Efeu - Die Kulturrundschau

Unverschämt euphorisch

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24.06.2017. Total fasziniert blickt der Guardian auf Dekadenz und Flamboyanz in der Weimarer Kunst, der die Tate Liverpool eine große Ausstellung widmet. In der Welt erklärt Jan Wagner, warum er Gedichte nicht am Monitor verfassen kann. Die NZZ blickt mit De Stijl auf eine Welt reiner Formen und Farben. Spex feiert die Südstaatenband Algier, die dem Krach Empathie und Solidarität einbläut. Und die Nachtkritik erlebte mit Ersan Mondtags NSU-Stück "Das Erbe" die Kapitulation der Kunst vor dem echten Leben.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.06.2017 finden Sie hier

Kunst

Otto Dix: Liegende auf Leopardenfell, 1927. Foto: Tate

Politisch mag Weimar chaotisch gewesen sein, künstlerisch war die Zeit große Klasse, schwärmt Jonathan Jones im Guardian, völlig faszineirt von der Ausstellung "Portraying a Nation: Germany 1919-1933" in der Tate Liverpool: "No artist embodies Weimar more pungently than Otto Dix. If you think this era's reputation for 'decadence' is a stereotype created by the musical Cabaret, think again. Liza Minnelli had nothing on the original Weimar characters portrayed by Dix, from his chubby, flamboyant art dealer Johanna Ey to a rich gallery of sexual experimenters and prostitutes. One 1922 watercolour, in which a woman poses in a corset and stockings flourishing a whip in front of a bloodstained cross, is called Dedicated to Sadists. In a small, intense oil painting that pays homage to the kinky German Renaissance master Lucas Cranach, the goddess Venus is naked except for long, black leather gloves."

Weiteres: Erhellend findet Inga Barthels in Tagesspiegel auch die Ausstellung im Verborgenen Museum, die vergessene Künstlerinnen des früheren 20. Jahrhunderts wie Lotte Laserstein und Lou Loeber erinnert. In der NZZ diagnostiziert Christian Herchenröder akuten "Materialmangel" auf dem deutschen Kunstmarkt und gibt dem Kultugutschutzgesetz die Schuld daran.

Besprochen werden die Ausstellung "Klimt und die Antike" im Wiener Belvedere (Standard), die Alfred-Flechtheim-Ausstellung im Berliner Georg-Kolbe-Museum, die den Kunsthändler und seiner Leidenschaft für die Bildhauer seiner Zeit zeigt (SZ, FAZ) und die Ausstellung "Bikes" im Grassimuseum Leipzig (SZ).
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Musik

Mit ihrem zweiten, sehr eklektischen Album "The Underside of Power" zeigen sich die bereits vor zwei Jahren für ihr Debüt sehr gefeierte Südstaatenband Algiers prächtig gereift, freut sich Alexis Waltz in der Spex: Die Band sei "endlich ausformuliert", schreibt er. "Schmerz und Wut stehen sich in einem komplexen klanglichen Resonanzraum direkt gegenüber." Es geht der Band um die Gegenwart, erfahren wir zudem: "Das Hier und Jetzt ist für Algiers vor allem ein Ort der Ausgeschlossenen. Auf 'The Underside Of Power' wird dieses Außen in einem vielschichtigen Grundrauschen erlebbar. Doch es gibt Hoffnung: Ein unverschämt euphorischer, rotziger Sechziger-Jahre-R'n'B impft dem Krach Empathie und Solidarität ein." Diese Platte ist "unzweifelhaft das notwendige Album zur Zeit", sagt denn auch Karl Smith auf The Quietus. Hier eine Hörprobe:



Etwas schade findet es SZ-Kritikerin Juliane Liebert, dass die seit ihrem Debüt für viel Aufsehen sorgende Musikerin Lorde auf ihrem zweiten Album "Melodrama" produktionstechnisch an Druck und Wucht gängigen Radio-Pops angeglichen wurde. Völlig vereinnahmen ließ sich die Musik aber dennoch nicht: "'Melodrama' ist ein Mainstream-Album, das ab und zu kneift. Voller kleiner Ärgernisse - wie auf dem Kissen verschmierter Lippenstift." Sehr begeistert ist unterdessen Stacey Anderson: Eine wie Lorde gibt es nur einmal in jeder Generation, schreibt sie auf Pitchfork. Hier ein aktuelles Video:



Weiteres: Weil auf den Musikhochschulen alle nur noch von Inklusion reden und lieber Gemeinschaftserlebnisse zelebrieren statt sich zu individuellen Höchstleistungen anzuspornen, komme dem musikalischen Nachwuchs die Qualität abhanden, beklagen sich laut einer FAZ-Umfrage von Kerstin Holm diverse Pianisten und Lehrer von altem Schrot und Korn. In der Welt stellt Manuel Brug Alan Gilbert, den neuen Chefdirigenten des NDR Elbphilharmonie Orchesters, vor. In der SZ schreibt Peter Richter anlässlich des anhaltenden Erfolgs von Tomasso Albinonis (oder vielleicht auch Remo Giazottos) Adagio in G-Moll über das Kino als "erstklassige Reha-Klinik für totgenudelte Töne". Johan Schloemann berichtet in der SZ von der Trauerfeier zu Ehren von Joachim Kaiser, bei der Anne-Sophie Mutter und Igor Levit auftraten. The Quietus bringt einen langen Auszug aus Orlando Crowcrofts Buch über Metal im Nahen Osten. Der erste Berliner Jazzpreis geht an Gebhard Ullmann, berichtet Gregor Dotzauer im Tagesspiegel. Heinrich Dubel schreibt in der taz einen langen Nachruf auf Gunter Gabriel. Außerdem hat sich die SZ von DJ Boris Dlugosch eine Sommer-Playlist auf Spotify erstellen lassen, die Jan Kedves hier anmoderiert.

Besprochen werden das Berliner Konzert von Depeche Mode (taz), der Auftritt von Flying Lotus bei der Fête de la Musique in Berlin (taz), das neue Retro-Synthpop-Album von Com Truise (Pitchfork) und die Zusammenstellung "The Singles" von Can (Pitchfork).
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Literatur

Andreas Rosenfelders schwärmerisches Lob auf die Lyrik enthält die Literarische Welt der Online-Öffentlichkeit vor. Dafür hat es immerhin Mara Delius' Gespräch mit Lyriker Jan Wagner, der gerade mit dem Büchnerpreis ausgezeichnet wurde, ins Netz geschafft. Unter anderem erfahren wir, warum er seine Gedichte nicht vor dem Monitor schreibt: "Ich schreibe derart langsam, dass ich froh bin, wenn am Abend eine Zeile stehen bleiben kann. Also: Notizbuch und Kugelschreiber - auch, nein: vor allem deshalb, weil das Material am Bildschirm oder auf der ausgedruckten Seite schon zu starr, zu fest gefügt, zu endgültig wirkt, handschriftlich aber, mit Schlieren und Flecken, hingeschmiert und durchgestrichen, noch wandel- und formbar ist." In der FAZ berichtet Tilman Spreckelsen außerdem vom Auftakt der Frankfurter Lyriktage, zu dem Wagner einige seiner Texte las: "Wie sehr diese Lyrik darauf drängt, vorgetragen und gehört zu werden, teilte sich rasch mit."

Im literarischen Wochenend-Essay der FAZ erinnert Susanne Klingenstein an den russischen Satiriker Michail Saltykow-Schtschedrin, der sich im 19. Jahrhundert mit seinen bissigen Texten vor allem an der "erbarmungslosen Ausbeutung der Bauern, der tierischen Behandlung des Hauspersonals, der eiskalten Erziehung der Kinder und der täglichen Selbstberauschung der Herrschaft durch die Erfahrung absoluter Macht über Menschen" abarbeitete.

In zwei vom Standard übernommen Beiträgen der Zeitschrift Lichtungen bringen Ronald Pohl und Andrea Schurian ihren Abscheu vor dem Internet und was es der Literatur antut gründlich zum Ausdruck. Pohl vermisst den kundigen Bibliothekar und belesenen Literatur-Sachwalter, der durch die Suchmaschinen nur unzulänglich ersetzt werde: "Indem das Internet sich als gefräßiger Raum schlechthin produziert - und es produziert in der Tat nichts anderes als sein eigenes, permanentes Wachstum -, verlockt und provoziert es mit der Erreichbarkeit von Wissen. Als ob dieses ausfiele, oder seinen Namen nicht verdiente, sobald auch nur ein Bröckchen durch die Maschen des Netzes fiele. Den Dingen wird so der Lebenssaft entzogen." Und Schurian bekennt sich zur stolzen Verweigerung Sozialer Medien . "Offenbar bin ich hoffnungslos von vorgestern", schreibt sie. Man ist gewillt, dem zuzustimmen.

Weiteres: Was hat dich bloß so ruiniert, fragt sich Marc Reichwein in der Literarischen Welt angesichts der jüngsten Annäherungen Thor Kunkels an den rechten Rand, wo der einstige Skandalautor jetzt Werbung für die AfD macht. Wolfgang Büscher schreibt in der Literarischen Welt über Peter Handkes Zeichnungen. In der NZZ schreibt Thomas Ribi über das Verhältnis zwischen Eugen Diederichs und Carl Spitteler. Für die FR spricht Martin Oehlen mit Matthias Politycki über dessen Buch "Schrecklich schön und weit und wild - Warum wir reisen und was wir dabei denken". Matthias Heine wirft in der Welt einen Blick in den angekündigten neuen Duden.

Besprochen werden J. D. Vances "Hillbilly-Elegie: Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise" (taz), Stephan Lohses "Ein fauler Gott" (Tagesspiegel), Anna Haifischs Comic "The Artist" (Tagesspiegel), Tomas Venclovas "Der magnetische Norden" (Standard), Max Frischs "Wie Sie mir auf den Leib rücken! - Interviews und Gespräche" (SZ) und Ralf Königs Comic "Herbst in der Hose" über ein alterndes schwules Paar (FAZ, mehr dazu in diesem Gespräch auf Deutschlandfunk Kultur).
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Film

In Wien hat Bruce LaBruce vor Studenten gesprochen, berichtet Dominik Kamalzadeh im Standard. Auf Artechock ärgert sich Dunja Bialas darüber, dass das Filmfest München in diesem Jahr einen Großteil seiner Pressevorführungen eingedampft hat.

Besprochen werden der neue "Transformers"-Film (FR), Patty Jenkins' "Wonder Woman" (Freitag, unsere Kritik hier), der Dokumentarfilm "Life, Animated" (ZeitOnline, unsere Kritik hier) und die Netflix-Serie "Glow" über Wrestlerinnen (SZ).
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Bühne

Mit Entsetzen erlebt Willibald Spatz auf der Nachtkritik, was Ersan Mondtag an den Münchner Kammerspiele mit dem NSU-Stück veranstaltet, in dem es um die Menscheheit, die Schuld und eine schwangere Beate Zschäpe geht: "Mit dem Fortschreiten des Abends und dem immer größer werdenden Krawall, der auf der Bühne veranstaltet wird, beschleicht einen das Gefühl, einer groß angelegten Kapitulation der Kunst vor dem echten Leben beizuwohnen."

Weiteres: Verstört, aber beeindruckt kommt FAZ-Kritiker Simon Strauss aus der Performance "Heuvolk", das die Theatergruppe Signa in Mannheim bei den Schillertagen aufgeführt hat.

Besprochen werden Giorgio Strehlers wieberbelebte Inszenierung von Mozarts "Entführung aus dem Serail" in der Scala (NZZ), das Performing Arts Festival Berlin (Tagesspiegel) und das Dokumentar-Theaterstück "Grüne Wiese", das von der Stillegung der litauischen Atomreaktor erzählt (FAZ).
Archiv: Bühne

Design

Paul Andreas erinnert in der NZZ an die niederländische Avantgarde-Bewegung de Stijl, die vor hundert Jahren gegründet wurde: "Der abstrakte Maler Piet Mondrian und mit ihm die niederländische De-Stijl-Bewegung hatten vor ziemlich genau einem Jahrhundert erstmals vorgemacht, wie sich Kunst und Gestaltung im weitesten Sinne zu einem Vokabular elementarer Formen und reiner Farben systematisieren ließen, um daraus eine vermeintlich bessere, harmonischere Welt zu konstruieren."

Weiteres: Italiens Männermode steckt gerade in der Krise: einfallslos, zu teuer und dann auch noch in Rumänien gefertigt, berichtet Dennis Braatz in der SZ.
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