Efeu - Die Kulturrundschau

Ein heiliger Ernst umweht die Dramen

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28.06.2016. Aktuell: Marcel Beyer erhält den Büchner-Preis 2016. Finesse und Fanatismus der Religionen erlebt die Welt in einer Lyoner Inszenierung von Jacques Halévys Oper "La Juive". Der Standard fragt: Kann das Lächeln der Kollegen Arbeit sein? Die SZ gelangt über die Avantgarde und die Dunkelkammern der Psyche zu Gertie the Dinosaur. Die taz hätte in der Hamburger Elbphilharmonie beinahe wieder den Glauben an Ästhetik, Zweckfreiheit und Feinsinnigkeit gefunden. Und zur Trauer um Götz George kommt nun auch die um Manfred Deix und Bud Spencer.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.06.2016 finden Sie hier

Literatur

Der Büchner-Preis geht in diesem Jahr an den Schriftsteller Marcel Beyer. Das meldete soeben die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und schreibt zur Begrüdnung: "Seine Texte sind kühn und zart, erkenntnisreich und unbestechlich. So ist während dreier Jahrzehnte ein unverwechselbares Werk entstanden, das die Welt zugleich wundersam bekannt und irisierend neu erscheinen lässt."

1816, im legendären "Jahr ohne Sommer", entstand in der Villa Diodati am Genfer See Mary Shelleys "Frankenstein", ein Mythos der Schauerliteratur und Vorläufer des Horror- und Science-Fiction-Genres. An ihn erinnert eine Ausstellung in der Fondation Martin Bodmer in Genf, die Fritz von Klinggräf in der taz erleben ließ, wie aus Albträumen Literatur wurde: "Lauter Körperwelten - vermengt mit einem neuzeitlichen Animismus, der totem Material und einem in Nationen zerfallenden Europa ein letztes Mal Leben einhaucht. Im neuen Leitmedium der Massenliteratur entfalten bioelektrische Phantastereien und magnetistische Spekulationen eine Produktivkraft, die mit ihren unzähligen Nachahmungen, Verschiebungen und Verdichtungen der menschengemachten Kreatur bis heute unsere Welt bevölkert." (Hier der Roman in voller Länge.)

Weiteres: Andreas Förster erinnert in der FR daran, wie die Schweiz die DDR-Schriftsteller Johannes R. Becher, Arnold Zweig und Stephan Hermlin bei einer Visite im Land im Jahr 1951 aushorchen ließ. In der NZZ stellt Angela Schader den kurdischen Schriftsteller Bachtyar Ali und seinen ersten in Deutschland erscheinenden Roman "Der letzte Granatapfel" vor.

Besprochen werden unter anderem Bücher von Kate Tempest (ZeitOnline), Michelle Steinbecks "Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch" (FR), Elke Erbs "Gedichte und Kommentare" (FAZ) und Albena Dimitrovas "Wiedersehen in Paris" (SZ). Mehr auf Lit21, unserem Metablog zum literarischen Leben im Netz.
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Bühne


Olivier Pys Inszenierung an der Oper Lyon. Foto: Stofleth.

Jacques Fromental Halévys selten gespielte Oper "La Juive" wird zur Freude Manuel Brugs in der Welt derzeit gleich mehrfach gezeigt. Über die Fadheit von Calixto Bieitos Münchner Inszenierung konnte Brug allerdings auch nicht das "militärkapellmeisterliche" Rumsen aus dem Orchestergraben hinwegtäuschen. In Lyon aber habe ein "kräftiges monstre sacré seine Krallen" gezeigt: "Da entfesselt der designierte Orchesterdirektor Daniele Rustioni ein farbenreiches, gehaltvolles Klanggeschehen, holt ohne Mühe das Maximum aus dieser ungleichgewichtigen, aber an den entscheidenden Stellen grandios-tragischen Tonvorlage. Olivier Py kitzelt in seiner klaren, dichten Inszenierung das Verstörende und das Verführerische der Vorlage heraus, findet Wahnwitz und Wahrheit der Geschichte, Finesse und Fanatismus der Religionen."

Mounia Meiborg bilanziert in der SZ die Autorentheatertage in Berlin, wo drei Stücke von Dominik Busch, Stefan Hornbach und Jakon Nolte als Inszenierungen und nicht als Lesungen der Öffentlichkeit präsentiert wurden: Was sie auch passender findet, da die Stücke "die Möglichkeiten des Theaters" hinterfragten, "ohne sich in Theoriegespinsten zu verheddern". Die Stücke, schreibt Irene Bazinger in der FAZ, befassen sich bei allem Unterschied durchweg mit drängenden, großen Fragen: "Ob humorvoll, sprachakrobatisch oder absurd, geht es im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod. Alte Hüte, klar, aber abgestaubt, aufgefrischt und begabt überformt: Ein heiliger Ernst umweht die Dramen, der tut ihnen gut und lohnt sich fürs Publikum.

Weiteres: Im Tagesspiegel berichtet Patrick Wildermann vom Malta-Theaterfestival in Poznan. Für den Tagesspiegel porträtiert Maria Fiedler die Schauspielerin Bettina Brezinski. In der FAZ berichtet von zwei bislang unbekannten, vom Goethe-Museum Düsseldorf ersteigerten Briefen des Goethe-Chronisten, "die den bemerkenswerten Fall einer Schauspielleidenschaft entfalten."

Besprochen werden Dieter Wedels in Bad Hersfeld gezeigte Inszenierung von Arthur Millers "Hexenjagd" (FR), Tina Laniks Inszenierung von Stefan Zweigs Roman "Ungeduld des Herzens" am Staatstheater Wiesbaden (FR), die Uraufführung von Wolfgang Böhmers und Peter Lunds Oper "Stella" an der Neuköllner Oper in Berlin (taz), Christof Loys von Sebastian Weigle dirigierte Frankfurter Inszenierung von Alban Bergs "Wozzeck" (FAZ), Guy Joostens Inszenierung von Jules Massenets "Le Cid" bei den Festspielen in St. Gallen (NZZ) und Fromental Halévys in München in der Inszenierung von Calixto Bieito gezeigte Oper "Die Jüdin", deren Grundthema "religiös motivierter Hass" der Regisseur laut Reinhard J. Brembeck in der SZ "schnörkellos, schlicht und ohne alle Mätzchen verhandelt".
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Kunst


Mit "We are the builders" (2013) dokumentiert Ferhat Özgür das Leben türkischer Männer im Baugewerbe

Für den Standard besucht Roman Gerold die Ausstellung "Crisis as Ideology?" im Wiener Kunstraum Niederösterreich, wo die Arbeitswelt auf ihre veränderten Mechanismen der Selbstausbeutung abgeklopft wird: "Immerhin scheinen in jenem Büro, das Marianne Flotron in ihrer Videoarbeit Work (2011) zeigt, paradiesische Zustände zu herrschen. 'Es fühlt sich nicht wie Pflicht an, hier zu arbeiten', meint eine der von ihr Interviewten. '99 Prozent der Kollegen, die hereinkommen, lächeln', sagt ein anderer. Ob man auch Opfer bringen müsse? Eine echte Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Man habe jedenfalls alle Freiheiten, auch jene, jederzeit zu kündigen."

Auch Gottfried Knapp ist in der SZ von der großen Schirn-Ausstellung "Pioniere des Comics" (mehr dazu hier) sehr angetan. Auch hält er die darin stark gemachte These für plausibel, dass bereits in den ersten Comics ästhetische Konzepte angelegt waren, die man gemeinhin den erst später auftretenden Avantgarden des 20. Jahrhunderts zuschreibt: "Folgt man dem Bilderträumer Winsor McCay auf seinen Streifzügen durch die Dunkelkammern der Psyche, entdeckt man auf Schritt und Tritt zeichnerisch brillant pointierte Realitätsbrüche, wie sie erst zwanzig bis dreißig Jahre später von den Berufs-Surrealisten Dalí, Ernst und Magritte wieder gewagt worden sind. Auf dem anderen Gebiet, auf dem McCay als Zeichner seiner Zeit voraus war, beim Film, konnte er selber den Beweis erbringen, wie direkt seine in Stufen sich entwickelnden Bild-Erzählungen auf das neue Medium zuliefen." Knapp spielt damit auf den kurzen Animationsfilm "Gertie the Dinosaur" an, der als Initialzündung der Cartoons gilt.



Große Trauer um den Karikaturisten Manfred Deix. Dessen Darstellungen teigig-fleischfarbener Zeitgenossen "haben den Impuls der Lustigmacherei früh hinter sich gelassen und sind weithin als Kunstwerke anerkannt", schreibt Hans-Jürgen Linke in der FR. Auch Christian Schröder vom Tagesspiegel konstatiert: "Hässlichkeit sah nie schöner aus als auf den Bildern von Manfred Deix." Und Ralf Leonhard schreibt in der taz: "Die katholische Kirche und die rechte FPÖ verfolgten ihn jahrelang mit Anzeigen und Prozessen." Schon dieses Qualitätssiegels wegen wird man ihn sehr vermissen. Im Standard verdankt ihm Doris Priesching Einblick in "die ganz normale oder, besser, grindige Grundnatur von Herrn und Frau Österreicher, vornehmlich bei diversen Verrichtungen des Alltags zwischen Sadomaso-Sex und Muttermord inklusive saftigen Versen und allem, was dazugehört: Zumpferln, Dutteln, Wabbelbäuchen, Hängeärschen, Bremsspuren, Ejakulationsflecken". ZeitOnline bringt zum Abschied eine Strecke. Weitere Nachrufe in SZ und FAZ und Presse.

Weiteres: Sarah Alberti berichtet in der taz vom Leipziger Fotofestival f/stop.

Besprochen werden die Ausstellung "Visionäre der Moderne" über Bruno Taut, Paul Goesch und Paul Scheerbart in der Berlinischen Galerie (Tagesspiegel), eine Hannah-Höch-Schau in der Kunsthalle Mannheim (FAZ) und eine Ausstellung über die Kulturgeschichte Siziliens im Britischen Museum in London (FAZ).
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Musik

Dirigent Tugan Sokhiev verabschiedet sich vom Deutschen Symphonie Orchester Berlin und geht nach Moskau zum Bolschoitheater. Im Tagesspiegel spricht er gegenüber Frederik Hanssen davon, dass er "wieder mehr Bühnenluft atmen" wolle. Von Sokhievs Abschiedsabend am DSO mit "La Damnation de Faust" war Hanssen unterdes nicht rundum überzeugt: Es gab "viele akkurat ausgeführte Noten zu hören, die sich überhaupt nicht zu einer atmosphärischen Grundierung des Geschehens verbinden. Eckig und ungelenkt wirkt das DSO, die Balance stimmt nicht, der Klang bleibt ohne Tiefe, ohne Parfum. Lediglich in den sinfonischen Passagen - und von denen gibt es zum Glück einige - vermag das Orchester seine Qualitäten zu zeigen."

Weiteres: Julian Weber resümiert in der taz eine dem vor der Emeritierung stehenden Popmusikwissenschaftler Peter Wicke gewidmete Berliner Konferenz. In der NZZ erinnert sich Ueli Bernays an Claude Nobs und 50 Jahre Jazz-Festival in Montreux und stellt die nun erschienene Bild- und Textsammlung zum Jubiläum vor.
Außerdem spricht Andrea Kucera mit dem neuen Direktor Mathieu Jaton über dessen Pläne für die Zukunft des Festivals.

Besprochen werden ein Konzert von Teodoro Anzellotti (FR), der Saisonabschluss der Berliner Philharmoniker an der Waldbühne (Tagesspiegel, hier eine Aufnahme des Konzerts in voller Länge).
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Architektur

Für ihre Nord-Ausgabe hat die taz Petra Schellen zur Hamburger Elbphilharmonie geschickt, die in absehbarer Zeit tatsächlich eröffnet werden soll. Geschrieben hat Schellen gleich zwei Texte: Einen, für den sie sich vorab besonders viel schlechte Laune mitgenommen hat, um am Ende bloß noch zu staunen, wie wunderbar sie den neuen Kulturtempel doch findet: "Etwas Äs­the­ti­sche­res, im guten Sinne Zweck­freie­res hätte man mit die­sem Geld nicht an­fan­gen kön­nen; sogar der eins­ti­ge Nör­gel-Jour­na­list beginnt mit dem guten alten Schiller zu glauben, dass Äs­the­tik fein­sin­nig macht und den Cha­rak­ter bes­sert. Oder zu­min­dest den Wohl­fühl-Fak­tor er­höht, denn das Ganze ist nicht nur schön an­zu­schau­en, son­dern auch an­ge­nehm tak­til: Die Wände des Ver­wal­tungstraktes sind aus Beton - aber nicht zu hart. An­de­re aus Gips, aber nicht zu weich."

Im zweiten Text geht es um die deutlich höhere Saalmiete gegenüber der Laeiszhalle: "Hamburgs Or­ches­ter wer­den also mit Verlusten und internen Quer­fi­nan­zie­run­gen jon­glie­ren müs­sen. Oder aber, nach Ab­klin­gen des Er­öff­nungs-Hy­pes, un­auf­fäl­lig einen immer grö­ße­ren Teil der Kon­zer­te wie­der in der güns­ti­gen La­eisz­hal­le geben. So könn­te das Über­ra­schen­de pas­sie­ren, nämlich dass die La­eisz­hal­le mit­tel­fris­tig für die Orchester zur loh­nen­den Al­ter­na­ti­ve wird."
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Stichwörter: Elbphilharmonie, Hamburg

Film

Dieses Jahr beschert dem Genre-Film wirklich schlimme Verluste: Nun ist auch Bud Spencer gestorben. Hier sehen wir ihn noch einmal in voller Aktion, in einer Szene aus einem der schönsten Filme von Bud Spencer und Terence Hill:



... und, verdammt, sah er in seiner Zeit als Schwimmsportler gut aus. Kein Wunder, dass der Regisseur Dario Argento einen Gott in ihm sah.

Weiteres: Jan-Schulz Ojala schreibt im Tagesspiegel zum Tod von Götz George. "Scheiße", stößt die taz auf ihrer Seite eins auf. Jan Feddersen erinnert in seinem Nachruf an Georges Körperlichkeit: "Eine ganz ungewöhnliche Schönheit, ein Mann, der alle körperliche Wucht nicht wie einen Übergriff aussehen ließ, eher wie ein scheues Angebot, sich faszinieren zu lassen." Die SZ widmet ihre Seite Drei einer ausführlichen Würdigung Georges durch Holger Gertz. Die Zeit bringt aus diesem Anlass eine Fotostrecke (mehr dazu im gestrigen Efeu). In der NZZ schreibt Rainer Moritz. Für Wired porträtiert Jon Mooallem Steven Spielberg, dessen neuer Film "The Big Friendly Giant", eine Roald-Dahl-Adaption, demnächst ins Kino kommt.

Besprochen werden Maya Newells Dokumentarfilm "Gayby Baby" (Tagesspiegel), das Staffelfinale von "Game of Thrones" (ZeitOnline) und der auf dem Filmfest München gezeigte Dokumentarfilm "The Last Laugh" von Ferne Pearlstein (SZ) mit unter anderem Mel Brooks, dem Dietmar Dath in der FAZ zum Neunzigsten gratuliert.
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