Efeu - Die Kulturrundschau

Gladiatoren der Erbärmlichkeit

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13.08.2018. Große Trauer herrscht in den Feuilletons um den großen Reisenden und Literaturnobelpreisträger V.S. Naipaul: Er zeigte uns die Welt, wie sie war, nicht wie wir sie gern hätten, betont die FR. Die FAZ würdigt seinen uncharmanten Scharfsinn. Im Standard stellt sich Karl Ove Knausgard seinem inneren Hund. Die Nachtkritik lässt sich auf der Ruhrtriennale von Mohammad al Attar und Omar Abusaada erzählen, wie der französische Konzern Lafarge seine Arbeiter in Syrien dem IS auslieferte. NZZ und taz küren zum Ende des Filmfestivals von Locarno ihren eigenen Gewinnerfilm: Mariano Llinás "La Flor".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.08.2018 finden Sie hier

Literatur

Die Feuilletons trauern um den im Alter von 85 Jahren verstorbenen Literaturnobelpreisträger V.S. Naipaul, der uns uns die Welt zeigte "wie sie war, nicht wie wir sie gerne hätten", schreibt etwa Arno Widmann in der FR voller Bewunderung für den Schriftsteller und Essayisten, der immer wieder auch harsch kritisiert wurde: "Warum war er nicht solidarisch mit den Erniedrigten und Beleidigten? Warum redete er von Gustave Flaubert und Joseph Conrad und nicht von indischen Autoren? Er habe, hieß es, bei seinem Aufstieg immer mehr den kolonialen Blick angenommen. Tatsächlich zeigt Naipaul nicht nur die Zerstörungen des Kolonialismus - auch nicht zuletzt die seelischen -, sondern er zeigt auch immer wieder, dass es den Menschen des einstigen britischen Empire nach dessen Zerstörung nicht besser ging. Er zeigt es, nicht indem er es behauptet, sondern indem er die Leute sprechen lässt über sich und ihre Leben. Der Plural war ihm wichtig. Naipaul verachtete Kollektive. Er verachtete nicht seine Herkunft."

Übelgenommen wurde Naipaul vor allem die Wahrheit in seiner Literatur, glaubt Burkhard Müller in der SZ: "Denn diese Wahrheit erweist sich meist als hässlich." In der FAZ bekräftigt Paul Ingendaay die sperrigen Aspekte in Naipuals Persönlichkeit: Naipaul war zwar "ein harter, kompromissloser, eitler und oft mürrischer Mann und entsprechend unbeliebt bei vielen Kollegen", doch völlig unabhängig davon ein begnadeter Autor mit "schlackenfreiem Stil": "Unübersehbar: sein rasender, durchaus uncharmanter Scharfsinn, die zähe Energie und unerschöpfliche Neugierde." Mit dem Begriff "Weltliteratur" hätte man ihm daher gar nicht kommen zu brauchen, unterstreicht Marko Martin in der Welt. "Wer verstehen will, wie es Flüchtlingen und Migranten geht, muss Naipaul lesen, diesen kauzigen, verschlossenen und schonungslosen Analysten der entwurzelten menschlichen Seele", schreibt Donimic Johnson in der taz. Wir müssen uns Naipaul "als einen verdammt tapferen Menschen" vorstellen, schließt Gregor Dotzauer seinen Nachruf im Tagesspiegel, der auch an die Kontroversen um Naipaul im postkolonialen Diskurs erinnert: "Naipaul legte sich mündlich wie schriftlich mit jedem an, der es ihm wert war. Wenn Edward Said ihm vorwarf, er sei in Bezug auf den Islam eine 'intellektuelle Katastrophe', schoss er zurück, indem er erklärte, Said habe weder Ahnung von Literatur noch entscheidende Länder der islamischen Welt wie den Iran oder Indonesien bereist."

Im Standard umkreist Karl Ove Knausgard die Frage, warum Schriftsteller so selten Hunde haben und gute Schriftsteller erst recht keinen: "Manchmal denke ich, (...) dass die Literatur ein Ort ist, an dem man sich ohne Furcht vor dem Vater und dem Gesetz des Hundes entfalten kann. Dass die Literatur die Arena der Feigen ist, das Kolosseum der Furchtsamen, dass Schriftsteller eine Art Gladiatoren der Erbärmlichkeit sind, die zu Salzsäulen erstarren, wenn ein Hund sie anbellt, aber zurückschlagen und sich behaupten und auf ihr Recht pochen, sobald sie allein sind."

Besprochen werden Maxim Billers "Sechs Koffer" (online nachgereicht von der Welt), Martin Ondaatjes "Kriegslicht" (Berliner Zeitung, Tagesspiegel, die Welt hat ihr Gespräch aus der Wochenendausgabe online nachgereicht), Kathrin Schmidts Gedichtband "waschplatz der kühlen dinge" (FR), Christoph Heins "Verwirrnis" (FR), Zülfü Livanelis "Unruhe" (SZ), Gianna Molinaris "Hier ist noch alles möglich" (Standard), Melanie Raabes Thriller "Der Schatten" (Standard) und eine Jubiläumsausgabe von Benjamin von Stuckrad-Barres Debütalbum "Soloalbum" (Tagesspiegel).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Julia Trompeter über Lina Atfahs "Lin und Leila und der Wolf":

"Zwei Mädchen aus Honig, Schlummer, Armreifrascheln.
Zwei Mädchen, deren nächtliches Lächeln das Morgenherz flaumleicht schloss.
..."

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Bühne

 "The Factory" von Mohammad Al Attar und Omar Abusaada. Foto: Ant Palmer / Ruhrtriennale

Mohammad Al Attar und Omar Abusaada erzählen bei der Ruhrtriennale mit ihrem Doku-Drama "The Factory"  die Geschichte eines Zementwerk des französischen Konzerns Lafarge, der sich selbst mit Beginn des Bürgerkriegs nicht aus Syrien zurückzog. Die Inszenierung ist Sascha Westphal in der Nachtkritik zwar etwas zu eindeutig und selbstgewiss in der Empörung, aber die Geschichte macht ihn sprachlos: "Die Verantwortlichen in Paris wollten das gigantische Werk unbedingt halten. Also sind ab 2011 Gelder an verschiedene Kriegsparteien geflossen. Auch der IS hat mehrere Millionen Dollar erhalten. In der gleichen Zeit wurden aber die im Werk tätigen syrischen Arbeiter ihrem Schicksal überlassen. 2012 kam es zu mehreren Entführungen von Lafarge-Mitarbeitern oder deren Familienangehörigen, bei denen der Konzern untätig blieb. Die Entführten mussten selbst das Geld aufbringen. Selbst als im Spätsommer 2014 schon klar war, dass die Strategie von Lafarge nicht aufgehen würde und der Verlust der Fabrik quasi unvermeidlich war, durften die letzten verbliebenen Arbeiter die heftig umkämpfte Region nicht verlassen. Wer vor der heranrückenden Front fliehen wollte, dem wurde mit Kündigung gedroht."

Weiteres: In der SZ befragt Christine Dössel den Schauspieler Philipp Hochmair zu seinem brillanten Ad-hoc-Einsatz als "Jedermann" in Salzburg, wo er für den erkrankten Tobias Moretti einspringen musste. Till Briegleb berichtet in der SZ von der Eröffnung des Sommerfestivals auf Kampnagel. Daniele Muscionico porträtiert in der NZZ den Schweizer Choreografen und Regisseur Martin Zimmermann.

Besprochen werden die Eröffnung des Tanz im Augsut mit "Trois Grands Fugues" des Balletts der Lyoner Oper (taz) und Jürgen Flimms Inszenierung von Giuseppe Mercadantes "Didone abbandonata" zur Eröffnung der Innsbrucker Festwochen der Alten Musik (Standard, FAZ).
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Kunst

Auf nach Ingelheim!, ruft Arno Widmann in der FR. Dort zeigt das Kunstforum die Ausstellung "Mensch! Skulptur" mit Werken von Plastiken von Rodin und Degas, von Picasso und Giacometti: "Wer sich für Kunst und nun gar für Skulpturen interessiert, der wird viele davon kennen. Aber neun von Degas' Tänzerinnen auf einen Streich?"

Besprochen werden die Retrospektiven zu Josef Albers in der Villa Hügel in Essen und zu Anni Albers in der Kunstsammlung NRW (FAZ).

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Musik

Jan Paersch berichtet in der taz vom feministisch geprägten Øya Festival in Oslo. Im ZeitMagazin träumt Bowie-Produzent Tony Visconti.

Besprochen werden Stella Sommers "13 Kinds of Hapiness" (Spex, Skug), die Luxus-Neuausgabe von Guns N' Roses' Debütalbum "Appetite for Destruction" (taz), das Berliner Konzert des Sun Ra Arkestra (taz, ZeitOnline), Hélène Grimauds Konzert mit dem Gstaad Festival Orchestra beim Rheingau Musik Festival (FR), das Konzert des Jugendorchesters der Niederlande bei Young Euro Classic (Tagesspiegel) und Justin Timberlakes Berliner Aufritt (SZ).
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Stichwörter: Oslo, Young Euro Classic, Luxus

Film

Bild- und Erzählmaschine: Mariano Llinás "La Flor" (Bild: Festival Locarno)

Mit einem Goldenen Leoparden für Yeo Siew Huas "A Land Imagined", einem bedrückende nüchternen Film über die Arbeitskultur in Asien, ist am Wochenende das Filmfestival von Locarno zu Ende gegangen. Gerechnet hatte mit dieser Entscheidung allerdings niemand: NZZ-Kritikerin Susanne Ostwald wittert in dieser offenbar thematisch gefällten Entscheidung gar einen Verrat an der Filmkunst. Auch Daniel Kothenschulte winkt in der FR angesichts dieses "Pastiches aus Versatzstücken des Autorenfilms" eher ab und präsentiert stattdessen einen ausgemachten Liebling der KritikerInnen: Mariano Llinás in sechs Etappen gezeigter, knapp 14-stündiger "La Flor", der "alle Spielarten des Erzählkinos zelebriert: Vom Hollywood-Musical über das B-Picture bis zur französischen Nouvelle-Vague stellt sie der Filmemacher in den Dienst einer schwelgerisch-surrealen Traumerzählung. Dass er bei der Preisverleihung leer ausging, verwunderte viele bei diesem Festival der Extreme."

Auch Lukas Foerster hat sein Herz an diesen Film verloren, wie er in der taz schreibt: Um die "Verkomplizierungen und (durchaus gezielten) Verwirrungen und selbst um die exorbitante Länge kümmert man sich gar nicht mehr, wenn man erst einmal im Kino sitzt. Da ist man einfach nur überwältigt von der puren Lust am Fabulieren, die aus jeder einzelnen Szene spricht, von einer nimmersatten Bild- und Erzählmaschine, die fröhlich zwischen den Kontinenten und Zeitebenen hin und her springt." Auch Michael Pekler vom Standard kam mit jedem neuen Kapitel dieses Films "zunehmend aus dem Staunen nicht mehr heraus." Im Tagesspiegel freut sich Patrick Wellinski über die große Zahl "vielschichtig angelegter Frauenfiguren", die das Festival zu bieten hatte.

Stefan Reinecke schreibt in der taz einen Nachruf auf den TV-Dokumentarfilmemacher Klaus Wildenhahn, der mit seinen am Direct-Cinema orientierten Arbeiten unter anderem die Arbeitskämpfe der 70er und 80er beobachtet hatte. Der Filmemacher "war nicht nur die 'Fliege an der Wand'", erklärt Daniel Kothenschulte in der FR. "Seine Beobachtungen formte ein natürlicher Bildfluss und nicht zuletzt eine soziale Haltung, die mit der Intimität der Ästhetik in Einklang stand. Oder, anders ausgedrückt, die das den Menschen Abgeschaute in den Dienst einer höheren Menschlichkeit und politischen Relevanz stellte." Der NDR wiederholt in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch ausgewählte Filme aus Wildenhahns Schaffen.

Weitere Artikel: Frank Junghänel hat sich für die Berliner Zeitung auf ein Gespräch mit Andreas Dresen über den DDR-Liedermacher und Baggerfahrer Gerhard Gundermann getroffen, über den Dresen gerade einen Film gedreht hat. Besprochen werden eine Heimkino-Veröffentlichung von Richard Lesters Antikriegsfilm "Wie ich den Krieg gewann" mit John Lennon (SZ) und Annekatrin Hendels Dokumentarfilm "Familie Brasch" (Freitag).
Archiv: Film