Bücherbrief

Nette Pynchon'sche Dödel

04.10.2010. Eine Entdeckung ist Sofi Oksanens Roman "Fegefeuer", der die Geschichte Estlands vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch des Kommunismus in den Erinnerungskampf zweier Frauen verwandelt. Im Roman "Angerichtet" des niederländischen Autors Herman Koch verhandeln zwei gut situierte Paare in einem vornehmen Restaurant die Schandtat ihrer Söhne. Außerdem: Tom Segevs Biografie über Simon Wiesenthal und Thomas Schulers kritischer Bericht über die "Bertelsmannrepublik Deutschland". Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Oktober.
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Weitere Anregungen finden Sie in den älteren Bücherbriefen, der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Frühjahr 2010, den Leseproben in Vorgeblättert und in den Büchern der Saison vom Frühjahr 2010.


Literatur

Sofi Oksanen
Fegefeuer
Roman
Kiepenheuer und Witsch Verlag 2010, 19,95 Euro



Andreas Breitenstein war in der NZZ hin und weg von diesem Roman: Pasternaks "Doktor Schiwago" fiel ihm als Vergleich dazu ein. Die estnisch-finnische Autorin, in ihrer Heimat eine bekannte Dramatikerin, rollt in "Fegefeuer" das ganze Drama der estnischen Geschichte des 20. Jahrhunderts auf. Der Einmarsch der Russen 1940, der Russlandfeldzug der Deutschen, den viele Balten unterstützten, weil es eben gegen die Russen ging, die Deportationen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die Zeit nach dem Zusammenbruch des Kommunismus - all das wird erzählt aus der Perspektive zweier Frauen, die die Geschichte erdulden und zugleich aktiv darin verstrickt sind. "'Fegefeuer' ist eine ingeniös durchkalkulierte Angstmaschine, die einen überfälligen, qualvollen Prozess von Wahrheitsfindung und Seelenreinigung in Gang setzt", so Breitenstein. Europa, erklärt Oksanen in der Welt, "ist nicht vereint, solange der Westen das Schicksal des Ostens nicht begreift." Iris Radisch meint in der Zeit: eine "absolute Entdeckung". Die zwei Frauen liefern sich "einen Erinnerungszweikampf und in diesem Erinnerungszweikampf werden ungeheure historische Räume eröffnet." Links zu Kritiken im Guardian, Independent und Svenska Dagbladet findet man in der complete review.

Thomas Pynchon
Natürliche Mängel
Roman
Rowohlt Verlag 2010, 24,95 Euro



Einhellige Begeisterung bei den Kritikern: Thomas Pynchons neuer Roman "Natürliche Mängel" gehört nicht zu den großen komplexen Werken, sondern in die heitere Gattung. Die Geschichte um den etwas auf den Hund gekommenen Privatdetektiv Larry Sportello führt im Jahr 1970 in die dunkleren Ecken des ansonsten sonnigen Los Angeles. "Meisterwerk!", ruft Thomas Schmid in der Zeit und freute sich besonders über die Begegnung mit all den "netten Pynchon'schen Dödeln". Als hintergründig sentimentalisch genießt Wolfgang Schneider in der FAZ diesen munteren Mix aus Hippiekult, Detektivroman und Comic. Auch FR und taz zeigen sich überschwänglich, und in der NZZ erklärt Pynchon-Übersetzer Nikolaus Stingl die Tücken seiner Arbeit: "Bei Pynchon werden immer irgendwelche Türchen aufgestoßen, und man ist urplötzlich mittendrin in einer obskuren Gesellschaft aus Neonazis, schmierigen Filmmoguln und Filmmonstern."

Herman Koch
Angerichtet
Roman
Kiepenheuer und Witsch Verlag 2010, 19,95 Euro
 


In den Niederlanden ist Herman Koch als Kolumnist, Fernsehmacher und Romanautor bekannt. Sein Familienthriller "Angerichtet" war auch den deutschen Kritikern auf Anhieb sympathisch: neurotisch, unbestechlich, boshaft auch, aber mit einer unerschütterlichen Aversion gegenüber der servilen Arroganz von Kellnern in Edelrestaurants. Auch wenn ein besonders grässliches Exemplar dieser Spezies am Ende des Romans ordentlich abserviert wird, läuft hier eigentlich alles auf ein sehr böses Ende zu: Zwei Brüder treffen sich jeweils mit ihren Frauen, um in einem vornehmen Restaurant eine üble, von ihren Söhnen begangene Tat zu besprechen. Besonders heikel: Einer der beiden Brüder möchte gern Ministerpräsident werden. Worin das grausige Geheimnis besteht, enthüllt sich erst nach und nach im Laufe eines viergängigen Menüs. In der FAZ erkennt Oliver Jungen auf "erzählerischen Spitzenrealismus", also einen mit Klasse und Stacheln. In der SZ begeisterte sich Tobias Heyl für diese "meisterhafte" Beschreibung moralischer Monster.

Ann Cotten
Florida-Räume
Gedichte
Suhrkamp Verlag 2010, 19,80 Euro



Was sind eigentlich Florida-Räume? Die deutsch-österreichisch-amerikanische Autorin Ann Cotten, erklärt in der Märkischen Allgemeinen, dass wir alle dort leben, in "zusammengeschusterten An- und Zubauten, die vor allem aus Zitaten bestehen. Vor diesem Hintergrund schaut unsere Sehnsucht nach einem wirklichen, an sich und für sich gebauten Haus, nach etwas Warmem, Verbindlichem, lächerlich aus. Die konstruierten Idyllen, in denen wir leben, erscheinen mir zu billig, zu unüberlegt, zu sehr Baumarkt." Bravo!, ruft Jochen Jung in der Zeit, diese Jeanne D'Arc wirft der zeitgenössischen deutschen Dichtung und ihrer formvergessener Inhaltsverliebtheit den Fehdehandschuh hin. In Cottens "Florida-Räumen" sammelt eine fiktive Redaktion literarische Werke von ebenso ausgedachten Wesen - unter ihnen ein hündischer Architekturkritiker namens Cocker -, die den Menschen etwas Substanzielles über die Welt mitzuteilen haben. Sperrig, rutschig zugleich und deshalb so spannend, findet Jung Cottens Arbeit, die Prosa indes sei ein wenig zu "blickdicht". Cottens Gedichte aber, so der Rezensent, die seien wahrhaftig brillant. Martin Fritz von the gap kann sich da nur anschließen und meint noch, dass "Florida-Räume eben von 'unfachmännischer Bauweise' [sind], ein Beharren auf der Verkorkstheit von Außenseitern". Franz Birkenhauer vom sf magazin dagegen winkt ab: reiner "literarischer Elfenbeinturm". Hörproben von Ann Cotten findet man bei lyrikline.

Nii Parkes
Die Spur des Bienenfressers
Roman
Unionsverlag 2010, 16,90 Euro



"Die Spur des Bienenfressers" ist der erste Krimi von des britisch-ghanaischen Autors Nii Parkes, der bisher vor allem mit Gedichten in Erscheinung getreten war. Laut Sylvia Staude (FR) hat der Genrewechsel gut geklappt. Sie entdeckt viel "Wissen und Wärme" in dieser Geschichte aus Ghanas Hinterland, in der ein städtischer Gerichtsmediziner es mit dörflicher Tradition aufnehmen muss. In der Zeit verspricht Tobias Gohlis "sehr, sehr komische" Passagen, warnt allerdings, dass Parkes' afrikanische Hermeneutik nicht immer mit westlichem Gerechtigkeitsempfinden zu vereinbaren sei. In der Presse erkannte Jutta Sommerbauer in Parkes einen "begnadeten Geschichtenerzähler".


Sachbuch

Tom Segev
Simon Wiesenthal
Die Biografie
Siedler Verlag 2010, 29,95 Euro
 


Man muss sich auf einige unerklärliche Wendungen und Widersprüchlichkeiten gefasst machen in der dramatischen Lebensgeschichte des Simon Wiesenthal, die der israelische Historiker Tom Segev nach Sichtung der 300.000 pedantisch geordneten Dokumente aus Wiesenthals Nachlass erzählt: die Haft im Konzentrationslager Mauthausen, die Jagd auf Eichmann, Bormann, Mengele und ungefähr achthundert weitere Altnazis, der tiefe Humanismus, die Egomanie, das Desinteresse für die Lage der Palästinenser, die Freundschaft mit Albert Speer, die Feindschaft zu Bruno Kreisky - wie passt das alles zusammen? In der FR lobt Renate Wiggershaus Segevs Darstellung, die all diesen Widersprüchlichkeiten Rechnung trägt, als "bravourös und sensibel". Im Tagesspiegel bescheinigt Igal Avidan dem Biografen Empathie und kritisches Urteilsvermögen gleichermaßen und vor allem die erfolgreiche Trennung von Fakten und Legenden. In der taz führt Ulrich Gutmair ein interessantes Interview mit Segev, der darin den Österreichern ordentlich eins mitgibt: "Sie haben es überhaupt nicht verdient, dass es so einen Wiesenthal gab in Österreich."

Stanley Cavell
Cities of Words
Ein Register des moralischen Lebens in Philosophie
Chronos Verlag 2010, 50 Euro



Wie kann man gelehrt und doch unterhaltsam über Moralphilosophie schreiben? Indem man moralische Fragen am Beispiel amerikanischer "Wiederverheiratungskomödien" aus den 30er und 40er Jahren - "His Girl Friday", "The Philadelphia Story" u.a. - diskutiert. Genau das hat Stanley Cavell, Philosophieprofesser an der Universität von Chicago, getan. Dies allerdings gleich vorweg: Cavells Buch ist kein Schmöcker, sondern ein handfestes Philosophiebuch, das philosophische Moraltheorien von Kant bis zu den Utilitaristen behandelt, schreibt David Gern in der FAZ. Die Beispiele findet der Rezensent allerdings bestechend: "Die [Film-]Paare streiten sich über die Frage, welches Leben sie führen wollen, welche Personen sie sein möchten. Und das sind genau die Themen, um die es im moralischen Perfektionismus geht." In der New York Times konnte sich A. O. Scott sehr gut vorstellen, wie Cavell selbst als Filmfigur auftaucht: In Michel Gondrys "Eternal Sunshine of the Spotless Mind". "Moralische Perfektion bedeutet nicht", schreibt Scott, "dass wir makellos gut werden, sondern dass wir, durch Selbsterkenntnis, Glück und Gnade uns richtig verhalten und denen treu sind, die wir lieben."

Thomas Schuler
Bertelsmannrepublik Deutschland
Eine Stiftung macht Politik
Campus Verlag 2010, 24,90 Euro



Das Buch zum Geburtstag des Bertelsmann-Konzerns: Was Thomas Schuler hier über die zweifelhaften Praktiken der Bertelsmann-Stiftung zusammenträgt, hat die Rezensenten überzeugt. Sie sehen vom Autor sehr nachvollziehbar dargelegt, dass Reinhard Mohn bei der Gründung der Stiftung 1977 nicht nur das Allgemeinwohl im Sinn hatte ist, sondern ein Steuersparmodell, das dabei auch noch den Vorteil biete, dem Unternehmen immensen Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu sichern. Zu Recht sieht Indira Gurbaxani in der SZ von Thomas Schuler einige kritische Fragen in dieser Richtung aufgeworfen. In der FAZ lernte Jürgen Kaube aus dem Buch, dass in Gütersloh offenbar die Devise gelte: Was Bertelsmann nützt, nützt auch Deutschland. So propagiere die Bertelsmann-Stiftung das Outsourcing der öffentlichen Verwaltung, während sich das Bertelsmann-Subunternehmen Arvato dafür die Aufträge sichere. Hier ein Artikel von Thomas Schuler in der FR über die Bertelsmann-Stiftung, hier ein Interview mit Antje Vollmer in der taz, in der sie sehr harsche Kritik an der offenbar "Unberührbaren" übt.

Alice Schwarzer
Die große Verschleierung
Für Integration, gegen Islamismus
Kiepenheuer und Witsch Verlag 2010, 9,95 Euro



Wie ein Stich ins Wespennest: Alice Schwarzers Band "Die große Verschleierung" versammelt verschiedene, zum großen Teil bereits vor einigen Jahren veröffentlichte Beiträge zur Debatte um Kopftuch, Islam und die Rechte von Frauen. Vertreten sind neben Schwarzer selbst auch Elisabeth Badinter, Djemila Benhabib, Rita Breuer, Necla Kelek, und Annette Ramelsberger. Den Herren der Feuilletons sträubten sich die Nackenhaare: In der FAZ warf Patrick Bahners Schwarzer "jakobinischen Feminismis", Islamfeindlichkeit und Sympathien für Sarkozy vor, in der SZ erkannte Thomas Steinfeld auf Männer- und Fremdenfeindlichkeit. Iris Radisch ging in ihrer Besprechung für die Zeit dagegen auch auf den repressiven Charakter des Kopftuchs für Mädchen und Frauen ein, auf das mit dem Schleier verbundene Frauenbild und auf seine historisch durchaus wechselhafte Präsenz. Sie empfiehlt das Buch als wichtigen Beitrag zur etwas aus der Bahn gelaufenen Integrationsdebatte. In der Presse stellt sich Anne-Catherine Simon hinter das Buch: "Diese Autorinnen kämpfen nicht aus Kalkül, Ressentiments oder Ignoranz, sondern aus - bei vielen persönlich leidvoller - Erfahrung."


Bildband

Reto Guntli, Rainer Moritz
Die schönsten Buchhandlungen Europas
Gerstenberg Verlag 2010, 39,95 Euro



Die schönsten Buchhandlungen in Europa haben Rainer Moritz und der Fotograf Reto Guntli aufgesucht. Dazu gehören die Buchhandlung Felix Jud in Hamburg, die Librairie Galignani in Paris, Tropismes in Brüssel, Selexyz Dominicanen in Maastricht oder Heywood Hill in London. Was zeichnet diese Buchhandlungen aus? Dass man dort findet, was man gar nicht gesucht hat, meint Felicitas Lovenberg in der FAZ. Dass man dort ganze Nachmittage lesend verbringen kann. Dass man dort findet, was Amazon eben nicht bietet: "Atmosphäre und Persönlichkeit". Mit der Auswahl ist Lovenberg durchaus einverstanden, eins aber hätte sie sich gewünscht: einen Platz, um die Liste mit eigenen Empfehlungen zu vervollständigen. Das ist eigentlich eine wunderbare Idee für ein digitales Libroid, das der Leser selbst ergänzen und mit anderen teilen könnte (mehr dazu hier). Einige Fotos aus dem Band hat die Zeit online gestellt.