Efeu - Die Kulturrundschau

Epische Ausleuchtung von Grautönen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.10.2017. Im Gespräch mit der taz erklärt die Musikerin Jamila Woods, was Afrofuturismus bedeutet. In der Welt erklärt Ian Buruma seine Pläne für die New York Review of Books. Die FAZ feiert die allumfassende Depression in Hans-Christian Schmids Miniserie "Das Verschwinden". Die Theaterkritiker verreißen die allumfassende Langeweile in Milo Raus "Lenin".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.10.2017 finden Sie hier

Musik

Diviam Hoffmann hat sich für die taz mit der Musikerin Jamila Woods aus Chicago auf ein Gespräch getroffen. Für Woods' Musik ist die Ästhetik und Motivlage des Afrofuturismus entscheidend, erfahren wir: Denn "in Science-Fiction-Filmen, -Literatur und -Musik sind wir unterrepräsentiert. Die unausgesprochene Bedeutung davon ist, dass Schwarze nicht überleben werden. Im Afrofuturismus geht es um zukünftige Repräsentation, es wird aber auch eine alternative Fassung der Geschichte erzählt. Mich fasziniert die Vorstellung, dass während der Verschleppung der Sklaven über den Atlantischen Ozean einige von Bord gesprungen sind, weil sie lieber ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen wollten, anstatt in Gefangenschaft zu leben. Afrofuturistische Storys erzählen, dass sie unter Wasser weiterleben, es Gemeinschaften Schwarzer im Atlantik gibt. Davon ist mein Song 'Heavn' inspiriert: Unsere Vorfahren tanzen noch immer unter Wasser." Schade, dass es dazu kein Musikvideo gibt. Dieses hier ist aber auch nicht schlecht:



Weiteres: Im Tagesspiegel berichtet Andreas Hartmann von seinem Treffen mit der in Berlin lebenden, chinesischen Noise-Künstlerin Pan Daijing. Steven Geyer gratuliert in der Berliner Zeitung Punkmusiker Aljoscha Rompe zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden das neue Album "Masseduction" von St. Vincent (SZ), eine Doku über die Sleaford Mods (Standard), ein Brahms-Konzert der Berliner Philharmoniker unter Yannick Nézet-Séguin (Tagesspiegel), Lee Gambles "Mnestic Pressure" (Spex), ein Konzert von Paradise Lost (FR) und ein Konzert des Jazz-Pianisten und Klangforschres Vijay Iyer in Mannheim (FAZ).
Archiv: Musik

Bühne


Szene aus "Lenin". Foto: Thomas Aurin

Kein gutes Haar lassen die Theaterkritiker an Milo Raus "Lenin"-Inszenierung an der Berliner Schaubühne. Im Tagesspiegel schüttelt Rüdiger Schaper den Kopf: "Sehnt sich Milo Rau nach einem starken Anführer der unterdrückten Massen? Mit Lenin war noch alles gut und in Bewegung, Trotzki war auch o. k., aber dann kommt dieser georgische Gauner Dschughaschwili und macht die gute und gerechte Sache kaputt? So ganz auf die Sterbestunden Lenins beschränkt, fehlt das Systemische, der monströse Sowjetapparat. Das Mindeste, was über Milo Raus Theatergruft zu sagen ist: Vorsicht, Kitsch! Ein Sowjetfilm hätte diesen Personenkult nicht besser hinbekommen."

In der Berliner Zeitung mühte sich Ulrich Seidler wach zu bleiben: "Was der Tragödie folgte, war ihre Fortsetzung als mörderische Farce mit Stalin am Ruder des Terrors und der Bürokratie. In der Schaubühne wird dieser Moment nun in einem zugleich konstruierten, ikonografischen und hypernaturalistischen Reenactment herausgezögert, als gelte es, in einem hypnotischen Exerzitium irgendwelche längst vergessenen Ideale auszutreiben oder ihren Verlust zu sühnen. Womit hat das wohlanständige, bürgerliche, von der Geschichte weitgehend verschonte Theaterpublikum solche Strafmaßnahmen verdient?"

"Jetzt ist er vollständig tot, erstickt von Langeweile", seufzt Mark Siemons in der FAZ. In der nachtkritik ist Esther Slevogt freundlicher, aber auch ratlos.

Der russische Regisseur Kirill Serebrennikow darf nicht zur Stuttgarter Premiere seiner Inszenierung der Oper "Hänsel und Gretel", für die er in Ruanda gedreht hat, kommen, berichtet Benno Stieber in der taz. Die Dramaturgin Anne-Christin Mecke, Intendant Jossi Wieler und Chefdramaturg Sergio Morabito, "haben sich dafür entschieden, aus dem Film und den Entwürfen von Serebrennikow eine Inszenierung zu machen, die sein Fehlen nicht verdeckt, sondern offenlegen soll. Die Inszenierung verzichtet jetzt auf Kostüme und Bühnenbild, die der russische Regisseur für diesen Abend ursprünglich vorgesehen hatte. Die Lücke soll deutlich sichtbar sein, die das rigorose Vorgehen des russischen Staats hinterlassen hat. 'Es wird versucht, alles, was Serebrennikow ausmacht, auszulöschen. Das ist tiefes Unrecht', sagt Wieler. 'Es muss an diesem Abend um Politik gehen, nicht um die Art, wie wir auf der Bühne damit umgehen.'"

Besprochen werden außerdem Jonathan Meeses Inszenierung von Bernhard Langs Oper "Mondparsifal" im Haus der Berliner Festspiele (neue musikzeitung), Amélie Niermeyers Inszenierung von Branden Jacobs-Jenkins Drama "Gloria" am Münchner Residenztheater (nachtkritik), "Feminista, Baby!", ein Stück nach dem SCUM Manifesto von Valerie Solanas, das Tom Kühnel und Jürgen Kuttner am Deutschen Theater inszeniert haben (nachtkritik), Moritz Eggerts "La Bettleropera" in der Neuköllner Oper (Tagesspiegel, taz) und Franz Lehárs Operette "Die lustige Witwe" im renovierten Gärtnerplatztheater (Reinhard J.Brembeck langweilt sich in der SZ gründlich mit der "Schenkelklatschkomik" und harmlosen Biederkeit der Inszenierung)
Archiv: Bühne

Literatur

Seit einem Monat ist Ian Buruma neuer Chefredakteur der New York Review of Books - für die Literarische Welt hat sich Hannes Stein daher auf ein Gespräch mit ihm getroffen. Seine Pläne für das intellektuelle Traditionsblatt umreißt Buruma so: "Manche Dinge haben sich schon geändert. Wir sollten der zeitgenössischen Kunst viel mehr Aufmerksamkeit schenken. Wir sollten uns mehr um übersetzte Literatur kümmern. Wir sollten auf Südamerika schauen, auf Afrika. Es wird keine Revolution geben, aber Sie werden graduelle Verschiebungen entdecken. Und die größte Änderung wird - hoffe ich - sein, dass unsere Autoren jünger werden. Und damit auch unsere Leser."

In der FR spricht Arno Widmann mit Salman Rushdie über dessen neuen Roman "Golden House". Unter anderem erfahren wir auch, warum auch viele Afroamerikaner dessen Bücher lesen. Das hatte ihm nämlich der jamaikanische Schriftsteller Marlon James verraten: "Er sagte, es sei doch offensichtlich: 'Die lesen Dich, weil du ein knallhartes Arschloch bist, ein badass motherfucker.'"

Weiteres: Die FAZ hat für einen Übersetzerwettwerb eine Passage aus einem unveröffentlichten Roman Don DeLillos übersetzen lassen. Siegerin unter Hunderten anonymisierten Übersetzungen ist die Version der bekannten Übersetzerin Pociao. Sowohl den Don-DeLillo-Text auch die Übersetzung präsentiert die FAZ heute. Der Übersetzer und Organisator des Wettbewerbs Ulrich Blumenbach erklärt die Aktion im Feuilleton-Aufmacher. Laut Agenturen (hier in Zeit online) gibt es neue Indizien, dass Pablo Neruda vergiftet wurde. Eva-Christina Meier spricht in der taz mit Arnoldo Gálvez Suárez über dessen Roman "Die Rache der Mercedes Lima" und die Situation in Guatemala. Für die Welt erkundigt sich Marc Reichwein bei Klaus Jöken, wie man einen Asterix-Band übersetzt. Für die Zeit unterhält sich Ingeborg Harms mit der Schriftstellerin Catherine Millet. Die FAZ stellt in ihrem literarischen Wochenendessay eine Passage aus Don DeLillos "Great Jones Street" ihrer Übersetzung von Pociao gegenüber. Deutschlandfunk Kultur bringt eine Lange Nacht von Helmut Böttiger über die Gruppe 47.

Besprochen werden Didier Eribons "Gesellschaft als Urteil" (Tagesanzeiger, Deutschlandfunk Kultur), John le Carrés "Das Vermächtnis der Spione" (SZ), der von Tristan Marquardt und Jan Wagner herausgegebene Band "Unmögliche Liebe. Die Kunst des Minnesangs in neuen Übertragungen" (SZ), Cecilia Ekbäcks "Im Schatten der Mitternachtssonne" (taz), Doron Rabinovicis "Die Außerirdischen" (taz), Michael Mikolajczak und Holger Kleins Comic "Blutspur" (Tagesspiegel), Vladimir Nabokovs "Briefe an Véra" (Literarische Welt), Alexandre Dumas' "Der Graf von Monte Christo" (Literarische Welt) und der Briefwechsel zwischen Ernst Jandl und Ian Hamilton Finlay (FAZ).
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Film


Elisa Schlott in "Das Verschwinden" (Bild: BR)

Eine "epische Ausleuchtung von Grautönen"! Mit Hans-Christian Schmids Miniserie "Das Verschwinden" über ein verschwundenes Mädchen in der bayerischen Provinz beweist die ARD "wirklich Mut", konstatiert Ursula Scheer in der FAZ: "Die Wolken hängen tief über dem Acker, bleierne Schwere liegt über dem Dorf, alles ist grau, es regnet viel. Bei Innenszenen sehen wir verschlossene Gesichter hinter vorgezogenen Gardinen. Statt mit einem dramatischen Auf und Ab Emotionen zu fesseln, setzt Schmid auf den Sog allumfassender Depression. Es wird immer nur schlimmer." Am Ende wird's der Kritikerin allerdings auch ganz schön viel zu lang.

Für FR-Kritiker Daland Segler ist Schmids Team "ein ungewöhnlich dichter Zugriff auf die Gegenwart gelungen, der durch seine Entschlossenheit das Konzept der Serie rechtfertigt. Mag der sonntägliche 'Tatort' die Zuschauer mit der Katharsis der Aufklärung und Beseitigung des Bösen in die Woche entlassen - 'Das Verschwinden' hält keinen derartigen Trost bereit. Hier stehen am Ende keine Kommissare an der Würstchenbude. Hier herrschen Schrecken, Trauer und Schmerz." Aber dennoch, versichert Katharina Riehl im Tagesanzeiger, ist die Mini-Serie "richtig, richtig gut geworden".

Man sollte ja meinen, dass solche Stoffe und Versuche, das Format der deutschen Serie auf Niveau zu bringen, zumal, wenn sich ein renommierter Regisseur darum kümmert, bei den Sendern mit Kusshand und rotem Teppich empfangen werden. Dass dem so nicht ist, erfahren wir im Gespräch, das Elmar Krekeler für die Welt mit Schmid geführt hat. Das Skript hatte man an diverse Redakteure geschickt, der BR schlug als erstes zu. Dann aber "setzte schon ein durchaus komplizierter Prozess ein. ... Es gab ARD-Koordinierungsausschüsse und ARD-Hauptabendredaktionssitzungen, zwei-, dreimal im Jahr, und immer wieder hieß es, dass noch diskutiert werde, dass noch keine Mehrheit da wäre, dass es noch keinen Sendeplatz gäbe. Gut, dass wir die Zeit wenigstens nutzen konnten, um den Stoff weiterzuentwickeln. Drei Jahre." Die erste Doppelfolge der Serie feiert ihre Premiere im Internet und wird am Sonntagabend im linearen Fernsehen nachgereicht.

Lange Zeit lag der ungarische Film brach, jetzt feiert er eine Renaissance - dafür verantwortlich ist der Ungarische Filmförderfonds, erklärt Agnes Szabó im Freitag, für den im übrigen der (in Ungarn geborene, in den USA aufgewachsene) Filmproduzent Andrew G. Vajna ("Rambo", "Basic Instinct") federführend ist. Dieser pflege "enge Wirtschaftsbeziehungen zu Fidesz-Politikern, verfügt über das Casino-Monopol und kaufte unlängst für Fidesz private Fernseh-und Rundfunkstationen landesweit auf. ... Für Regisseure wie Béla Tarr oder aus der jüngeren Generation Szabolcs Hajdu sind Vajna und der Filmförderfonds von der Politik bestimmt worden, deshalb gilt er ihnen als illegitim." Die Vorbehalte sind nicht aus der Luft gegriffen: "Die Bedenken, dass die neue Filmförderungsanstalt zu viel Zensur oder Druck ausüben würde, zeigen sich vor allem am Recht auf den final cut. 2015 montierte der Fonds das Ende einer Komödie neu, ohne den Regisseur darüber zu informieren."

Weiteres: Andrey Arnold gibt in der Presse Viennale-Tipps. Im Filmforum Bremen schreibt Marco Koch zum Tod des italienischen Filmregisseurs Umberto Lenzi, der in den 70ern den italienischen Polizeithriller mitgeprägt hat. Margarete Affenzeller schreibt im Standard über die Filme von Carmen Cartellieri, der das Filmarchiv Austria eine Retrospektive widmet. Unter anderem spielte sie in dem Stummfilm-Horrorklassiker "Orlacs Hände" von Robert Wiene mit:



Besprochen werden Raymond Depardons "12 Jours" (Standard), Dustin Guy Defas bei der Viennale gezeigte Indie-Komödie "Person to Person" mit Michael Cera (Standard) und Ruben Östlunds Kunstbetriebssatire "The Square" (FAZ, unsere Kritik hier).
Archiv: Film

Kunst


Hugo Wassermann, Italy, Finalist 2017, Urban Wildlife

In London wurde gerade mit dem Südafrikaner Brent Stirton der Wildlife Photographer of the Year ausgezeichnet. Wieland Freund hat sich für die Welt durch die Bildergalerie des Wettbewerbs geklickt und ist überwältigt. Aber ungemütlich wird's ihm auch: Denn was für ein Bild von der Kreatur haben Jury und Fotografen? "Das Walauge, die Eisbärenbeine, die Langustenlarven auf schwarzem Grund: Die Jury hat mit Vorliebe Bilder ausgewählt, die lebendige Wesen auf grafische Effekte reduzieren - je bildschirmschonerhafter, desto besser. Die grafische Darstellung, die einmal zur Vereinfachung und Veranschaulichung dienen sollte, ist hier zum ästhetischen Leitbild geworden."

Der Preis der Nationalgalerie für junge Kunst geht an die polnische Künstlerin Agnieszka Polska, berichtet Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung. In der NZZ denkt Beinahe-Sammlerin Annegret Erhard über die Psychologie des Kunstsammlers nach. Freddy Langer besucht für die FAZ den Fotografen Werner Bokelberg, der morgen achtzig wird.

Besprochen werden eine Ausstellung zu dem Maler Eric Isenburger und seine Frau, die Tänzerin Jula Isenburger, im Museum Giersch (FR),  die Ausstellung "Icon" in der Wiener Galerie Krinzinger, die Einflüsse auf Künstler dokumentiert (Standard), die Ausstellung "Almost Blue" der portugiesischen Künstlerin Maria Trabulo in der Neuen Galerie der Tiroler Künstlerschaft in Innsbruck (Standard), eine Ausstellung von Wolfgang Petrick im Max-Liebermann-Haus am Brandenburger Tor (Tagesspiegel), eine Soutine-Ausstellung in der Courtauld Gallery in London (Guardian),
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