Vom Nachttisch geräumt

Martin Walsers 'Tod eines Kritikers'

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
05.06.2002. Vergessen Sie Reich-Ranicki. Er kommt nicht vor. "Tod eines Kritikers" ist eines der besten Bücher nicht nur von Martin Walser. Es ist nicht damit zu rechnen, dass diesen Sommer noch ein Witzigeres, Böseres und Schöneres erscheint.
"Tod eines Kritikers" ist eines der besten Bücher nicht nur von Martin Walser. Es ist nicht damit zu rechnen, dass diesen Sommer noch ein Witzigeres, Böseres und Schöneres erscheint. Jedenfalls nicht von einem deutschen Autor. Vergessen Sie Reich-Ranicki. Er kommt nicht vor. Der Mann heißt Andre Ehrl-König, kommt aus Frankreich und spricht kein jiddisch, sondern von "Literatür". Er hat eine Fernsehsendung, er liebt paradoxe Steigerungen und beherrscht den Literaturbetrieb durch die Kunst des Verrisses. Also doch Reich-Ranicki? Er war nicht im Ghetto, er ist kein Jude - nach seinem Tode wird überlegt, ob er es vielleicht gewesen sein könnte - , er trägt einen gelben Pullover und fährt einen dicken Wagen. Also nicht Reich-Ranicki.

Vor allem aber nicht Reich-Ranicki, weil Walsers Andre Ehrl-König viel besser ist als die doch eher komische Figur, die Reich-Ranicki heute macht. Andre Ehrl-König betritt die Halle im Haus seines Verlegers und schon steht er im Zentrum. Seine Gesten sind raumgreifend groß. Sie erinnern an Thomas Manns Hauptmann-Karikatur. Ehrl-König hat einen Körper und er setzt ihn ein. Eine Szene in Ehrl-Königs Sendung beschreibt Walser so: "'Aber Tennis interessiert mich nicht,' Martha schnell: 'Mich noch weniger'. Er noch schneller: 'Mich am wenigsten'. Beide schlugen ihre Handflächen gegeneinander wie Fußballer, die gerade per Zusammenspiel ein Tor geschossen haben."

Das ist eine typische Ehrl-König-Szene. Dieses Tempo bestimmt viele Seiten des Buches. Ich habe es gelesen zwischen neun Uhr abend und drei Uhr Nacht. Ich konnte nicht lassen davon. Der "Tod eines Kritikers" ist eine fulminante Satire - nicht auf eine Person, sondern auf einen Typus. Auf den, der Macht ausübt, um der Machtausübung willen. Ehrl-König ist nicht korrupt. Erkann nicht bestochen werden - nicht aus moralischen Gründen - sondern weil er immer der Herr bleiben muss, der, der bestimmt, der, der das letzte Wort hat.

Noch wird das Buch allein von den Insidern des Literaturbetriebes gelesen. Die gieren nach "Zügen", nach etwas, das sie wiedererkennen. Sie wollen sich darüber erregen, dass Walser abzeichnet und gleichzeitig darüber, dass er es nicht genau - differenziert - genug macht. Es ist ein pornographischer Blick. Gegen den ist nichts zu sagen als dass er sich bis zur Lächerlichkeit verguckt.

Martin Walser hat karikiert, was er kennt, also den Literaturbetrieb. Der Leser aber wird in Andre Ehrl-König und den Seinen die eigene Umgebung zur Kenntlichkeit entstellt wiedererkennen. Ehrl-König sagt immer wieder höchst amüsant dasselbe. Sein beschränktes Gestenrepertoire setzt er effizient ein. Er weiß Pointen zu setzen und er versteht sich auf das Wechselspiel von Verführung und Drohung. Wie andere Topmanager auch. Und auch Ehrl-Königs keinen Zweifel kennende Selbstgewissheit, seine restlos enthemmte Selbstverliebtheit, ist den meisten aus ganzen anderen Betrieben als aus denen der Literatur nur zu geläufig.

Der Wunsch, diese Hohlfigur Ehrl-König zu töten, ist den meisten Menschen vertraut. Man hat solche Anfälle und in bestimmten Situationen, die mehr mit der Konjunkturlage als mit der Frequentierung des Ethikunterrichts zu tun haben, häufen sie sich. Aber nur in den seltensten Fällen kommt es zur Tat. Tritt sie ein, wird gerne die Phantasie für sie verantwortlich gemacht. Man ruft dann nach Phantasieverboten. Die meisten von uns haben freilich die umgekehrte Erfahrung gemacht. Die Phantasie setzt sich an die Stelle der Tat. Ein Phantast ist einer, der bestens ohne die Tat auskommt. Er braucht sie nicht mehr. Sie kann nie so schön sein, wie das, was er sich erdacht hat. Sie bleibt zurück hinter dem Schwung und der Eleganz, die allein die Phantasie ihr gibt.

Schwung und Eleganz hat Walsers Erzählung von einer Tat, die nicht einmal in seiner Erzählung stattgefunden hat. Ehrl-König wird ja im "Tod eines Kritikers" nicht umgebracht. Er war nur ein paar Tage weg und das setzte die Phantasien von Öffentlichkeit, Betrieb und Polizei in Gang. Mitten im satirischen Brio von Walsers Erzählung sind Stellen einer altmodischen, beschwörend zarten Schönheit, die zur grobianischen Haupterzählung einen effektvollen Kontrast bilden. Zum Beispiel wenn er eine Tapete beschreibt: "Diese manirierten, eingebildeten Hirsche mit ihren etwas zu groß geratenen Geweihen. Und lassen sich von Schimpansen streicheln und belehren. Und Blumen, von denen jede aussieht, als sei sie die einzige Blume der Welt, und das wisse sie. Und Vögel, die einmal nicht selber singen, sondern zuhören. Aber wem! Schmetterlingen hören sie zu. Und die steigen auf aus einem goldenen Grund, der die Welt ist."

Ein Buch zu schreiben, ist eine bewährte Technik, deutlich mehr Zuhörer zu haben als Diskutanten. Ein Autor ist vielleicht vor allem einer, der ungestört vom Gezwitscher der anderen - gewaltfrei - unwidersprochen sagen möchte, was und wie er will. Der Kritiker ist also schon darum sein natürlicher Feind. Aber die Sehnsucht danach, dass einem zugehört wird, ist keine Autorenmarotte.

Im siebten Kapitel des Romans besucht der Erzähler Rainer Heiner Henkel und seine Schwester Ilse-Frauke von Ziethen. Eine hinreißende Passage. Die beiden sitzen auf dem Sofa wie zwei Vögel, "lange Hälse, schmalste Gesichter, ruckartige Kopfbewegungen, große Augen, seine Hände wie sich entfalten wollende Flügel. Sie anwesend mit der sanften Betulichkeit, die man bei Vogelweibchen beobachten kann, am meisten bei Enten."

Diese Zeilen sind eingebettet in eine raffinierte Erörterung der Macht. Professor Rainer Heiner Henkel, ein langjähriger, ehemaliger Freund des Ehrl-König betrachtet diesen nämlich als sein Geschöpf. In jahrelangen, oft ganze Nächte ausfüllenden Gesprächen habe er diesen erst mit jenem Arsenal an Witzworten, an Kenntnissen und Gesten munitioniert, mit dem Ehrl-König heute alle seine Kontrahenten, darunter auch ihn, Rainer Heiner Henkel, vor jedem beliebigen Publikum lächerlich machen könnte. Der Mächtige hat sein Charisma billig erworben. Er ist ein Popanz, den ein anderer in die Kamera hält, einer, der keine Macht mehr hat über die von ihm aus allen möglichen Lumpen zusammengebastelte Vogelscheuche. Schöner sind Hoffart und Ohnmacht der Königsmacher wohl nie dargestellt worden als hier von Martin Walser. Seit Jahren wartet man auf einen Autor, der uns die Augen öffnet für die Komik der sich aufplusternden Macht, der mit dickem Pinsel ein kräftiges Bild der vom eigenen Selbst hingerissenen Verrücktheit ihrer Träger und dem erbärmlichen Zustand ihrer Zuträger malt. Jetzt haben wir ihn. Er heißt Martin Walser, und er ist 75 Jahre jung.

Martin Walser: "Tod eines Kritikers". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 240 Seiten, 19,90 Euro.