Efeu - Die Kulturrundschau

Große, ehrliche Demut

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03.04.2024. Die Feuilletons trauern um die afro-karibische Autorin Maryse Condé, die im Alter von 90 Jahren gestorben ist. Wer mehr Drogen kennen möchte als die Apotheke, sollte sich nach Düsseldorf aufmachen zur großen Mike-Kelley-Schau, empfiehlt die FAZ. Ebenfalls die FAZ warnt davor, Architektur von ihrer Geschichte zu reinigen. Auf Medium wird eine Kasseler "Carmen"-Aufführung jenseits exotischer Männerfantasien bejubelt. Campinos Marsch durch die Institutionen ist am logischen Endpunkt angelangt, jubelt die Welt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.04.2024 finden Sie hier

Bühne

Badisches Staatstheater Karlsruhe - Tannhäuser. Michael Weinius, Dorothea Spilger, Ks. Armin Kolarczyk, Foto: Felix Grünschloß

Mutig inszeniert Vera Nemirova Richard Wagners "Tannhäuser", lobt Jan Bachmann in der FAZ. Und zwar, weil sie in ihrer Arbeit fürs Badische Staatstheater Karlsruhe nicht vor christlichem Pathos zurückschreckt. Auch musikalisch weiß die Aufführung zu überzeugen: Georg "Fritzsch dirigiert den 1845 uraufgeführten 'Tannhäuser' wirklich aus dem Geist des deutschen Vormärz heraus. Der Orchesterklang ist scharf gezeichnet und schlank, die Tempi sind durchweg zügig, wenn auch stets aufmerksam mit den Singenden geatmet wird. (...) Alle Chöre drängen nach vorn. Wilhelminische Üppigkeit ist durchweg vermieden. Die Bühne von Paul Zoller mit ihrer demolierten Decke eines alten Konzerthauses und den zerborstenen Musikinstrumenten verweist auf eine brüchig gewordene Kunst, die zwischen Sexindustrie und Unterhaltungswettbewerb nicht mehr viel gilt. Doch gerade sie macht Nemirova zum utopischen Ort, an dem Lust und Geist zueinanderfinden und wieder Sinn ergeben."

Berthold Seliger ist auf Medium begeistert von Florian Lutz' "Carmen"-Inszenierung am Staatstheater Kassel. Das Publikum wird hier nicht nur unterhalten, sondern regelrecht agitiert, und die Protagonistin erscheint in einem neuen, dabei durchaus dem Geist des Originals verpflichteten Licht, so Seliger: "Für einmal wird diese Carmen nicht als zur Femme fatale degradierte exotische Männerfantasie interpretiert, sondern als selbstbewusste Rebellin, die sich ihr Freiheitsrecht nicht nehmen lässt und gegen bürgerliche Normen agiert und agitiert. Und die dennoch voller Widersprüche ist - wie für viele ihrer Mitstreiterinnen ist auch für sie Liebe nur wenig mehr als 'fumée', also heiße Luft; 'L'amour est un oiseau rebelle', sie ist wie ein wilder Vogel. Dennoch ist Carmen eine radikal Liebende, allerdings ohne ihr Selbstbewusstsein zu verlieren."

Sophie Klieeisen berichtet in der FAZ über die desolaten Arbeitsbedingungen an deutschen Stadttheatern. Die Löhne zum Beispiel für Regisseure sind zu niedrig, das weiß jeder, daran ändern wird sich bis auf Weiteres nichts, auch nicht durch eine vom Bundeswirtschaftsministerium und der Kulturstaatsministerin in Auftrag gegebene Studie, glaubt sie. "Aus der gedachten Ästhetisierung der Welt ist längst eine Ökonomie der Ästhetik geworden. '50 Prozent weniger Beschäftigte machen 50 Prozent mehr Arbeit zu 50 Prozent weniger Honorar im Vergleich zur Zeit vor 30 Jahren', dieser Merksatz ist ein offenes Geheimnis. Für die Theater bedeutet das: Multiplizierung der Formate, Verkürzung der Produktionszeiten, Steigerung der Produktionszahlen, des Drucks, der Belastung. Für viele Junge Anlass, das ganze System infrage zu stellen. Das Frustlevel insbesondere junger Regisseurinnen ist hoch."

Weitere Artikel: Bernd Noack unternimmt in der NZZ einen Streifzug durch die Geschichte des Wiener Theater in der Josefstadt. Für die taz Nord unterhält sich Nina Christof mit Jule Martenson, die das im Kaisersaal des Hamburger Rathauses aufgeführte Stück "PubliCum Ex. Prädikat: Rechtstreu" dramaturgisch betreut. Michael Wolf sorgt sich auf nachtkritik um die Originalität in der Gegenwartdramatik. Manuel Brug resümiert in der Welt die jüngste Opernfestspielsaison.

Besprochen werden Richard Strauss' "Elektra" in Baden-Baden ("blitzschnell, aufbrausend, mal zusammenkauernd, mal lauernd, intelligent, elegant, schnurrend, hackend oder würgend, heimtückisch, schmeichelnd, Erotik, Blutrausch", lobt Reinhard J. Brembeck die Aufführung mit Kirill Petrenko am Pult), Davor Vinczes Kammeroper "Freedom Collective" am Theater Bremen ("unvorteilhafte Kostüme und saudumme Regiekonzepte", ärgert sich Benno Schirrmeister in der taz) und Amilcare Ponchiellis Oper "La Giaconda" bei den Salzburger Osterfestspielen (van).
Archiv: Bühne

Literatur

Maryse Condé, 2008 (Bild: MEDEF, CC-BY-SA 2.0)

Maryse Condé ist im Alter von 90 gestorben. "An die zwei Jahrzehnte" dürfte die 1934 auf der französischen Karibikinsel Gouadeloupe geborene Schriftstellerin französischer Sprache "als ewige Favoritin auf den Literaturnobelpreis gehandelt worden sein", schreibt Rudolf von Bitter in der SZ. Sie wäre im Erfolgsfall nach Derek Walcott und V.S. Naipaul die dritte afro-karibische Autorin gewesen, der diese Ehre zuteil geworden wäre. Doch "Condé hatte einen vollkommen anderen Zugang zum Erzählen, nicht so auftrumpfend wie Walcott, nicht so melancholisch wie Naipaul. Ihr zweibändiger historischer Roman 'Ségou' folgt den Spuren ihrer afrikanischen Vorfahren", sie "formte auf eine vollkommen eigenständige Weise die Veränderungen und Umwälzungen Westafrikas zur Zeit des Sklavenhandels und des sich ausbreitenden Islams mit geschichtswissenschaftlicher Genauigkeit zu einem hinreißenden Erzählwerk."

Auch tazlerin Edith Kresta kommt auf diesen Roman über das Leben in der zwischen Timbuktu und Bamako gelegenen Stadt Segu zu sprechen, für den Condé 2018 immerhin den Alternativen Literaturnobelpreis erhielt: "Der Animismus der Mehrheit mit seiner sexuellen Freizügigkeit gilt den Korangläubigen als Sünde, den heranrückenden französischen Kolonialisten mit ihren Missionaren als barbarisch. Condés Roman erzählt von immer neuen historischen Wendungen, Allianzen, Feindschaften, der Macht der Männer, der Unfähigkeit der Menschen zum Frieden und ihrer vergeblichen Suche nach einem Sehnsuchtsort. Sei es Afrika für die in der Karibik gestrandeten Sklaven oder für die Afrikaner Jamaika, wo sich die angeblich heldenhaften Maroons von der Sklaverei befreiten. Condé entmystifiziert, erzählt sinnlich und grausam von Schicksalsschlägen."

Thomas Brückner betont in der NZZ die zentrale Rolle der Négritude in Condés Prosa und ihren Essays: "Diese entfaltet dank ihrem Wirken neben der afrikanischen Wirkungsgeschichte auch eine starke, auf den aus Martinique stammenden Dichter Aimé Césaire zurückgehende karibische Traditionslinie. Überdies wird die 'créolité' für Condé ein wichtiges Thema, da gerade in der Karibik die Durchmischung der Kulturen ein eminentes und zugleich allzu oft beschwiegenes Faktum darstellt." Joseph Hanimann würdigt in der FAZ "ihre erzählerische Kraft, die alles Theoretische, Politische, Feministische im Werk mit sich fortreißt". Andrea Pollmeier zählt in der FR "Freiheit, Gleichheit und Unabhängigkeit" als prägende "Impulse" in Condés Werk auf.

Weiteres: Für die NZZ hat sich Nadine A. Brügger in Leipzig mit Annett Gröschner, Peggy Mädler und Wenke Seemann zum Gespräch über deren gemeinsames Buch "Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat" getroffen. Sylvia Staude spricht für die FR mit der Booker-Prize-Autorin Eleanor Catton über deren Thriller "Der Wald". Besprochen werden unter anderem Benjamin Koppels "Annas Lied" (FAZ) und Iris Wolffs "Lichtungen" (SZ).
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Film

Christopher Nolans "Oppenheimer" ist nach langem Hin und Her auch in Japan angelaufen, wenn auch mit moderatem Ausspiel. Das Publikum reagiert eher verhalten bis skeptisch, berichtet Thomas Hahn in der SZ, was bei einem Film über die amerikanische Perspektive auf die Entwicklung der Atombombe auch nicht erstaunt: "Wenn Japan sich an die Atombomben erinnert, geht es in erster Linie um das Leid und den Tod unschuldiger Landsleute, um Japan als Opfer. Es geht kaum um die komplexe Vorgeschichte der Abwürfe im Zweiten Weltkrieg, schon gar nicht um Japans Kriegsschuld und die hartnäckige Weigerung des damaligen Kaiserreichs, nach schweren Verlusten vor der amerikanischen Übermacht zu kapitulieren. Das liegt einerseits sicher daran, dass die Atombomben-Angriffe der USA die wohl grausamsten Attacken der gesamten Kriegsgeschichte sind. Andererseits liegt es am Einfluss der nationalistischen Kräfte, die traditionell stark sind in Japans Regierung und das alte Kaiserreich trotz seiner Kriegsverbrechen bis heute verklären. ... Ein Lob der Atombombe ist 'Oppenheimer' nicht. Aber man kann nachvollziehen, dass manche Momente im Film für Japaner belastend sind."

Weitere Artikel: Völlig unverständlich findet es Thomas Schuler in der taz nach einer Kino-Aufführung von Nina Gladitz' Dokumentarfilm "Zeit des Schweigens und der Dunkelheit", den Leni Riefenstahl einst erfolgreich in dem Giftschrank geklagt hatte (hier dazu mehr), dass der WDR als damals produzierender Sender den Film nicht wenigstens in seiner Mediathek ausspielen will. Nane Pleger erzählt auf Zeit Online, wie sie gemeinsam mit ihrer Großmutter Carl Balhaus' 1958 von der DEFA produzierten "Nur eine Frau" wieder auf die Kino-Leinwand bringt und damit vor allem älteren Frauen eine große Freude bereitete. Valerie Dirk blickt für den Standard aufs Programm der diesjährigen Diagonale. Marion Löhndorf (NZZ), Jakob Thaller (Standard) und Marc Hairapetian (FR) würdigen Marlon Brando, der heute 100 Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden Matteo Garrones Fluchtdrama "Ich Capitano" (Tsp, Welt, FAShier unser Resümee vom Filmfestival Venedig), Balojis "Omen" (taz), Michael Mohans den italienischen Nunsploitatation-Filmen der Siebziger nachempfundene Kloster-Horrorfilm "Immaculate" (Standard) und Neo Soras Konzertfilm "Opus", mit dem sich der 2023 verstorbene Komponist und Musiker Ryuichi Sakamoto von seinem Publikum verabschiedet (Welt, mehr dazu bereits hier).
Archiv: Film

Kunst

Sonic Youth - Dirty, Plattencover mit Stofffigur von Mike Kelley

Mit einem ingeniösen Monstrum von einem Text würdigt Dietmar Dath in der FAZ eine große Mike-Kelley-Schau (siehe auch hier) im K21-Gebäude der Düsseldorfer Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. Dath schreibt über die Nähe Kelleys zur Rockmusik und seine für die Kunstszene ungewöhnliche Herkunft aus kleinen Verhältnissen. Vor allem jedoch lässt er sich von den Exponaten selbst anregen: "Man muss, wenn man Kelley kennenlernen will, bereit sein, allerlei Spuk zuzulassen, wie er zum Beispiel als Watterauch-Gespensterplasma auf einem bekannten Kelley-Bildmotiv in den Nasen- und Ohröffnungen des Künstlers herumbohrt, leiblich allemal lästiger als die Tapetenmuster-Esoterik des Frühmodernismus. Urteile wie 'kindisch' oder 'pubertär' kratzen oft und mit Eifer an Kelleys Welt der rituellen Affenarsch-Untersuchungen und Porno-Pannen-Performances. Seine Entgegnung auf diese Art Anfechtung ist wohl das Plakative optischer Zumutungen als solcher, wie auf den textilgewordenen Alkoholfahnen, die in Düsseldorf einen Durchgang schmücken - ein Königspenis mit Auge in der Eichel, ein wächsern zerschmolzenes Leidensgesicht, das sichtlich mehr Drogen kennt als die Apotheke."

Weitere Artikel: Transportprobleme im Zuge des Konflikts im Roten Meer machen Ausstellungen zu schaffen, informiert Olga Kronsteiger im Standard.

Besprochen werden Kerstin Honeits Videoinstallation "This Is Poor! Patterns of Poverty", die im M1 VideoSpace der Berliner Galerie KINDL-Zentrum für zeitgenössische Kunst zu sehen ist (taz Berlin) und die Ausstellung "Was ist Wiener Aktionismus", die das neugegründete Wiener Aktionismus Museum eröffnet (monopol).
Archiv: Kunst

Musik

"Eine, ganz unironisch gemeint, wunderschöne deutsche Bürgerlichkeit" hat sich beim Auftakt von Campinos Gastprofessur an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf eingefunden, schwärmt Frédéric Schwilden in der Welt. "Jetzt ist der Marsch durch die Institutionen an seinem logischen bürgerlichen Ende angelangt: vom Punkschuppen ins Stadion, vom Soundtrack der Punks zum Wahlsieg-Song der CDU 2014, zum Gala-Dinner mit Prince Charles und jetzt auf den Lehrstuhl. Folgerichtig für den Lehrerinnen- und Richter-Sohn Campino." Seine "erste Vorlesung trägt den Titel 'Kästner, Kraftwerk, Cock Sparrer. Eine Liebeserklärung an die Gebrauchslyrik'. Und das ist auch wieder ganz ehrlich: Wie toll ist es bitte, dass sich Campino selbst als Gebrauchslyriker sieht. Er sieht sich nicht als großer, berufener Künstler, und hat damit den Schweighöfers in diesem Land einiges voraus. Campino hat eine große, ehrliche Demut in seiner Person."

Weitere Artikel: Hanspeter Künzler hat für die NZZ mit Beth Ditto gesprochen, deren Band Gossip gerade ein Comeback hinlegt. Katharina Granzin berichtet in der taz von den Bestrebungen Barcelonas, sich mit Klassikfestivals mit teils freiem Eintritt vom Party-Tourismus zu emanzipieren und stattdessen Kulturmenschen anzulocken.

Besprochen werden das neue Idles-Album "Tangk" (FR), die Neuausgabe von Brion Gysins Underground-Album "Junk" ("insofern ein klassisches Postpunk-Album, als es den Zusammenprall von Punk mit vorherigen Popgenres, von Disco zu Krautrock, Dub und Reggae abbildet", schreibt Jens Uthoff in der taz) und das Wiener Konzert von Judas Priest (Standard, Presse). Wir moshen in Berlin aus der Ferne mit:

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Stichwörter: Campino, Postpunk, Krautrock