Efeu - Die Kulturrundschau

Mythos des Amselfelds

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18.07.2023. In der FR fragt Martin Piekar: "Wohin ist die deutsch-polnische Literatur verschwunden?". Die SZ staunt darüber, wie sich die Geigerin Tianwa Yang virtuos vom zartesten Pianissimo zu rythmischen Pointierungsfeuern spielt. Die taz besucht die Autostrada-Biennale im kosovarischen Prizren und bewundert, wie sanft man Entideologisierung betreiben kann. Der Tagesspiegel lässt sich durch Architektur heilen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.07.2023 finden Sie hier

Literatur

Judith von Sternburg unterhält sich in der FR mit Martin Piekar, der in diesem Jahr am Bachmannlesen in Klagenfurt teilgenommen hat. Unter anderem spricht der in Frankfurt lebende Schriftsteller mit polnischen Familienwurzeln über sein Verhältnis zu Polen: "Für mich persönlich bedeutet es zunächst etwas Privates, Intimes, Liebevolles. Kulturell bedeutet es, dass ich eine andere Art des Verständnisses für Nachbarvölker habe, von denen die meisten hier wenig wissen, was ich bis heute sehr verblüffend finde. Es ist doch ein Terrain, auf dem es regen Austausch gab. Es gab immer Deutsche dort und Polen hier. Wir waren jahrhundertelang die größte Einwanderergruppe in Deutschland", doch "die Verbindungen sind wie ausgelöscht, es gibt keine deutsch-polnische Literatur, nur deutsche oder polnische. Genauso sollte es auch deutsch-französische und deutsch-niederländische Literatur geben. Wir engen uns da viel zu sehr ein."

Amanda Gorman hat vor wenigen Tagen in der New York Times ein Gedicht über den Untergang der Adriana veröffentlicht. Bei der Katastrophe waren Mitte Juni hunderte Flüchtender im Mittelmeer gestorben. Dies kontextualisiert sie durch einen Vorsetzer mit dem historischen, transatlantischen Sklavenhandel, schreibt Felix Stephan in der SZ: Aus den Gerichtsprotokollen über den Mord an 130 Sklaven "hat die kanadische Dichterin M. NourbeSe Philip später das Langgedicht 'Zong' kompiliert, und Amanda Gorman bedient sich jetzt desselben Textes und desselben Verfahrens, um ihr Gedicht zum Untergang der Adriana zu komponieren. Auf diese Weise entgeht sie der Versuchung, dem längst ermatteten Bestürzungsritual bloß eine weitere Runde hinzuzufügen. Stattdessen hält sie den betroffen Herumstehenden einen 250 Jahre alten Text entgegen, und die künstlerische Qualität dieser Gegenüberstellung erkennt man unter anderem daran, dass sie ohne Kommentar auskommt."

Weitere Artikel: Paul Jandl ärgert sich in der NZZ darüber, dass im Netz und insbesondere auf Social Media im Hinblick auf Lyrik nicht etwa Freude am Entdecken von Neuem, sondern bloß der gesunde Menschenverstand regiert - dies allerdings anlässlich der Sprüche von Pennälern, die auf Twitter ihren Abiturfrust ventilieren. Mia Eidlhuber berichtet im Standard vom Literaricum in Lech, wo insbesondere Jane Austens "Stolz und Vorurteil" im Mittelpunkt stand.

Besprochen werden unter anderem Percival Everetts "Die Bäume" (online nachgereicht von der Zeit), Marvel Morenos "Im Dezember der Wind" (online nachgereicht von der FAZ), Matthias Glaubrechts "Dichter, Naturkundler und Welterforscher. Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage" (Welt), der Sammelband "Oh Boy" mit Texten von unter anderem Kim de l'Horizon und Hermes Phettberg (Standard), ein Buch von Heribert Prantl über sich selbst (NZZ) und Daniel Gascóns "Der Hipster von der traurigen Gestalt" (SZ).
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Film

Zum Kinostart von Christopher Nolans Biopic-Blockbuster "Oppenheimer" begibt sich Rüdiger Suchsland für den Filmdienst auf die filmischen Spuren, die der Vater der Atombombe in der Filmgeschichte bislang hinterlassen hat. Besprochen werden der von Masha Matzke herausgegebene Band "Figures of Absence" über die Experimentalfilmerin Dore O. (Filmdienst), die Ausstellung "Ausgeblendet / Eingeblendet" über jüdische Filmgeschichte in der Bundesrepublik im Jüdischen Museum in Frankfurt (Filmdienst), die kenianische Serie "Country Queen" (FAZ), Reinhild Dettmer-Finkes Psychiatrie-Doku "Irre oder Der Hahn ist tot" (taz) und Volker Koepps Dokumentarfilm "Gehen und Bleiben" über den Schriftsteller Uwe Johnson (FAZ).
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Kunst

Neda Saeedi, "In the depth of the night, the eye sees the sun?" 

Unter den vielen Biennalen, die es auf der Welt gibt, ist die 4. Autostrada-Biennale im kosovarischen Prizren etwas Besonderes, freut sich Ingo Arend in der taz. Er erlebt hier weder "Spektakel-Kultur" noch "Standort-Marketing", vielmehr wollen die Künstler das "kulturelle Vakuum in einem Land füllen, in dem die bildende Kunst kaum eine Rolle spielt". Besonders fasziniert ist er von einer Arbeit der iranischen Künstlerin Neda Saeedi, in der sie Ästhetik und Gesellschaftskritik vereint: "Die Künstlerin hat das leere Zentrum des alten Partisanendenkmals an der Flusspromenade von Prizren mit einer gelb-blauen Glasarbeit sacht entideologisiert, in der sechs stilisierte Amseln umeinanderkreisen. Damit nimmt sie den Mythos des Amselfeldes auf, der das Wort Kosovo bedeutet. Gleich gegenüber hat Kostas Bassanos Walter Benjamins berühmten Satz 'Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne ein solches der Barbarei zu sein' aus großen Holzbuchstaben an den Lauf des Lumbardhi-Flusses gestellt, er durchspringt Prizren wie ein Gebirgsbach. Ein kritisches Memento, das den anschwellenden Tourismus in der pittoresken Destination mit vielen Kulturdenkmälern vielleicht nicht zur Umkehr, aber doch für ein paar Minuten zum Nachdenken bringen könnte."

Besprochen werden die Ausstellungen "Josephine Baker: Freiheit - Gleichheit - Menschlichkeit" in der Bundeskunsthalle Bonn (FAZ), "Kolossal. Malerei im Großformat" im Unteres Belvedere in Wien (FAZ), "Book_Spaces" im Museum für Photographie Braunschweig und "Believe in me" mit Arbeiten von Rita de Matos und Sarai Meyron im Landesmuseum Hinter Aegidien und Braunschweiger Dom (taz).
Archiv: Kunst

Design

Johanna Adorján porträtiert in der SZ den griechischen Modesammler Michael Kardamakis, der sein Helmut-Lang-Archiv derzeit in einer Berliner Altbauwohnung eingelagert hat. Seine Sammlung "ist thematisch geordnet, und zwar so, dass sie idealerweise immer eine Entwicklung verdeutlicht." Er "greift nach einem Bügel weiter rechts, an dem ein ganzes Unterhemd hängt. Weiß, Feinripp, wie man es kennt. An den etwa 40 Bügeln dazwischen hängen Zwischenschritte, Variationen, man könnte auch sagen: Untersuchungen zum Thema Unterhemd. Es gibt unterschiedliche Dekonstruktionsgrade von Armlöchern oder Trägern, mal ist am Vorderteil eine Bustier-Linie angedeutet, oft ist irgendwo ein breiter Streifen zu sehen, ein Motiv, das bei Helmut Lang oft auftaucht. Bei einem Modell mit applizierter Spitze weist Kardamakis darauf hin, dass die Nähte von Hand gefertigt sind. Es gibt fast nichts, was es nicht gibt - dennoch sehen die Stücke verwandt aus, und wenn man Kardamakis lange genug zuhört, erkennt man ihre Helmut-Lang-DNA." Dieses Werbevideo vermittelt einen kleinen Einblick:

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Musik

Ihr Konzerthäuser der Welt, bucht Tianwa Yang, ruft Harald Eggebrecht in der SZ. Sie ist nämlich "zweifellos eine der ganz großen Geigerinnen unserer Zeit", die "mit ihrem hochgespannten Klavierpartner Nicholas Rimmer die widerspenstige, verrückte, ja vertrackte C-Dur-Fantasie von Franz Schubert nicht etwa in einer Mischung aus glatter Perfektion und gefühlvoller Freundlichkeit bietet, sondern die heftigen Kontraste auslebt und in alle Richtungen auslotet, sie vom zartesten Pianissimo bis zu artistischen Halsbrechereien mit rhythmischem Pointierungsfeuer und blitzenden Spitzentönen zu glühendem Leben erweckt. ... Intonationsgenauigkeit und -abstimmung, rhythmische Präzision, Artikulationsdeutlichkeit, Phrasierungslogik - darauf richtet sie unbeirrbar ihr Augen- und Ohrenmerk." Wir hören rein, hier eine Widmann-Aufnahme:



Julian Weber spricht für die taz mit dem Technikhistoriker Myles W. Jackson, der über die Geschichte der Stimmgabel im 19. Jahrhundert forscht. Danach herrschte auch reger Bedarf, erfahren wir: "Es gab in europäischen Städten unterschiedliche Maße und das war ein Problem etwa für Sänger. Wenn das a zu hoch ist, führte das zu Stimmproblemen. Das Argument war, Musik solle vereinheitlicht werden, damit Beethoven sagen kann, mit dem Metronom habe ich meine neue Sinfonie vorgestellt. Den Erfindern der Stimmgabel ging es um Standardisierung. Und es entstand eine interessante Debatte. Soll nur der Komponist das Recht haben, ein Werk zu komponieren? Dürfen Musiker nur zuhören? Oder ein Werk frei interpretieren?"

Weitere Artikel: Florian Bissig berichtet in der NZZ vom Festival da Jazz in St. Moritz. Nach Recherchen der SZ stehen in der Causa Rammstein nach den Vorwürfen gegen Till Lindemann nun auch solche gegen Christian "Flake" Lorenz, den Keyboarder der Band im Raum. Zusammenfassungen der verpaywallten SZ-Recherche liefern Standard und FR. In der Welt porträtiert Friedrich Steffes-Lay Mavi Phoenix, der nach seiner Geschlechtsangleichung an seinem Durchbruch als Popstar arbeitet. Besprochen werden ein Konzert von Bruce Springsteen (FR), ein Auftritt von Rammstein in Berlin (taz), ein Konzert der Berliner Symphoniker (Tsp) und das neue Album von Blur (Standard).

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Bühne

FAZ-Kritiker Boris Motzki erinnert an die Uraufführung von Arthur Schnitzlers "Komödie der Verführung" vor hundert Jahren und wünscht sich zu diesem Anlass "etwas mehr Märchenluft" in der heutigen Theaterwelt. Die Choreografin und Tänzerin Simone Forti hat bei der Tanz-Biennale in Venedig den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk gewonnen, freut sich Sandra Luzina im Tagesspiegel. Nachtkritikerin Esther Boldt teilt ihre Eindrücke vom Festival Theater der Welt. In der taz resümiert Joachim Lange die Auftaktproduktionen vom Festival d'Aix-en-Provence.

Besprochen werden: Das neue Stück der Needcompany "Billy's Joy" (eine Kompilation aus Shakespeare Komödien) beim Wiener Festival Impuls-Tanz im Akademietheater (SZ), Carolina Bianchis Lecture-Performance "Die Braut und Goodnight Cinderella" vom Festival Theater der Welt (FR), Moritz Franz Beichels Inszenierung von Shakespeares "Der Sturm" bei den Salzkammergut Festwochen in Gmunden (Standard).
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Architektur

Friendship Hospital Satkhira. Bild: Asif Salman/URBANA

"Heilende Architektur" sieht Tagesspiegel-Kritikerin Gabi Czöppan bei der Ausstellung "Das Kranke(n)haus: Wie Architektur heilen hilft" im Architekturmuseum der TUM in München. Der auf Effizienz ausgelegten Krankenhausarchitektur der Gegenwart sollen hier Räume gegenüber gestellt werden, die Seele und Körper bei der Regeneration helfen: "Das Friendship Hospital Satkhira im Südwesten Bangladeschs hat der lokale Architekt Kashef Chowdhury und sein Büro URBANA entworfen - inmitten der Flutgebiete. Ein Kanal teilt die Klinik in den ambulanten und stationären Bereich. Das Wasser hilft bei der Kühlung des tropischen Klimas. Zudem wurde das 80-Betten-Krankenhaus in dem von Wirbelstürmen bedrohten Gebiet mit lokal hergestellten Ziegeln gebaut, umgeben von Gärten, Pools und Bäumen."
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Stichwörter: Krankenhaus, Heilung, Bangladesch