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23.11.2023. Alle schimpfen auf die Documenta, nur die Zeit glaubt: Die nächste wird die beste überhaupt. Die taz bewundert den leeren Uterus der Künstlerin Kiki Smith. Eine Pariser Racine-Inszenierung lässt Pyrrhus mit ungewaschenen Haaren im Kampfanzug auftreten, weiß die FAZ. An kreisende Galaxien und Supernova-Ausbrüche fühlt sie sich anlässlich eines Bruckner-Konzerts der Berliner Staatskapelle erinnert. Der finnische Dokumentarfilm "Smoke Sauna Sisterhood" begeistert den Perlentaucher durch wabernden Rauch und offenherzig ausgebreitete Frauenschicksale.
"Die nächste Documenta wird die beste", glaubt Hanno Rauterberg in der Zeit. Klar, zur Zeit liege alles in Scherben und es schaue so aus, als könne man in der aktuellen Situation eine solche Ausstellung gar nicht mehr stemmen. Andererseits: "Doch vielleicht, wer weiß, stimmt ja auch das glatte Gegenteil. Vielleicht liegt gerade hier, in der fortschreitenden Selbstvergiftung der Diskurse, der allerbeste Grund dafür, an der alten, immer wieder neuen Idee der Documenta festzuhalten. Denn gerade dafür war Kassel ja immer gut: Alle fünf Jahre wollte man hier beweisen, wie abrupt und überraschend sich das Denken in neue Bahnen lenken lässt. Die Kunst darf sich jederzeit untreu werden, sie gehört keinem Lager, keiner Ideologie. Sie folgt ihrem eigenen Programm." Die nächste Schau müsste vor allem "damit beginnen, sich der obsessiven Selbstbespiegelung zu entwinden. Und stattdessen jener Kraft die Bühne zu bereiten, die zuletzt kaum noch gesichtet wurde: dem Eigensinn der Kunst. Einer Kunst, die frei ist von jeder Bekenntnispflicht. Die mehr sein will als ein bebilderter Leitartikel. Die für eine ästhetische Erfahrung eigenen Rechts eintritt, rauschhaft, verführerisch, unhaltbar."
Philipp Meier unterstellt der Documenta in der NZZ hingegen einen Geburtsfehler: "Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs sollte die Kasseler Großausstellung für Gegenwartskunst als Instrument zur Weltverbesserung dienen. Dieser Konstruktionsfehler macht die Documenta anfällig für missionarische Zwecke. Aus der Verwechslung von Kunst und Mission resultieren falsche Entscheide. Die Documenta will es allen recht machen."
In Berlin lässt der Senat die Förderung für das Neuköllner Kulturzentrum Oyoun auslaufen, berichtet Claudia Reinhard im Tagesspiegel. Unter anderem waren dort Aktivisten der "Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost" aktiv, auf deren Homepage nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober von einem "Gefängnisausbruch" der Palästinenser zu lesen war. Daraufhin kam es zu Auseinandersetzungen mit dem Kultursenat. Die politischen Diskussionen halten an: "Im Kulturausschuss am vergangenen Montag bekräftigte Kultursenator Joe Chialo (CDU) die Kritik an dem Kulturzentrum. Die Senatsverwaltung für Kultur und gesellschaftlichen Zusammenhalt setze sich aktiv für die Umsetzung des Berliner Landeskonzeptes zur Antisemitismus-Prävention und gegen jede Form von Antisemitismus ein, sagte Chialo. 'Und wenn ich sage, gegen jede Form, dann meine ich auch jede versteckte Form von Antisemitismus.'"
Im Tagesspiegelgedenkt Birgit Rieger der Berliner Videokünstlerin Margaret Raspé, die der Kunst neue Lebenswelten erschloss: "Eine Mutter, die mit einem Kleinkind in der Küche herumwirbelt, hat keine Hand frei, für nichts, auch nicht für Pinsel oder sonstiges Kunstgerät. Margaret Raspé, die ihr Studium an der Hochschule der Bildenden Künste Ende der Fünfzigerjahre aufgab, machte ihr Dasein als Hausfrau zum Gegenstand ihrer Kunst. Diese Verbindung von Kunst und Leben war in den 70er Jahren revolutionär und ist heute Pioniertat. Ebenso wegweisend sind Raspés Gedanken zur Gleichberechtigung oder zum Verhältnis zur Natur, die sie auf vielfältige Weise in ihre Kunst integrierte: Wer Fleisch isst, muss auch schlachten, das etwa zeigt einer ihrer Filme." Auch Monopolerinnert an Raspé.
Weitere Artikel: Dorothea Zwirner porträtiert für den Tagesspiegel den Künstler Francis Alÿs, der im Kölner Museum Ludwig mit dem diesjährigen Wolfgang-Hahn-Preis geehrt wird. Ebenfalls im Tagesspiegelschreibt Alessandra Nappo über Hito Steyerls Videoinstallation "Power Plants". Für Welt+ trifft sich Manuel Brug mit dem Kunstsammler Thaddaeus Ropac. Wegen Antisemitismusvorwürfen gegen Shahidul Alam, Mitglied des Kuratorenteams, wird die Fotografie-Biennale 2024 in Heidelberg abgesagt, berichtet die FAZ. Marion Löhndorf spekuliert in der NZZ darüber, ob die Identität Banksys in einem BBC-Interview enttarnt wurde. Ihr NZZ-Kollege Philipp Meier berichtet, dass der Schweizer Bundesrat eine neue Kommission für Nazi-Raubkunst einrichtet.
Besprochen werden die Ausstellung "Venezia 500" in der Münchner Alten Pinakothek (Tagesspiegel), eine dem Comiczeichner Joann Sfar im Pariser Musée d'art et d'histoire juif gewidmete Schau (FAZ) und eine Mini-Personale zu Ehren der Künstlerin Felice Rix-Ueno im Wiener MAK (Standard).
Gleißende Lichtfunken: Anna Hints "Smoke Sauna Sisterhood" Perlentaucherin Katrin Doerksen setzt sich gerne zu den Frauen, die in AnnaHints Dokumentarfilm "Smoke Sauna Sisterhood" in Estland die Rauchsauna aufsuchen. Die Rauchsauna, erfahren wir, zählt zum immateriellen Kulturerbe der Esten und Finnen, und der Film nimmt sich die Freiheit, die Frauen und deren Gespräche im Laufe eines Jahres einfach zu beobachten. So wird die Sauna zu einem "Ort, der wunderschöne sinnlicheFilmbilder hervorbringt. Durch die lange Belichtungszeit in dem dunklen Raum muten die Wassertropfen, mit denen die Frauen sich Kühlung verschaffen, wie in die Länge gezogene, gleißendeLichtfunken an. Durch ein einziges Fenster nur punktuell von Tageslicht betupfte Körper schälen sich aus der Dunkelheit heraus, Tropfen auf der Haut, eingehüllt von waberndem Rauch, der irgendwann den Raum ausfüllt, bis man meint, Gesichter zu erkennen." Doch was die Frauen "einander mit entwaffnender Offenheit erzählen, lässt hingegen die harscheRealität hinein. Sie sprechen über Krebserkrankungen und lachen im nächsten Moment gemeinsam über die Dickpics, die sie auf Tinder bekommen. Sie reflektieren den Mangel an offen gezeigter Zuneigung in ihren Familien und erinnern sich an ihr Coming-Out, sprechen über gesellschaftliche Erwartungen, über Perioden, Schwangerschaften, Vergewaltigungen." Es ergibt sich "ein Spektrum weiblicher Erfahrungswelten".
Wurstige Grandezza: Joaquin Phoenix in "Napoleon" Ridley Scotts "Napoleon"-Blockbuster hat zwar "schon auch ein bisschen Leerlauf", muss auch Perlentaucher Lukas Foerster einräumen. So vergrätzt wie seine Kollegen aus dem Print-Feuilleton (unser Resümee) hat er das Kino aber nicht verlassen: Der Film ist "mit Haut und Haaren Spektakelkino. Die geopolitischen Verwerfungen, denen Napoleon seinen Aufstieg verdankt und die er selbst bald entscheidend mitprägt, interessieren den Regisseur nicht die Bohne." Stattdessen geht es um den Exzess des Körpers: "Da wäre zum Beispiel die Szene, in der die von Joaquim Phoenix mit wurstigerGrandezza verkörperte Hauptfigur, vorläufig noch lediglich ein Leutnant der französischen Armee, nach einer Schlacht in der blutigen Wunde herumpult, die eine Kanonenkugel im Torso seines Pferdes geschlagen hat. Oder die Szene, in der Napoleon während der Ägyptischen Expedition einen Sarkophag öffnet und sich an den darin konservierten antiken Gebeinen zu schaffen macht." Scott zeichnet den Feldherrn als "ewigenAdoleszenten, der sich einer nicht gerade allzu verfeinerten Liebestechnik befleißigt. Phoenix' GrunzenwährendderBeischlafsankündigung ist zweifellos ein Höhepunkt des Films; weckt aber auch Sehnsucht nach jener völlig enthemmten Napoleon-Sauerei, die Scotts die Grenzen des guten Geschmacks nie allzu weit hinter sich lassender Historienblockbuster dann doch nicht sein darf." Weitere Kritiken im Tages-Anzeiger, in der FR, im Filmdienst, im Standard und auf Artechock, dessen Team gleich drei Kritiken auf einen Satz veröffentlicht.
Außerdem: Petra Ahne berichtet in der FAZ von der Verleihung des Michael-Althen-Preises an SamiraElQuassil für ihren auf Übermedienveröffentlichen Essay über GretaGerwigs "Barbie". Fabian Tietke empfiehlt in der taz das Berliner ExperimentalfilmfestivalFracto, das sich in diesem Jahr besonders der Filmemacherin MilenaGierke widmet.
Besprochen werden KenLoachs "The Old Oak" (FR, Artechock, critic.de), Milena Aboyans "Elaha" (taz, Freitag), Tatsunari Ôtas "There is a Stone" (Artechock, critic.de), Livia Theuers Dokumentarfilm "Wir sind das Kino" (taz, mehr dazu hier), RémiDurins und ArnaudDemuyncks Animationsfilm "Yuku und die Blume des Himalaya" (Standard), XavierGens' "Farang" (Artechock) und OliverParkers "In voller Blüte", mit dem sich MichaelCaine von der Leinwand verabschiedet (Tsp, Artechock). Hier außerdem der Überblick beim Filmdienst über die Kinostarts der Woche.
Der Architekt Rob Krier, ein gebürtiger Luxemburger, der lange in Berlin aktiv war, ist tot. Im Tagesspiegel verfasst Bernhard Schulz einen Nachruf. Besonders prägend war seine Arbeit für eine Nachbarstadt Berlins: "Richtig Stadt konnte Rob Krier mit seinem Büropartner Christoph Kohl ab 1997 in Potsdam realisieren, mit dem Kirchsteigfeld auf 60 Hektar Fläche. 2500 Wohneinheiten entstanden nach einem Plan, der an manche Gartenstadt um 1900 erinnert, mit Häusern von ganz verschiedenen Architekten. Denn nichts verabscheute Krier so sehr wie das Serielle der Moderne. Überhaupt war die Moderne für Krier der Quell allen städtebaulichen Übels."
Peter Kümmel schaut sich für die ZeitLuk Percevals Adaption von Orwells "1984" im Berliner Ensemble und Robert Thalheimers Inszenierung von Kafkas "Der Prozess" im Hamburger Thalia Theater an. Während der Thalheimer-Prozess den Kritiker eher kalt lässt, hat Percevals Orwell ein überzeugendes Konzept: "Die vier Schauspieler, die sich die Rolle des 1984-Protagonisten Winston Smith teilen, drängen sich in einem spitzwinkligen, verspiegelten Raum in der Form eines liegenden V (Bühne: Philip Bußmann). Es sind gehetzte, geduckte, blasse, kahle, Brillen tragende, in grauen Anzügen steckende Männer der Masse, wie sie ähnlich in Trickfilmen zu sehen sind, wenn Rushhour-Szenen gezeigt werden. In der Enge ihrer Bühne wirken sie nun, doppelt und dreifach reflektiert, wie eine wimmelnde, vielarmige, seeanemonenhafte Kreatur, die sich dehnt und zusammenzieht in einer ständigen Bewegung des Ausweichens. Dass es vier Männer sind, die sich eine Rolle, einen Text teilen, ist eine willkürliche, nicht weiter begründbare Entscheidung: Es würde qualitativ nichts ändern, wenn es acht oder 16 wären."
Weitere Artikel: Anna Schors unterhält sich in VAN mit Anna Weber, Regisseurin einer "Carmen"-Inszenierung am Mecklenburgischen Staatstheater.
Elisabeth von Thadden plaudert für die Zeit mit dem Bestseller-AutorMarc-Uwe Kling darüber, wie es war, mit seinen Töchtern einen Roman zu schreiben. Besprochen werden unter anderem eine dem ComiczeichnerJoannSfar gewidmete Ausstellung im Musée d'art et d'histoire juif in Paris (FAZ), NicoleFlatterys "Nicht Besonderes" (54books), Fabcaros und DidierConrads neues Asterix-Abenteuer "Die weiße Iris" (Intellectures), RomanRozinas "Hundert Jahre Blindheit" (FAZ) und JeanetteWalls' "Vom Himmel die Sterne" (SZ).
ChristianThielemann hat erstmals nach Bekanntwerden, dass er Daniel Barenboim als Leiter der BerlinerStaatskapelle nachfolgen wird, sein künftiges Orchester dirigiert. Gespielt wurde Anton Bruckners Fünfte. "Höher kann man das Eingangstor künftig gedeihlicher Zusammenarbeit kaum aufreißen als mit diesem Koloss, der schon am Beginn kosmischeTiefen, kreisendeGalaxien undSupernova-Ausbrüche assoziiert und schließlich in ein Finale von weit über 600 Takten hineinläuft, in das mehrere Fugen-Abschnitte mit immer komplexer werdenden Verflechtungen integriert sind", schreibt Gerald Felber in der FAZ. In dieser "noch nicht ganz vollendeten Wegfindung" sah er "ein berührendesVersprechen" aufblitzen, "überhöht von Passagen überwältigender Schönheit wie im letzten, streicherumwallten Themendurchspiel des Adagios. Freilich bewähren sich jegliche Partnerschaften erst dann, wenn man vom hohen Puls des ersten Aufeinanderzugehens zu den ökonomischen Verhandlungen des Alltags kommt. Man darf hoffen."
Zwiespältig erlebteVAN-Kritiker Albrecht Selge diesen Abend. Zwar ereigneten sich "atemberaubenden Klangschönheiten", wie etwa "die vollkommenen Pianissimi nahe am Nichts, aus denen Kopfsatz und Finale entstehen. Habe ich je beglückendere Crescendi gehört als von dieser Staatskapelle unter Thielemann? Berückendere Tutti auf den absoluten Höhepunkten?" Doch "geradezu verstörend erlebe ich die eigentlich widersinnige Verbindung von Weichheit und Zähheit bei diesem thielemannschen Bruckner. Unter den äußerst langsamen Tempi zerfällt mir das Werk; quasi alles, was ich an buchstäblich organischer Wirkung von Bruckner erwarte und erhoffe (oder auch an Vulkanismus), ist verloren in Feierlichkeit. Das geht bis zur Langeweile; selten habe ich bei einer Bruckner-Aufführung so oft im Stillen bis Vier gezählt, und im Scherzo befällt mich gar die Wahnvorstellung, man könne hier glatt behaglich mitklatschen. Und dass meine Nachbarin bei einem Bruckner-Scherzo einschläft, das habe ich auch noch nicht erlebt!" Von "hoherKulinarik" sprichtRBB-Kritiker Andreas Göbel nach diesem Konzert.
Weitere Artikel: Olivia Giovetti spricht für VAN mit dem Bariton DavóneTines über JuliusEastman. Arne Löffel spricht für die FR mit dem Produzenten und DJMarcRomboy. In der FAZgratuliert Jan Wiele dem Chansonnier FrancisCabrel zum 70. Geburtstag. Und Arno Lücker listet in VAN zehn Stellen in Werken klassischer Musik, bei denen es die Aufführungspraxis mit der Werktreue selten genau nimmt.
Besprochen werden Björks Auftritt in Hamburg (taz, FAZ), ThurstonMoores Autobiografie "Sonic Life" (Standard, mehr dazu hier), ein Konzert der Jungen PhilharmonieKolumbien unter AndrésOrozco-Estrada mit der Solistin HilaryHahn (FR), eine restaurierte Wiederaufführung von JonathanDemmes Musikfilm "Stop Making Sense" über und mit den TalkingHeads (TA) und eine Box mit BobDylans Live-Album "At Budokan" (Welt).