Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Deutschlandkörper

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27.06.2016. Der Tod Götz Georges stürzt die Feuilletons in Trauer: Zeit Online lernte von ihm alles über das Karrieremachen in Deutschland, die FR alles über ungeschönte Maskulinität. Die NZZ erlebt in Basel die Befreiung Stockhausens von sich selbst. Die Presse warnt vor Brutalismus. Die FAZ erklärt sich das Brexit-Referendum mit der literarisch immer gepflegten Exzentrik der Insulaner. Die SZ fragt dagegen: Wo war eigentlich der britische Wutpop? Der Tagesspiegel hält für möglich, dass jetzt auch die Volksbühne aus Berlin austreten wird.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.06.2016 finden Sie hier

Film

Was für ein Verlust - Götz George ist tot. Auf Zeit Online gibt es bereits einen Nachruf von Matthias Dell, der besonders auf die Widersprüchlichkeit des großen Schauspielers abhebt: "Götz George war ein Deutschlandkörper, ein Schauspieler, der nach 1945 eine Karriere gemacht hat in Filmen, die das Karrieremachen in Deutschland immer wieder erzählt haben. 1977 spielte er in Theodor Kotullas 'Aus einem deutschen Leben' den Lagerkommandanten von Auschwitz, 1995 'Das Schwein. Eine deutsche Karriere', und natürlich den Massenmörder Fritz Haarmann in Romuald Karmakars 'Der Totmacher'. Davor war Götz George, in einer Doppelrolle, 'Schulz & Schulz', ein Ost-West-Brüderpaar nach der Vereinigung, in Helmut Dietls 'Schtonk' (1992) pumpte er all seine Intensität in die wahnwitzige Figur des Journalisten, der die Hitlertagebücher entdeckt haben wollte."

In der FR ehrt Daniel Kothenschulte besonders, wie George als Underdog-Kommissar Schimanski die Ordnungsutopien des deutschen Fernsehen durcheinanderbrachte: "Gleichermaßen grobschlächtig wie nobel, rettete er als Schimanksi eine ungeschönte Maskulinität in die Popkultur der Achtziger Jahre. Und gab ganz nebenbei dem Fernsehen zurück, was schon dem deutschen Kinofilm abhanden gekommen war: Das Genre." Weitere Texte online auf SZ, NZZ, taz und FAZ.

Die erste Szene aus Dominik Grafs "Die Katze" (1988) gehört zum Sinnlichsten, was das BRD-Kino hervorgebracht hat.



Für die taz hat Tilman Baumgärtel das erste deutsche Virtual-Reality-Kino besucht, das sich in Berlin befindet. Mit einem Smartphone-gestütztem Virtual-Reality-Helm auf dem Kopf kann man sich dort eine halbe Stunde lang in prächtigen Welten umsehen. Wobei sich Baumgärtel da auch Fragen aufdrängen, etwa die, "ob das überhaupt noch Film ist, wenn man als Betrachter absolute Wahlfreiheit hat, die eigene Blickrichtung zu bestimmen und zum Beispiel immer nur dahin zu gucken, wo nichts passiert. Die Kraft des tra­di­tio­nel­len Kinos besteht ja auch gerade darin, dass der Regisseur den Zuschauer quasi an den Ohren nimmt und ihn zwingt, in bestimmten Abständen auf bestimmte Dinge zu sehen."

Wir brauchen mehr "Toni Erdmanns", meint in der FR Tabea Rößner, Sprecherin für Medienpolitik und Kreativwirtschaft der Grünen. Sie fordert, die geplante Reform der Filmförderung nachzubessern und eine partielle Abkehr vom "Gießkannenprinzip": Eine Lösung könnte sein, für einen Teil des Fördertopfes ein vereinfachtes und automatisiertes Antragsverfahren für erfolgreiche Filmemacher/innen zu installiere."

Weiteres: Sonja Zekri von der SZ trifft sich mit dem kurdischen Filmemacher Bahman Ghobadi, dem das Filmfest München eine Retrospektive widmet. ZeitOnline bringt eine Strecke mit Bildern aus einem neuen Fassbinder-Fotoband.

Besprochen wird die Amazon-Serie 'The Interestings' (SZ).
Archiv: Film

Bühne


"Licht" am Theater Basel. Foto: Sandra Then.

Als "Meilenstein für die Stockhausen-Rezeption" bezeichnet Christian Wildhagen in der NZZ Lydia Steiers Inszenierung des "Donnerstag" aus Stockhausens Heptalogie "Licht" am Basler Theater. Indem sie tiefenpsychologische Interpretationen wagt und die unmöglichen Vorgaben des Künstlers überwindet oder weiterentwickelt, "befreit sie Stockhausen von sich selbst": "Durch den revueartig freien, im Ganzen aber durchaus nicht respektlosen Umgang mit dem Werk wird unversehens ein ungleich größerer Stoff erkennbar, der sich wie eine Folie über Stockhausens eigenwillig zwischen Höchstem und Niederstem changierende Handlung legen lässt: 'Donnerstag' aus 'Licht' ist nichts anderes als eine 'Faust'-Oper, die den Menschen, zerrissen zwischen Gut und Böse, in seinem Streben nach Erkenntnis zeigt."

Nach dem Brexit dämmert es Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel: Auch den Volksbühnenprotest muss man als einen "Protest gegen Brüssel und die EU" begreifen: "Wahrscheinlich wird die Volksbühne aus Berlin austreten und unabhängig werden. London wird ja vermutlich auch England verlassen und sich der EU anschließen. Frei von Brüsseler und Berliner Gesetzen, wählt sich die Volksbühne ihre eigene Staatsform. Vermutlich gelenkte Demokratie oder Monarchie. Frank I. wird aus dem Exil zurückgeholt."

Weiteres: In Berlin sind die Autorentheatertage zu Ende gegangen, deren elf Gastspiele und drei Uraufführungen in diesem Jahr "auffällig ins Große und Grundsätzliche" abhoben, wie Doris Meierheinrich von der Berliner Zeitung bemerkt. Simone Kaempf von der taz macht eine recht ähnliche Beobachtung in den Stücken." Lilo Weber unterhält sich in der NZZ mit dem armenischen Choreografen Arsen Mehrabyan über seine Rückkehr nach Zürich. Manuel Brug fragt in der Welt, wer warum die Mauer in Bayreuth hat errichten lassen, mit der das Festspielhaus auch ein Hochsicherheitsregime installiert hat.

Besprochen werden eine "Quartetto"-Aufführung im Berliner Renaissance-Theater (Tagesspiegel), Maurice Summens und Patrick Wengenroths am Hebbel am Ufer in Berlin gezeigte Stück "Der Spielmacher" (taz), eine Züricher "I Puritani"-Inszenierung (online nachgereicht von der FAZ), Toshiki Okadas "Hot Pepper" an den Münchner Kammerspielen (SZ) und Dieter Wedels Inszenierung von Arthur Millers "Hexenjagd" bei den Festspielen Bad Hersfeld (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Auf Twitter lassen die britischen Popstars ihrem Zorn nach dem Brexit-Referendum freien Lauf, bemerkt Jan Kedves in der SZ. Doch ansonsten verhält sich die britische Popmusik auffällig zurückhaltend, schreibt er weiter, obwohl sie mal die wütendste überhaupt gewesen ist. Allenfalls die vergangene Woche von Portishead veröffentlichte Coverversion von Abbas "SOS" passe zumindest ein klein wenig zum gesellschaftspolitischen Klima, doch das Stück "mag ein kleiner Anti-Brexit-Hit sein, mit 600 000 Klicks ist es jedenfalls kein großer. Vor allem ist es kein Hit, der auch nur ein bisschen Wut transportierte. Wo ist der geniale, schroffe Furor hin, mit dem die Sex Pistols gegen England und seine Nationalduseligkeit lärmten? ... Auf Twitter schimpfen und spotten, in der Musik eher diffus bleiben, weiterfeiern. So sieht der aktuelle britische Wutpop aus. Mit dem alten britischen Wutpop hat er nicht mehr viel gemein."



Weiteres: Julian Weber schreibt in der taz zum Tod von Bernie Worrell.

Besprochen werden ein Duo zwischen John Cage und Sun Ra (Pitchfork), die Wiederveröffentlichung von Neil Youngs "Tonight's the Night" (Pitchfork), die Autobiografie der Slits-Musikerin Viv Albertine (Jungle World) und diverse neue CDs, darunter das neue Album der Swans (FAZ).

Und die passende Musik für diese Temperaturen: Das vierte Sextape von DJ Drixxxe mit alten Pornosoundtracks, die sich auch bestens hören lassen, wenn man bloß schwitzend am Pool liegt. (via)

Archiv: Musik

Literatur

Der Schriftsteller Kurt Drawert erkennt Istanbul nach dem Anschlag vom Januar nicht wieder, wie er in der FAZ schreibt: "Es liegt eine bleierne Schwere über der Stadt, wie ein Tau, wenn es Herbst wird. Auch die Gesichter der Menschen, in denen so viel geschrieben steht, schienen mir oft wie erstarrt. Das fällt umso stärker auf, wenn man einmal die Herzlichkeit der Türken erfahren hat, die in den Augen sich spiegelt, mit denen sie sagen, was kein Wort mehr vermittelt."

Immerhin, tröstet sich Paul Ingendaay in der FAZ über den Brexit hinweg, standen die britischen Intellektuellen und Literaten geschlossen auf Europas Seite. Doch der Blick in die britische Literaturgeschichte zeigt ihm dann doch ein anderes Bild: Man "stößt vor allem auf Querköpfe, Abweichler, Zauderer und Hofnarren. Vielleicht sollten wir akzeptieren, dass diese insulare Exzentrik mehr ist als eine pittoreske Beigabe. ... Wir verstehen manches an diesen Figuren, aber nicht alles. Ihre Sturheit ist unübersehbar, ihr Leid nicht weniger, und der Isolationismus steckt ihnen in den Genen. Doch tief drinnen - daher das kollektive europäische Liebeswerben um das Vereinigte Königreich in den vergangenen Wochen - vertrauen wir wohl darauf, dass sie nicht durchdrehen, sondern britisch und halbwegs maßvoll bleiben."

Weiteres: In der FAZ fasst Sabine Lange 25 Jahre Hans-Fallada-Gesellschaft und die Stasi-Verstrickungen vieler Mitglieder (mehr dazu in einem Freitag-Artikel von 2004) zusammen. Der Welt ist die aktuelle Lage zu aufregend, Matthias Heine eröffnet eine Serie zum Eskapismus mit Goscinnys "Kleinem Nick". Auf Tell schließt Raffael Keller seine Reihe über den chinesischen Dichter Li Shangyin ab. Für The Quietus spricht Ben Graham mit dem Autor John Higgs über den Science-Fiction-Autor Robert Anton Wilson. In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Jan Wilm über Thomas Bernhards Dreizeiler "Erinnerung an die tote Mutter". Lothar Müller (SZ) und Tilman Spreckelsen (FAZ) gratulieren der Schriftstellerin Zsuzsanna Gahse zum Siebzigsten.

Besprochen wird u.a. Norman Lewis' "Neapel '44 - Ein Nachrichtenoffizier im italienischen Labyrinth" (SZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Im Welt-Interview mit Gil Yaron erklärt der Bildhauer Dani Karavan, warum er aus Protest gegen Israels "diktatorische Regierung" sein berühmtestes Kunstwerk, die Fassade des Plenarsaals der Knesset, sozusagen zurückfordert: "Ich schuf sie in einer Zeit, in der unsere Unabhängigkeitserklärung, ein leuchtendes Beispiel für die Menschenrechte, von der Regierung, der Knesset und dem Volk als bindendes Dokument betrachtet wurde. Das ist heute anders. Die Besatzung zerstört alles, was an uns gut ist, und leert unsere Staatsschatulle. Statt Schoa-Überlebende zu unterstützen, von denen jeder Dritte in Armut lebt, stopft man die Siedlungen mit Geld zu."

Nicola Kuhn vom Tagesspiegel besucht das ehemalige Staatsratsgebäude, wo diverse Künstler der 9. Berlin-Biennale ausstellen.

Besprochen werden die Comic-Avantgarde-Ausstellung der Frankfurter Schirn (taz, online nachgereicht von der FAZ), eine Schau von Auguste Rodins "greisenavantgardistischen" Skulpturen und Zeichnung der Madame Hanako im Georg Kolbe Museum Berlin (Welt), eine Ausstellung über Alexander Lenoir im Louvre (Tagesspiegel), die Thomas-Struth-Ausstellung im Gropiusbau in Berlin (Tagesspiegel), Mona Hatoums Ausstellung in der Tate Modern in London (The Quietus) und Michel Houellebecqs Fotoausstellung "Rester vivant" im Palais de Tokyo in Paris ("der irritierende Besuch in Michel Houellebecqs Reich ist höchst empfehlenswert", schreibt Jürg Altwegg in der FAZ, mehr zu der Ausstellung hier).
Archiv: Kunst

Design

Alfons Kaiser schreibt in der FAZ zum Tod des Modefotografen Bill Cunningham (hier ein großes Feature über Cunningham im New Yorker aus dem Jahr 2009). In seinem Typografieblog befasst sich Dave Addey mit den Schriftsätzen in Ridley Scotts Science-Fiction-Klassiker "Blade Runner".

Außerdem ein traumhaft schöner Stöberlink: Ein großes Flickr-Set mit Designs alter japanischer Streichholzschachteln. (via)



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Stichwörter: Scott, Ridley, Blade Runner

Architektur


Schiach und gefährlich: Die Ausstellung "Beton" in der Kunsthalle Wien.

Beton steht bei der Avantgarde wieder hoch im Kurs. Für die Presse besichtigt Almuth Spiegler die Ausstellung "Beton" in der Kunsthalle Wien. Sie wird keine Freundin dieser Architektur mehr, erlebt jedoch sehr eindrücklich "das ambivalente Verhältnis, das zu den spätmodernen Sichtbetonklötzen linksideologischen Anspruchs (Kulturzentren, Gemeindebauten, öffentliche Schwimmbäder etc.) gepflegt wird - schiach und gefährlich meint die Mehrheit zu diesen Orten heute. Utopistisch, radikal, progressiv meinen Künstler und Intellektuelle. Viele der in den 1960er-Jahren in Europa, England, Südamerika entstandenen brutalistischen Bauten, so der Stilbegriff, wurden seit den 1980er-Jahren auch abgerissen. Die verbliebenen sind heute sozial und ideologisch eher herausgefordert im Vergleich zum Ursprungsgedanken. Teilweise sind sie sogar Denkmäler dafür, wohin die sozialistische Aufbruchsstimmung von einst nach Jahrzehnten unbeschränkter Machtausübung führte."
Archiv: Architektur