Magazinrundschau - Archiv

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286 Presseschau-Absätze - Seite 6 von 29

Magazinrundschau vom 29.11.2022 - HVG

Der Literaturwissenschaftler Zoltán Hafner, leitete bis vor einem Jahr das Budapester Imre-Kertész-Institut zur Bewahrung, Aufarbeitung sowie Veröffentlichung des literarischen Nachlasses des Literaturnobelpreisträgers. Das Institut wurde von der umstrittenen Regimehistorikerin und Fidesz-nahen Oligarchin Mária Schmidt gegründet, mit dem deklarierten Ziel, die der Berliner Akademie der Künste hinterlassenen Dokumente von Kertész nach Ungarn zu holen. Hafner war mit Kertész befreundet und war für die ungarischen Ausgaben seiner Bücher verantwortlich. Er sah jedoch seine Arbeit zunehmend beeinträchtigt und kündigte seine Stelle beim Institut beinahe unbemerkt im Juli 2021. Nun spricht er im Interview mit Gábor Murányi zum ersten Mal über die Hintergründe und wie es dazu kommen konnte, dass das "Arbeitstagebuch" zum "Roman eines Schicksallosen" auf Deutsch erschienen ist, bevor es in Ungarn veröffentlich wurde: "Das ist eine lange Geschichte mit mehreren Wendungen die mindestens bis zur Jahrtausendwende zurückgeht, als sich Kertész - noch vor dem Nobelpreis - entschied, seinen 'geistigen Abdruck' in das Archiv der Berliner Akademie der Künste 'emigrieren zu lassen'. Die damals hinterlassenen Dokumente, Manuskripte, Briefe und Fotos blieben unvollständig. Und in der Folgezeit wurde das bei Kertész und bei mir hier in Ungarn aufbewahrte Material größer und größer. Es geht um einen unglaublich gewichtigen Lebenswerkkorpus. Bei Sándor Márai werden mittlerweile seine Tagebücher als sein Hauptwerk betrachtet, und meiner Ansicht nach werden wir das auch im Falle von Kertész künftig so sehen. (…) Ich sagte ihm und seiner Frau wiederholt, dass für die Aufarbeitung und Pflege eine Institution in Ungarn gut wäre, doch wir fanden dafür hierzulande keine Offenheit (…) Sagen wir es so, dass niemand hier bereit war, eine klare Zu- oder Absage zu geben und so kam es auch, dass die Sammlung des Berliner Archivs bis zum Tode Kertész´ mehrmals, und einmal durch seine Witwe auch nach seinem Tod, erweitert wurde. (…) Ich setze meine Arbeit nun als Privatperson fort. Ich sehe keine Lösung. Juristisch können die Texte ohne redaktionelle Arbeit und Kommentierung erscheinen, doch das wäre - ich kann es nicht anders sagen - ein Schlag ins Gesicht der geäußerten Intentionen von Imre."

Magazinrundschau vom 22.11.2022 - HVG

Anlässlich der Veröffentlichung seines neuen Gedichtbandes spricht 1974 geborene Dichter und Dramaturg Krisztián Peer, einer der wichtigsten Autoren seiner Generation, im Interview mit Róbert Németh über Illusionen und Erkenntnisse der Wende, die er zusammen mit Dichtern und Schriftstellern wie dem verstorbenen János Térey oder István Kemény, Attila Bartis, Árpád Kun u.a. durchlebt hat. "Wir dachten damals, es würde von Tag zu Tag besser werden. Denn von Tag zu Tag war die Freiheit größer, wenigstens haben wir es so empfunden und wir dachten damals noch, dass es darüber einen gesellschaftlichen Konsens gibt, dass Freiheit etwas Gutes sei. Vor Kurzem hat mich ein jüngerer Freund scharf kritisiert: Ich würde mich zu viel mit Politik beschäftigen, dabei hätte das politische System auf höchstens zehn Prozent meines Lebens Einfluss. Er konnte sich nur deswegen dermaßen irren, weil er in seinem erwachsenen Leben nicht für eine Minute Gelegenheit hatte, daran zu glauben, dass er an einem großartigen Ort lebt. (…) Ich muss hinzufügen, ich war lange Zeit in vielen Freundeskreisen der Jüngste, und ich folgte sowohl im Geschmack als auch im Denken den Großen. Bis zur Jahrtausendwende saßen in den sympathischen Kneipen junge Menschen, die Künstler sein wollten, denn die Kunst ist das prädestinierte Gelände zur Ausübung von Freiheit, kein Beruf, sondern Lebensform. Die heute in den sympathischen Kneipen sitzenden junge Menschen sind eher Aktivisten, die erbost über den individualistischen Freiheitsbegriff der älteren Generationen sind, die für systematische Zusammenhänge blind waren. Ich neige dazu ihnen Recht zu geben, doch heutzutage verkehre ich in Kreisen, in denen ich der älteste bin. Ein Kind der systemwechselnden Illusionen."

Magazinrundschau vom 08.11.2022 - HVG

Vor kurzem erschien der neue Roman ("Az év légiutaskísérője - Der Flugbegleiter des Jahres") des Schriftstellers und Dichters László Darvasi, der mit Dániel Bittner über den Realitätsgehalt seiner Geschichten spricht. "Wir wurden systematisch zu einem Propagandaland, wo in bequemen Büros, in gebügelten Anzügen und eleganten Kostümen die Feindbilder ausgedacht und von Tag zu Tag mantrahaft wiederholt werden. Das Errichten und Unterhalten der Maschinerie ist unsere historische Schuld. Selbstverständlich möchten die Menschen mehr Farben und ein sonnigeres Leben und dieses auch zur Schau stellen. Als Schriftsteller kann ich jedoch das Drama nicht ignorieren. Das sehe ich jedoch nicht auf den Plakaten und auch nicht im türkischen Viertel in Wien. (...) Obwohl die Propaganda akzeptiert wird, arbeiten unglaublich starke Überlebensinstinkte in den Menschen, ohne die das Land nicht mehr existieren würde. Doch die Ungarn ertragen so einen Druck und diese frustrierende Heuchelei auf Dauer nicht. Dieses Land nimmt es bisher nicht zur Kenntnis, dass ihm schändlich wenig geboten, aber sehr viel von ihm verlangt wird. Aber irgendwann wird dieser zentralistische Alptraum zu Ende gehen. Vielleicht nicht mal durch Wahlen, ich weiß es nicht. Das Leben der Protagonist*innen meiner Romane wird von starker Widerspenstigkeit und Widerstand angetrieben, auch wenn darunter viele alte, dem Tod nahestehende Menschen oder Aussätzige sind. Ich schrieb dennoch keine politischen Romane, hoffe ich."

Magazinrundschau vom 01.11.2022 - HVG

In Zeiten, in denen die politisch bestimmenden Kräfte die Revolution von 1956 für sich passend neu deuten ("Siehe da, die Freiheitskämpfer von 1956 in Ungarn wollten eigenständig Verhandlungen mit der Sowjetunion erreichen, später wurden sie vom Westen verraten - die Ukraine sollte in ihrer gegenwärtigen Situation aus diesem Beispiel lernen…") inszeniert der junge Regisseur und Drehbuchautor Kristóf Kelemen mittels einer filmischen Mischung von Fakt und Fiktion aus der Perspektive der Witwen die Umbettung der Gräber der Revolutionäre von 56 - ein historisches Ereignis, das vor dreiunddreißig Jahren zur Wende in Ungarn mit beitrug. Im Interview mit Rita Szentgyörgy spricht Kelemen über seine Motivation, sich als Angehöriger einer jüngeren Generation mit dem Thema auseinanderzusetzen: "Wahrscheinlich beschäftigt es mich, weil es ein Tabuthema ist. Als hätte der größere Teil der ungarischen Gesellschaft 1989 gesagt, dass alles, was früher passiert ist, verleugnet und begraben werden muss. Doch die Gespenster der Vergangenheit blieben trotzdem unter uns und die Reflexe des Staatssozialismus leben unreflektiert weiter. Unaufgearbeitet blieben die Tragödien, Verantwortung wurde verwischt, während die komplexen Geschichten und mit ihnen auch die positiven Praktiken vergessen wurden. Ich würde es für nützlich halten, wenn mehr darüber gesprochen würde, welche Faktoren über die Repressalien hinaus es möglich machten, dass die Kommunisten die Macht für mehr als dreißig Jahre aufrecht erhalten konnten."

Magazinrundschau vom 25.10.2022 - HVG

Mit der Empfehlung von Transparency International bewarb sich der Ökonom und Korruptionsforscher Miklós Marschall für die Mitgliedschaft im Komitee, das die Besetzung der "Integrationsbehörde" zur Bekämpfung von Korruption begleiten und überwachen sollte. Die Aufstellung der neuen Behörde wird zusammen mit anderen Maßnahmen als Garant für die Auszahlung der zurückgehaltenen Mittel aus dem Wiederaufbaufond der EU gesehen. Marschall - dessen Bewerbung zurückgewiesen wurde - gibt sich im Gespräch mit Kristóf Ábel Tarnay dennoch verhalten optimistisch: "Während meiner Karriere arbeitete ich mit zahlreichen Antikorruptionsinstitutionen zusammen. Vorbedingung für ein erfolgreiches Wirken war stets, dass dahinter ein politischer Willen stand - und den gibt es hier, auch wenn er von außen erzwungen wurde. Weiterhin muss Korruption richtig definiert werden, wenn man dagegen auftreten will. Und hier können sich ernsthafte Probleme ergeben. Denn in Ungarn ist Korruption keine Devianz, sondern das System selbst. Hier macht nicht die Gelegenheit Diebe, sondern die Diebe erschaffen die Gelegenheiten. Es ist ein von oben erschaffenes System, das den Staat in Geiselhaft nahm, wo die politische Macht jene Rechtsverordnungen und Bedingungen kreiert, auf deren Grundlage "gesetzmäßig" öffentliche Mitteln in bedeutendem Ausmaß entwendet werden. Ich befürchte, dass die Behörde dafür ausgebildet wird, dass sie Abweichungen von der Regel untersucht. Fachlich ausgedrückt wird sie anstatt der 'grand corruption' der 'petty corruption' den Kampf ansagen. Wir sollen aber gutgläubig sein, jede Änderung beginnt mit kleinen Schritten."

Magazinrundschau vom 18.10.2022 - HVG

Der Schriftsteller Péter Nádas wundert sich im Interview mit Zsuzsa Mátraházi immer noch, wie der Westen Putins Kriege wahrgenommen hat: "Für mich war es eher überraschend, wie überzeugt europäische Regierungen die Ahnungslosen gaben. Als wäre es die natürlichste Sache der Welt, dass an der Grenze eines benachbarten Landes eine hunderttausend Mann starke Armee aufmarschiert. Als würde man glauben, dass sie wieder nach Hause gehen aufgrund der schönen Wörter eines Herrn Macron oder Herrn Scholz. Wer geistig in der Lage war, sich an Vorkommnisse zu erinnern, die älter als drei Jahre sind, der konnte nicht vergessen, wie russische Großmachtpolitik normalerweise mit Freiheitsbewegungen verfährt und wusste spätestens seit der unter überaus verdächtigen Umständen erfolgten Annexion der Krim, was passieren würde. Was sie zur Eliminierung der polnischen Solidarnosc Bewegung beigetragen hatte, was sie 1968 in Prag und 1956 in Budapest getan hatte und wie sie 1953 den Berliner Aufstand niedergeschossen hatte und so weiter. (…) Das hat wohl Tradition. Wer die panslawischen Bewegungen kennt, der weiß welch messianische Ideologie die kolonialen Bestrebungen der Russen begleiten. Die europäische Politik hat bis heute nicht geklärt, wie die Krim angeblich ohne russische Militäreinheiten besetzt wurde. Wenn ich mir solche Fragen angesichts der damals noch niedrigen Öl- und Gaspreise nicht stelle, dann wird dieser Film Fortsetzungen haben."

Magazinrundschau vom 11.10.2022 - HVG

Die Proteste von Lehrern und Schülern gegen die Bildungspolitik erreichten vergangene Woche in Ungarn einen Höhepunkt. Flächendeckend haben Lehrerinnen und Lehrer die Arbeit niedergelegt, obwohl ihnen das Streikrecht kürzlich durch eine Verordnung genommen worden war. Die beteiligte Pädagogen werden nun von der zentralisierten Schulbehörde einzeln ermittelt und entlassen. Die Lehrerin und Übersetzerin Katalin Törley, Gründungsmitglied der Bewegung Tanítanék für eine bessere Bildung in Ungarn, spricht im Interview mit Péter Hamvay über die Proteste. "Uns kann man zwar entlassen und zum Verlassen des Berufs zwingen, doch das zusammenbrechende Schulsystem, dass sich beinahe nicht mal mehr zur Kinderaufbewahrung eignet, bleibt am Hals der Regierung hängen … Das Bildungssystem ist meiner Ansicht nach bereits zusammengebrochen, doch das merkt man nicht, weil die verbliebenen Lehrer es auf ihren Schultern tragen. So heldenhaft dies auch sein mag, ist es weder für die Kinder gut noch für die Gesellschaft."

Magazinrundschau vom 20.09.2022 - HVG

Wenig überzeugend findet Árpád W. Tóta die angeblichen Zugeständnisse der ungarischen Regierung an die EU für die Auszahlung der zurückgehaltenen Gelder. Aber schärfere Regeln gegen Korruption würden das in den letzten zwölf Jahren in Ungarn etablierte System in seinen Grundpfeilern erschüttern. Ministerpräsident Orbán würde sein Werk demontieren, dazu Familienmitglieder und Freunde ins Gefängnis wandern sehen. Tóta sieht hier eher Parallelen zu der Verurteilung des kolumbianischen Kriminellen Pablo Escobar, der nach einem Deal mit der Regierung seine Strafe in einem von ihm erbauten Gefängnis absitzen sollte: "Escobar hat einen Deal mit der Regierung gemacht, unterwarf sich den Prozessen unter einer winzigen Bedingung: Seinen Freiheitsentzug durfte er in dem von ihm selbst gebauten Gefängnis absitzen(...) Wir sollten so etwas auch bauen. Mit dem Geld der EU natürlich, das wird ja auch durchgehen, denn sie beschweren sich öfter über die Zustände in ungarischen Gefängnissen", spottet Tóta.
Stichwörter: Ungarn, Korruption

Magazinrundschau vom 06.09.2022 - HVG

Der in Senta, Serbien lebende Schriftsteller Zoltán Danyi spricht im Interview mit Zsuzsa Mátraházi über die in den umgebenden Ländern lebende ungarische Minderheit, aus der Orban "ungarische Ungarn"  machen möchte. Danyi betrachtet dies als Verschwendung von wertvollen Erfahrungen und Kenntnissen. "Für mich ist es nicht wichtig, worin wir uns unterscheiden oder ähnlich sind, sondern dass die Siebenbürger Ungarn auch ein wenig Rumänen sind, die Ungarn aus der Wojwodina auch ein wenig Serben, die aus der Slowakei ein wenig Slowaken. Dies stellt einen großen Schatz dar. Wir können Dinge, die die ungarischen Ungarn nicht können, wir haben Erfahrungen, die sie nicht haben und die sie aus erster Hand von uns erhalten könnten, denn unsere Sprache ist ja die gleiche. Über einen solchen Reichtum verfügen nur ganz wenige Länder und wenn jemand versucht, die Ungarn jenseits der Staatsgrenze auf das Bild der ungarischen Ungarn einzuschwören, ihre Denkweise anzupassen, dann vergeudet er ihre Erfahrung, anstatt sie als Ressource zu betrachten. Ich kann das nur dusselig nennen. Von Béla Hamvas über Imre Kertész habe ich gelernt, dass wenn etwas Schlechtes mit uns passiert, wir darin eine positive Bedeutung suchen sollten. Im Falle des Trianon-Vertrags ist die Erfahrung und das Wissen der Ungarn jenseits der Grenzen diese positive Sache."

Magazinrundschau vom 29.08.2022 - HVG

In seinen politischen Anfängen war Viktor Orbán sehr russlandkritisch, um nicht zu sagen -feindlich, und seine Wähler mit ihm. Irgendwie ist es ihm gelungen, diese Meinung umzudrehen. Ob ihm das auch in Bezug auf die EU gelingt, fragt sich István Riba. Nachdem die Europäische Kommission aufgrund des "Rechtstaatlichkeitsmechanismus" anfallende Zahlungen aus dem EU-Wiederaufbaufond an Ungarn weiterhin zurückhält, kam eine Diskussion in Ungarn auf, ob der ungarische Ministerpräsident Orbán Ungarn nun aus der EU führen wolle. "Orbán ist ein hervorragender Stratege darin, wie er die Stimmung seines Lagers gänzlich umformen kann. Dies zeigt sich besonders gut in der Beziehung zu Russland. Die ungarische Rechte war stets russlandfeindlich, Orbán selbst begründete mit seiner Ansprache am Budapester Heldenplatz 1989 sein Charisma mit russlandfeindlichen Forderungen. Bis 2009 behielt auch die Fidesz-Partei diese Haltung, für die Partei und für Orbán war es stets wichtig das erwachende imperialistische Verlangen Russlands zu kritisieren." Die Russlandpolitik Orbáns legte dann 2009 eine Wende um 180 Grad hin, und es gelang ihm, sein Lager innerhalb weniger Jahre russlandfreundlich zu stimmen. "Selbst unter den Fidesz-Wählern hat die Aggression gegen die Ukraine die Beliebtheit Moskaus erschüttert. Trotzdem sind nicht wenige für die Orbánschen Propaganda empfänglich, dass die Ukraine für den Ausbruch des Krieges mindestens genauso verantwortlich sei wie Russland, wenn nicht mehr. Und wenn selbst ein so offensichtlich falsches Narrativ im Wählerlager von Fidesz akzeptiert wird, dann wäre es leicht möglich, den Großteil seiner Anhänger gegen die Europäische Union einzustimmen. Das Ergebnis eines eventuellen Referendums über den Verbleib Ungarns in der EU stünde in diesem Fall auf des Messers Schneide."