Efeu - Die Kulturrundschau

Biss ins Grabtuch

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.10.2017. Der Flaneur ist nicht ausgestorben, er ist nur von der Straße ins Internet abgewandert, erklärt Alain Claude Sulzer in der NZZ.  Der Standard sucht einen frischen Blick auf Rubens. Asterix in Italien ist in Hochform, freut sich die Welt. Das tiefste Schwarz und die schönsten Farben bewundert die taz im Yves Saint Laurent Museum in Marrakesch. Zeit online feiert Fred Hersch als intelligentesten und radikalsten Klaviervirtuosen des modernen Jazz.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.10.2017 finden Sie hier

Kunst


Haupt der Medusa, um 1617/1618, Peter Paul Rubens, Kunsthistorisches Museum Wien

Rubens mit neuem Blick zu sehen, das möchte Stefan Weppelmann, Direktor des Kunsthistorischen Museums in Wien mit der neuen Rubens-Ausstellung gern erreichen.  Anne Katrin Feßler geht für den Standard mit ihm durch die Ausstellung, lässt aber kaum überzeugen, dass der "Maler des Fleisches" auch poetisch war, surreal, gegenwärtig und abstrakt: "Dennoch sind sechs Säle intensivster Sehschule recht engagiert geraten, gilt es doch Rubens kreative Prozesse nachzuvollziehen, zu erkennen, wie er Einflüsse der Naturwissenschaft und kunstgeschichtliche Vorbilder verwandelt hat. 48 Gemälde und 33 Zeichnung des Barockmalers ... sowie Vergleichswerke von Meistern wie Tintoretto oder Tizian helfen dabei. Phänomenal ist, wie er aus Caravaggios 'Grablegung' (1604) eine dynamische Erzählung macht: Das drohende Herabfallen des Leichnams wird mittels Schienbein und einem Biss ins Grabtuch verhindert."

Besprochen werden außerdem die Gabriele-Münter-Ausstellung im Münchner Lenbachhaus (Weltkunst), die von Ersan Mondtag inszenierte Ausstellung "I am a problem" im Frankfurter Museum für Moderne Kunst (NZZ) und die Tintoretto-Ausstellung im Wallraf-Richartz-Museum ("Was in vielen von diesen Bildern auffällt, ist das Konzept von 'Öffentlichkeit'. Egal was passiert, wir sehen es, und wir sehen zugleich Menschen, die es ebenfalls sehen, und wir sehen, was noch interessan­ter ist, Menschen, die es nicht sehen", staunt Georg Seeßlen in der Zeit).
Archiv: Kunst

Bühne

Kunst, Aktivismus, Engagement - wer kann das trennen? Milo Rau jedenfalls nicht, bekennt der Regisseur selbst in einem langen Interview mit der Berliner Zeitung, auch wenn Kunst keine Realpolitik machen kann: "Aber es gibt ein Vorleben des Geistes, das uns hilft, durch die Imagination irgendwann neue Dinge tatsächlich zu realisieren. Insofern bin ich eher Hegelianer als Marxist. Der Schritt aus dem Imaginären hinaus in die konkrete Praxis ist für mich immer sehr zentral gewesen. Das heißt, wir können Neues schaffen, müssen nicht nur auf das Alte reagieren."

Besprochen werden Robert Carsens Inszenierung von Alban Bergs Oper "Wozzeck" am Theater an der Wien (Standard, neue musikzeitung, FAZ) und Sibylle Bergs "Viel gut essen" im Wiener Rabenhof (Presse, Standard).
Archiv: Bühne

Film



Ein Kunstkurator dreht an der political correctness durch: Ruben Östlands in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnete Satire "The Square" nimmt den Kunstbetrieb und gewisse Facetten des linksliberalen Kulturbetriebs aufs Korn. "In mehr als einer Hinsicht ist 'The Square' ein Film darüber, wie unsere säkulare, westliche Gesellschaft mit lauten, groben Stimmen umgeht", schreibt Barbara Schweizerhof dazu in der taz. "'The Square' hat fast etwas von einer Gag-Revue, in der Östlund Vignetten aus der modernen Alltagswelt aneinanderreiht. Ein sabberndes Baby, das Konferenzteilnehmer einfach ertragen müssen, oder der Mann mit Tourettesyndrom, der das Podiumsgespräch mit einer Künstler-Koryphäe durch Einwürfe wie 'Alles Müll' und 'Zeig mir deine Titten!' unterbricht: Tatsächlich kann sich Toleranz wie harte Arbeit anfühlen. Und vielleicht ist sie gar nicht immer die richtige Antwort auf Konflikte?"

"Schon nach zwanzig Minuten liegen sämtliche Metaebenen offen", schreibt Katrin Doerksen im Perlentaucher. Östlund gehe es mit seinem Film "um das wuchtige Aufeinanderprallen verschiedener Lebensrealitäten in einem Land, in dem nach Jahrzehnten einer beispiellos liberalen Einwanderungspolitik die fremdenfeindlichen 'Schwedendemokraten' glänzende Umfragewerte verzeichnen. Weil sich eine Gesellschaft durch Zuwanderung eben verändert, vor neue Herausforderungen gestellt wird. Offen bleibt fürs Erste, was die moderne Kunst dieser sich verändernden Stimmung entgegenzusetzen hat." Für die SZ hat sich Annett Scheffel mit dem Regisseur unterhalten.

Weiteres: Im Standard spricht Bert Rebhandl mit Hartmut Bitomsky über dessen neuen Essayfilm "Shakkei - Geborgte Landschaften", der auf der Viennale läuft. Detlef Kuhlbrodt empfiehlt in der taz einen Berliner Kinoabend zu Ehren von Christoph Schlingensief. Bert Rebhandl sichtet für den Standard russische Filme im Österreichischen Filmmuseum.

Besprochen werden Sunao Katabuchis auf DVD erschienener Animationsfilm "In the Corner of the World" (taz), Frederick Wisemans "Ex Libris" (Standard), Janus Metz' Sportlerfilm "Borg/McEnroe" (Perlentaucher, taz, SZ, Welt), Tomas Alfredsons "Der Schneemann" mit Michael Fassbender (taz) und Warwick Thorntons australischer Western "Sweet Country" (Standard).
Archiv: Film

Literatur

Der Flaneur auf den Straßen ist verschwunden. Aber ausgestorben ist er nicht, vielmehr ist er in neuem Gewand als Massenphänomen unterwegs, erklärt Alain Claude Sulzer in der NZZ und stimmt eine wunderbare Eloge aufs Internet an: "Der moderne Flaneur sitzt vor dem Bildschirm. Ihn schlägt nicht weniger als die Welt in ihren Bann. Bilder und Wörter halten ihn gefangen. Gierig nimmt er auf, was sich ihm bietet: Neuigkeiten, Gesichter, Körper, Aussagen jeder Art, Lügen, Wahrheiten, Dinge, die er nicht wissen will, Dinge, von denen er bisher nichts ahnte, Menschen, die er nicht kennt und niemals wirklich kennenlernen wird. Alles wird ihm unvermittelt ganz vertraut. Wie Goethes dichterisches Ich schlendert der Flaneur im Internet 'so für sich hin' und lässt die Gedanken, die an diesem oder jenem Gegenstand hängenbleiben, schweifen; vor ihm eröffnet sich eine Flut an Verknüpfungen, die in Wellen wieder über ihm zusammenschlagen."


Flott: "Asterix in Italien" von Didier Conrad und Jean-Yves Ferri

"Asterix in Italien", der mittlerweile dritte "Asterix"-Band des neue kreativen Gespanns Didier Conrad und Jean-Yves Ferri, erfreut die Feuilletons. Den beiden ist "ein richtig gelungenes Gallier-Abenteuer" geglückt, schreibt Marc Reichwein in der Welt: Sie steigen "in Sachen Plot, Ironie und Innovation zur Hochform auf." Es geht um ein Wettrennen quer durch Italien, erfahren wir von Marina Knoben in der SZ, die hier eine Hommage an die Klassiker von Uderzo und Goscinni vorliegen sieht: "Conrad hat das souverän gezeichnet, im Stil Uderzos, nur noch ein wenig dynamischer!" Auch Patrick Bahners von der FAZ stellt ein erhöhtes Erzähltempo fest, das ihm die beiden Macher auch bestätigen: "Es war der Ehrgeiz von Ferri und Conrad, 'eine Geschichte ohne Zwischenstopp' zu erzählen", schreibt er. "Symbol dafür ist die Ausrichtung des Wagens, den Obelix auf dem Markt in Vannes auf Kredit gekauft hat", der nämlich stets von links nach rechts dränge. "Erst im vorletzten Bild, nach dem Ende des Rennens, wird die Fahrtrichtung geändert." Weitere Kritiken im Tagesspiegel (hier) und in der NZZ (hier).

Wieland Freund freut sich in der Welt über den Booker-Prize für den texanischen Autor George Saunders: Er liefere "einer komplett irren Welt irre komplexe Geschichten, aber naturgemäß danken ihm dafür vor allem Künstler: Seit David Foster Wallace sich 2008 das Leben nahm, könnte Saunders in Amerika der meistbewunderte Kollege sein."

Weiteres: Benjamin Trilling besuchte für die taz von einer Berliner Veranstaltung mit Édouard Louis und Geoffroy de Lagasnerie. In Berlin sprach Orhan Pamuk über sein Museum der Unschuld, berichtet Lothar Müller in der SZ.

Besprochen werden Joe Fischlers "Veilchens Rausch" (Welt), Angie Thomas' "The Hate U Give" (FR), Thomas Medicus' "Nach der Idylle"(FR) sowie neue Bücher von und über Gerhard Roth (FR).
Archiv: Literatur

Design



Brigitte Werneburg besucht für die taz das Yves Saint Laurent Museum, das heute in Marrakesch eröffnet wird. Zu sehen sind dort 50 von Laurent gestaltete Kleider. "Obwohl sie Christophe Martin, der Szenograf des Hauses, nur mit wenig Licht konfrontiert, werden sie in Zukunft aus konservatorischen Gründen regelmäßig ausgetauscht. Was die schöne Folge hat, dass die ständige Sammlung doch immer wieder einen neuen Auftritt hat. Derzeit eröffnet eines der berühmten frühen Mondrian-Kleider den Reigen der Exponate, der zunächst selbst in tiefster Schwärze prunkt, etwa beim berühmten Smoking von 1966 oder dem Pea Coat mit den dicken goldenen Knöpfen, in den man sofort schlüpfen möchte. In der Zeit danach, als Saint Laurent Marrakesch entdeckt hatte, explodiert der Kleiderreigen in den schönsten Farben."


Archiv: Design

Musik

Der Pianist Fred Hersch gilt als Virtuose des Jazz - nachdem er sich in der Öffentlichkeit als schwul und HIV-positiv geoutet hatte, haftete ihm in der Szene jedoch lange Zeit ein Stigma an, erzählt Reinhard Köchl in seinem Porträt für ZeitOnline: Mit der eigenen Weltoffenheit und Toleranz ist es in der Szene offenbar nicht so weit her, wie viele sich das vorstellen. Ein selbstverschuldeter Verlust, denn "für seinen Stil gibt es kein vergleichbares Muster. Keiner versteht es nämlich derzeit, komplexe Zusammenhänge derart verblüffend einfach und klar auf dem Elfenbein darzustellen. ... Der vielleicht durchdringendste, klarste, intelligenteste und radikalste Klaviervirtuose des modernen Jazz öffnet ein Fenster in seine ganz private Welt, präsentiert Musik, die er normalerweise nur zu Hause spielt. Sie verrät eine Menge über das Seelenleben dieses Mannes." In diesem Konzertvideo kann man sich davon selbst ein Bild machen:



Außerdem: Hans Jörg Jans berichtet in der NZZ von den Asconeser Festwochen. Besprochen werden ein Konzert von Pat Metheny (FR), ein Konzert von Sophie Karthäuser (Tagesspiegel), Lucy Walkers Dokumentarfilm über die Abschiedstournee des Buena Vista Social Club (NZZ) und das neue Album von Courtney Barnett und Kurt Vile (Spex).
Archiv: Musik