich ist, dass man, auch wenn die Fremdsprachenkenntnisse noch so rudimentär sind, immer auch die Originalversion liest. Kemp bringt einem bei, sich Zeit zu lassen. Wer am Anfang glaubt, er müsse sich durch die beiden Bände durchpflügen, der merkt schnell, wie wenig er davon hat. Er fängt dann von selbst an, das Original wenn schon nicht laut, so doch wenigstens nach Innen laut zu sprechen, und er wird immer wieder, hat er die Übersetzung gelesen, noch einmal zurückkehren zum Original, und er wird es wieder tun, wenn Kemp ihm zeigt, was er gerade gelesen hat, ohne es gelesen zu haben.

Manchmal sind es ganz kleine Bemerkungen, wie sein "das muss man mehrfach abhören. Es hat etwas von einer Fuge..." nach dem letzten Sonett der Meditation über den Tod von Jean de Sponde (1557-1595) (Gedichte). Friedhelm Kemps "Das europäische Sonett" argumentiert nicht. Es zeigt. Man muss es lesen, wie man Yoga-Lehrbücher liest. Es beschreibt Übungen. "Mehrfach abhören" ist eine der wichtigsten. Wir wären alle klüger und bessere Menschen, wenn wir uns darauf verstünden, mehrfach abzuhören.

Wer Kemp folgt, dem werden die Augen geöffnet. Auch für Dinge, die die meisten nicht so genau sehen wollen. Man lese dieses Sonett aus den "Theoremes sure le Sacre Mystere de nitre Redemption, de la Descente de Jesus-Christ aux Enfers et de sa Resurrection" (mehr) von Jean de la Ceppede (1548-1622):

"On vient a la main droite; elle a eu bel a teindre/
De sang le lieu du trou: il est plus loin pourtant;/
Puis les nerfs retires ont retire d'autant/
Et raccourci les bras, elle n'y peut atteindre./
Aussitot d'une corde on commence a l'etreindre,/
Puis a force on la tire, et la retire tant/
Qu'on la fait joindre au trou, ou le bourreau, plantant/
L'autre clou, fut pourpre du sang qu'il fit epreindre./
De meme au trou d'en-bas, les pieds demeurant courts,/
Les bourreaux ont de meme a la corde recours;/
C'est lors qu'on voit crouler cette belle structure./
Tout le corps se disjoint, et le dur craquement/
Des membres disloques et des nerfs la rupture/
Font croire qu'on veut faire un vif demembrement."

Die Übersetzung lautet:

"Jetzt kommt die Rechte dran; ob sie das Loch schon/
mit Blut färbt: dennoch, es ist zu weit entfernt./
Verzerrt der Nerv zerrt und verkürzt/
den Arm, der langt nicht hin,/
Sogleich mit einem Strick umwunden,/
reckt man und streckt ihn mit Gewalt,/
bis er das Loch erreicht; der Henker schlägt/
den andern Nagel ein, der ihn mit Blut bespritzt./
Auch unten die Füße bleiben zum Loch zu kurz,/
ein Strick muss auch hier den Schergen dienlich sein./
Da sieht man diesen schönen Bau zerbrechen./
Der Leib geht aus den Fugen, und das harte Krachen/
der ausgerenkten Glieder, der zerrissenen Nerven/
lässt uns lebendig ihn zerstückelt glauben."

Das ist großartig, und mit einem Male weiß man, wie nah uns die Zeit des dreißigjährigen Krieges ist. Es gibt so viele Hörbücher. "Das europäische Sonett" wäre eines, das ich sofort und immer wieder hören würde. Der agile, schöne Greis Friedhelm Kemp sollte selbst sprechen und die besten Sprecher der anderen Sprachen wären gerade gut genug auch für Quevedos virtuoses hohes Lied aufs Lesen:

Desde la Torre/
Retirado en la paz de estos desiertos/
Con pocos, pero doctos, libros juntos,/
Vivo en conversacion con los difuntos/
Y escucho con mis ojos a los muertos./
Si no siempre entendidos, siempre abiertos,/
O enmiendan, o fecundan mis asuntos;/
Y en musicos callados contrapuntos/
Al sueno de la vida hablan despiertos./
La grandes almas que la muerte ausenta,/
De injurias de los anos, vengadora,/
Libra, oh gran don Josef!, docta la emprenta,/
En fuga irrevocable huye la hora;/
Pero aquella el mejor calculo cuenta
Que en la leccion y estudios nos mejora.

auf deutsch:

Aus dem Turm/
Fernab der Welt in meinem Einödfrieden,/
Mit wenigen, weisen Büchern reich versehen,/
Üb ich mich, mit den Toten umzugehen,/
Und schauend lausche ich den Abgeschiedenen./
Nicht stets begriffen zwar, geöffnet immer,/
Sind hilfreich sie dem eigenen Tun zu willen,/
Und kontrapunktische Musik der Stillen/
Dringt in den Lebenstraum als wache Stimme./
Die großen, durch den Tod entrückten Seelen,/
Läßt, Rächerin der Zeit und ihrer Wunden,/
Die weise Druckkunst aus dem Grab erstehen./
In unhaltbarer Flucht jagen die Stunden;/
Doch jene soll allein ein Glücksstein zählen,/
Die überm Lesen lernend und gefunden."

Friedhelm Kemp: "Das europäische Sonett", 2 Bände. Zusammen 984 Seiten, gebunden, 119 Euro, Wallstein Verlag, Göttingen 2002, ISBN 3892444811.


Lesespuren

Im Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Uwe Johnson geht es meist darum, Verabredungen zu treffen oder sich dafür zu entschuldigen, dass die vereinbarten Treffen wieder einmal nicht zu Stande kamen. Die Korrespondenz beginnt mit einer Postkarte Hannah Arendts an Uwe Johnson vom 22 Juni 1967. Sie endet am 27. August 1975 nach 161 Seiten mit einem Brief Uwe Johnsons. Der Leser erfährt nichts über den Vietnamkrieg, nichts über die Studentenbewegung, nichts über die Welt, in der die beiden lebten. Das Private bleibt ebenso ausgespart. Was schreiben die beiden einander? Uwe Johnson bittet um Vergebung dafür, dass er Hannah Arendt in den "Jahrestagen" auftreten lässt. Hannah Arendt bittet um Vergebung dafür, dass sie nicht die Laudatio bei der Büchnerpreisverleihung halten wird. Man erfährt von Schlampereien des Suhrkamp-Verlages, von dem Ärger, den Autoren mit ihren Verlegern haben. Alles deutlich unter dem Niveau beider Korrespondenten.

Die Briefe beginnen mit "lieber Uwe" und mit "liebe Hannah". Sie haben einander sicher gemocht. Man spürt, das macht einen wesentlichen Reiz dieser Korrespondenz aus, so etwas wie einen Hauch erotischer Anziehung, aber auch das ist nur eine kleine Hintergrundmelodie. Im Vordergrund geht es um Termine, um Praktisches. Es werden keine Konfessionen ausgetauscht. Die Bücher, an denen man sitzt, werden kaum debattiert und die zugeschickten eigenen Arbeiten werden von Hannah Arendt zwar - so erklärt sie - aufmerksam gelesen, Uwe Johnsons Arendt-Exemplare dagegen weisen - so die Herausgeber - in den meisten Fällen "keine Lesespuren" auf.

Die beiden haben bei ihren Treffen, so schreiben sie, viel mit einander gelacht. Im Briefwechsel merkt man davon kaum etwas. Hier scheinen sie vor lauter Achtung vor einander nicht zueinander kommen zu können. Der 28 Jahre jüngere Johnson hat niemals aufgehört zu spüren, dass er intellektuell Hannah Arendt nicht gewachsen war. Aber wer wäre das gewesen? Aber auch Hannah Arendt traute sich nicht recht. In einem sehr schönen Brief schreibt sie am 7. Februar 1972 an Uwe Johnson, der bei ihr zu Besuch gewesen war: "Ferner möchte ich melden, dass ich eigentlich gleich nach Ihrem Auszug angefangen habe, die Jahrestage ernsthaft und hintereinander zu lesen. Als Sie da waren, konnte ich das schlecht. Sie waren mir sozusagen im Wege. Ich bin nun der monatelang wohl erwogenen Meinung, von der ich vergeblich hier und da noch etwas abzukratzen versuchte, dass dies wahrhaftig ein Meisterwerk ist. (Sie verstehen, dass ich nicht in Ihrer Gegenwart lesen konnte. Denken Sie doch bitte wie unwahrscheinlich es ist, den Autor eines Meisterwerkes im Gästezimmer zu haben!)"

Es gibt kaum noch einen so sprechenden Brief in dieser Korrespondenz. Dennoch ist die Lektüre ein Vergnügen. Das ist das Verdienst der Herausgeber Eberhard Fahlke und Thomas Wild, die auch noch der zartesten Anspielung nachgegangen sind und auch über völlig in Vergessenheit geratene Zusammenhänge aufklären. Der Brief zum Beispiel, den Johnson Arendt am 9. Mai 1974 ins Krankenhaus schickt, wäre völlig unverständlich ohne ihre Erläuterungen. Der ironische Ton Johnsons wird dank dieser Zugaben auch vom taubsten Leser dechiffriert, und Johnsons sarkastische Bemerkung über Günter Grass wird verständlich, wenn man liest, dass der damals den Sturz Willy Brandts über Guillaume mit dem Allendes in Chile verglich. Es ist schön, dass der Passus, auf den Johnson sich bezog, mit abgedruckt ist. Man sieht dann, dass Grass sich in Rage schrieb und sich gewissermaßen aus lauter Vernunft hineinsteigerte ins Absurde: "Der Sturz der Regierung Dubcek und der Sturz der Regierung Allende stehen auf einem Blatt; Kommunismus und Kapitalismus signierten den Terror einträchtig. So erheblich sich die politischen Voraussetzungen in Chile und in der Tschechoslowakei unterscheiden mögen, so fatal gleichen sich dennoch die Hauptmachteinflüsse in allen drei genannten Bereichen. Auch ist der Ansatz zur Reformpolitik, der weitergedachte Versuch, den Sozialismus auf demokratische Weise zu verwirklichen, bei Alexander Dubcek, Salvador Allende, Willy Brandt ähnlich begründet gewesen, weil sich alle drei genannten Politiker der Tradition der Aufklärung und insbesondere der Toleranz verpflichtet sahen."

Es ist sehr schön dergleichen nachlesen zu können. Johnsons Gänsehaut wäre sonst unverständlich geblieben. In den Anhang haben die Herausgeber verschiedene Fassungen von Johnsons Büchnerpreisrede gestellt und andere Texte des Autors. Abgeschlossen wird die Ausgabe von einem den Leser über die Beziehung der Korrespondenten aufklärenden Nachwort.

Hannah Arendt - Uwe Johnson: "Der Briefwechsel 1967-1975". Herausgegeben von Eberhard Fahlke und Thomas Wild. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2004, 342 Seiten, s/w Fotos, 18,90 Euro, ISBN 3518415956.


Leibsverwandtschaften

Die Stuttgarter Ausgabe der Werke Gottfried Benns liegt jetzt abgeschlossen vor. Band VII ist in zwei Teilbänden erschienen und enthält "Szenen und andere Schriften", den Nachlass und ein Register. Es ist anregend in diesen Bänden zu stöbern, weil Frühestes und Spätestes ganz nahe bei einander stehen. Der Leser entdeckt Dinge bei Benn, die ihm bisher entgangen waren. Da ist zum Beispiel der Text "Gespräch" aus dem Jahre 1910. Er erschien am 28. Mai in "Die Grenzboten", einer Zeitschrift, in der man Benn niemals vermutet hätte. Er war damals 24 Jahre alt und dies war seine erste Prosaveröffentlichung. Im "Gespräch" geht es darum, wie richtig zu dichten ist, was das Dichten denn sei. Benns Kronzeuge ist der angeschwärmte Jens Peter Jacobsen (Gedichte). Das ist schon verblüffend genug. Das "Gespräch" selbst ist auch eine Jugendstilblüte. Aber sie strebt in eine andere Richtung. Es geht dem Autor um eine Verwissenschaftlichung der literarischen Produktion. Noch aber weiß er nur, was er will. Noch kann er es nicht. Er hat seinen Ton noch nicht gefunden. Er zitiert noch den der ihn umgebenden Gegenwart. Er weiß, wonach ihn verlangt, er schnappt in die Richtung, aber noch hat er nichts. Das ist schön anzusehen und keine Sekunde lang traurig, denn man hat ja in den früheren Bänden gelesen, welche großartigen Fänge Benn wenige Jahre später gemacht hat.

Gleich anschließend an diesen frühen Dialog kommt einer aus dem Jahre 1930 "Können Dichter die Welt ändern?". Er basiert möglicherweise auf einem Gespräch, das Benn und Becher im Rundfunk führten. Aber während es im wirklichen Leben nur zu einem Austausch von Standpunkten kam, versucht Benn hier in der Fiktion einen Dialog, bei dem er seinen Standpunkt, dass Dichter nämlich die Welt nicht nur nicht ändern können, sondern dass sie es auch nicht tun sollen, so klar wie möglich heraus arbeitet. Er streitet dem Autor nicht einen Moment lang das Recht ab, sich in die Politik einzumischen, aber er sollte, so Benn, sich darüber klar sein, dass er das aus Liebhaberei tut. Es hat mit seiner Kunst nichts zu tun. Es darf mit ihr nichts zu tun haben. "Schriftsteller, deren Arbeit auf empirische Einrichtungen der Zivilisation gerichtet ist, treten damit auf die Seite derer über, die die Welt realistisch empfinden, für materiell gestaltet halten und dreidimensional in Wirkung fühlen, sie treten über zu den Technikern und Kriegern, den Armen und Beinen, die die Grenzen verrücken und Drähte über die Erde ziehen, während doch der Dichter prinzipiell eine andere Art von Erfahrung besitzt und andere Zusammenfassungen anstrebt als praktisch wirksame und dem sogenannten Aufstieg dienende." Man liest diese Zeilen und denkt: Anders hat Lenin auch nicht darüber gedacht als er die Dichter die "Ingenieure der Seele" nannte. Er versah das nur mit einem positiven Vorzeichen. Dann blättert man vier Seiten zurück und liest wie Gottfried Benn (Gedichte) als Vierundzwanzigjähriger ganz nahe daran war an dem, was er zwanzig Jahre später erklärte, und wie fern er dem gleichzeitig war, als er sein Vorbild, den Dichter Jacobsen, am Mikroskop schilderte: "Wie das Leben, aufgegipfelt in eines seiner subtilsten Exemplare, in dem das Seelische, das Zerebrale sich aufgefasert hat in seine feinsten und äußersten Vibrationen, sich über ein anderes Leben beugt: dumpf, triebhaft, feucht, alles eng beieinander, und wie doch beide zusammengehören und durch beide die eine Welle läuft und wie beide leibsverwandt sind bis in die chemische Zusammensetzung ihrer Säfte."

Gottfried Benn: "Sämtliche Werke - Stuttgarter Ausgabe, Band VII/1 Szenen und andere Schriften, Band VII/2, Nachlass und Register". Herausgegeben von Holger Hof. Klett-Cotta, Stuttgart 2003, Leinen mit Schutzumschlag, zusammen 1374 Seiten, gebunden, 70 Euro, ISBN 3608957006.


Heilsgeschichte

Johannes W. Betz schreibt Drehbücher. "Bundesautobahn" ist sein erster Roman. Man ist allerdings bereit, alles, was man hat, darauf zu verwetten, dass dieser Roman als Drehbuch begonnen hatte. Das wurde abgelehnt, wahrscheinlich, weil das Verfilmen gar zu aufwendig gewesen wäre. Betz war wütend und wollte den Kerlen zeigen, was für eine tolle Story das ist. Wenn alles so klappt, wie er sich das gedacht hat, werden jetzt Produzenten an ihn herantreten und ihn danach fragen, ob sie das Buch nicht verfilmen dürfen.

"Bundesautobahn" ist ein bundesrepublikanisches Roadmovie. Eine Bankräuberin und ihre Geisel entkommen glücklich der Polizei und erfahrenen Großkriminellen, die ebenfalls hinter ihnen her sind. Die Geschichte zu erzählen, bin ich nicht in der Lage. Sie lebt davon, dass die verschiedenen Handlungsstränge sich immer wieder in die Quere kommen. Das führt jedes Mal zu Mord und Totschlag und zerstörten Autos. Man kennt das aus amerikanischen Filmen. Warum soll das nicht auch bei uns funktionieren? Es funktioniert. Ich jedenfalls habe das Buch in einer Nacht durchflogen und hoffe auf einen Film, bei dem ich nur eineinhalb oder höchstens zwei Stunden brauche für die Verwicklung und die Entwicklung der Handlung.

Es ist eine Heilsgeschichte. Die beiden Helden sind zunächst erzwungenermaßen bei einander. Doch dann lernen sie sich - von Katastrophe zu Katastrophe mehr - lieben. Das hat eine große unfreiwillige Komik. Aber je mehr man liest, desto klarer wird einem, dass das Triviale daran einzig und allein darin liegt, dass das Schema aller Literatur so offen darliegt. Die Erzählung gibt dem blinden Geschehen einen Sinn. Sie macht es nicht nur verständlich, sondern sie macht es zu einem Schicksal, das die höheren Mächte - also der Erzähler - seinen Helden antun. Alles dient ihrem Glück. Auch, ja gerade die alles und alle anderen erfassende Vernichtung. Das Heil ist nur für den Helden da. Der Rest darf, soll, muss draufgehen.

Johannes W. Betz: "Bundesautobahn". Roman, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2003, 410 Seiten, 12 Euro, ISBN 3499236060.