Sofi Oksanen

Fegefeuer

Roman
Cover: Fegefeuer
Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2010
ISBN 9783462042344
Gebunden, 400 Seiten, 19,95 EUR

Klappentext

Aus dem Finnischen von Angela Plöge. Als Aliide Tru, eine alte Frau, die allein in einem Bauernhaus auf dem estnischen Land lebt, ein Bündel in ihrem Garten findet, das sich als junge Frau entpuppt, schluckt sie ihre Skepsis und Menschenverachtung herunter und nimmt Zara in ihr Haus auf. Zara ist auf der Flucht vor ihren Zuhältern, die sie mit brutalster Gewalt zu Willfährigkeit gezwungen haben und ihr schon dicht auf den Fersen sind. Doch Zara sucht keineswegs so zufällig Unterschlupf bei Aliide, wie diese glaubt: Aliide könnte die Schwester ihrer Großmutter sein. Während Zara noch Beweise für die Verwandtschaft sucht und nach einer Möglichkeit, Estland zu verlassen, fühlt sich Aliide von der jungen Frau bedroht: Zu oft musste sie Leib und Seele, Hab und Gut vor Eindringlingen schützen. In Rückblenden entsteht das immer schärfer werdende Bild einer Familientragödie, die fast fünfzig Jahre zuvor, als Estland von den Russen besetzt wurde, ihren Höhepunkt fand. Rivalität und Eifersucht, Scham, Schutzbedürftigkeit und vor allem Angst vor der Brutalität der Männer gegenüber den Frauen - das sind die Motive, die Aliide zu unvorstellbaren Entscheidungen zwangen. Sofi Oksanens Roman ist in mehr als 25 Ländern erschienen und vielfach ausgezeichnet worden.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 19.10.2010

Ralf Bönt zeigt sich empört von der Vermarktungsstrategie des jüngsten Romans Sofi Oksanens vom Verlag und selbst von der Autorin, lässt aber keinen Zweifel daran, dass "Fegefeuer" für ihn "ganz große Literatur" darstellt. Insbesondere der Klappentext provoziert neben dem lila Buchumschlag seinen Ärger und er schimpft, dass hier einmal mehr die Frau als Opfer verkauft und "uralter Männerhass" geschürt werden soll. Im Roman dagegen schildert Sofi Oksanen in der tragischen Geschichte der estnischen Bäuerin Aliide Truu, wie diese unter einer unglücklichen Liebe und grausamer Folter in der Sowjetunion nur als "dissoziative Persönlichkeit" weiterexistieren kann, die sie schließlich auch zum Morden bringt. Sexuelle Gewalt zieht sich nicht nur durch ihr Schicksal, sondern auch durch das Leben ihrer zur Prostitution gezwungenen Nichte, die eines Tages im Jahr 1992 bei ihr auftaucht, erklärt der Rezensent. Etwas "ratlos", aber sehr beeindruckt steht Bönt vor dieser Weiterentwicklung des Romans, der nach der Entstehung von Hass und Gewalt fragt, auch wenn er keine Antwort darauf weiß. Als "kühn, grandios geschrieben" und auch in der Übersetzung überaus überzeugend preist er begeistert dieses Buch, das er getrost neben einen Imre-Kertesz-Roman "ins Regal stellen" würde, wie er betont.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 06.10.2010

Rezensentin Katharina Granzin ist tief beeindruckt von diesem Gegenwart und Vergangenheit verbindenden Roman der estnisch-finnischen Autorin Sofi Oksanen, der in Finnland und Estland bereist ein Bestseller ist. Sie ist voller Anerkennung dafür, dass die Autorin die Fallstricke, die in ihrer Thematik lauern - "wohlfeiles Pathos" und "erzählerische Verschwendungssucht" - ganz und gar vermeidet. Deswegen steht am Ende der Geschichte über zwei Frauen auch kein "kathartischer Schlussakkord", sondern eine "irritierende Dissonanz", was zur Erleichtung der Rezensentin für unbedingte Kitschfreiheit sorgt. Auch wenn die zeitgeschichtlichen Bezüge der Geschichte für reichlich Anfeindungen gesorgt haben - von den russischen Behörden wurde Oksanen zeitweise mit einem Einreiseverbot belegt - sieht die Rezensentin in ihrer literarischen Umsetzung  etwas "Überzeitliches". In Granzins Augen schlummert in diesem Roman ein geradezu "archaischer Zorn".

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 05.10.2010

Thomas Steinfeld mochte diesen Roman nicht, der aus einem Theaterstück hervorgegangen ist und in Finnland bei seinem Erscheinen 2008 sehr enthusiastisch aufgenommenen wurde. Die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen erzählt darin von Zara, die aus den Fängen russischer Zuhälter in ein estnisches Dorf zu ihrer Großtante Aliide flieht, und der Rezensent erkennt hier schnell eine Allegorie über politische Zuhälterei. Die Schilderungen erscheinen Steinfeld "grell und nah"- wenn er von der Autorin beispielsweise den Geruch der Achselhaare von Aliides verstorbenem Mann buchstäblich unter die Nase gerieben bekommt - und er meint sie als Strategie der "Überwältigung des Lesers" durchschauen zu können. Daneben sei das Buch aber auch eine Art "Geschichtsbuch" über das wechselvolle Schicksal des "geschundenen" Estlands, wie er betont. Oksanen feiere hier zum einen die "estnische Nation" und zum anderen "die Frau", stellt der Rezensent fest und spätestens hier wird ihm endgültig klar, dass es sich bei "Fegefeuer" um einen "Heimatroman in seiner reaktionären Variante" handelt.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.10.2010

Was Literatur zu leisten vermag, kann Rezensentin Pia Reinacher hier sehen. Betreffend den Roman der finnisch-estnischen Autorin Sofi Oksanen bedeutet das, das Leiden der estnischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg, historische Fakten also, in der Geschichte zweier Frauen und ihrer Familien zu spiegeln. Wenn dabei selbst die beiden zentralen Frauenfiguren in ihren Nachkriegsexistenzen nicht schuldlos bleiben und Gewalt allgegenwärtig bleibt, sucht Reinacher Trost in der Kraft der Versöhnung, die die Autorin ihren Figuren gleichfalls mitgibt. Überhaupt vertraut die Rezensentin auf Oksanens gute Regie, liest jede Menge Symbole und Verweise und auch mal schlicht Kitsch im Vertrauen auf eine weitgehend pathosfreie Darstellung einer traumatischen Geschichte.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 30.09.2010

Kühn konstruiert, atemberaubend spannend und abgründig findet Rezensentin Susanne Mayer diesen finnischen Roman über eine sehr alte und eine sehr junge Frau, deren Geschichten in einem großen Handlungsbogen aufeinander zulaufen: von 1936 bis zum Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa. Beide haben grauenvolles erlebt: Besatzung, Kollaboration, Folter, Lager, Menschenhandel. Wie Sofi Oksanen diese Schrecken beschreibt, ist für Mayer vielleicht das bemerkenswerteste an diesem Roman. Oksanen benutzt unterschiedliche Textsorten, Tagebuchexzerpten, KGB-Akten und die Berichte der Journalistin Slavenka Drakulic, die sie in ihre Geschichte einwebt. "Unvergesslich" sind Mayer gerade jene Kapital, die "innere Vorgänge" als "körperliche Reaktion" beschreiben. Ein Lob geht auch an Angela Plöger, der Übersetzung "vollendet" sei.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 04.09.2010

Rezensent Andreas Breitenstein ist von diesem Roman schlicht hingerissen. Das weit gefasste Thema, die literarische Umsetzung - im fällt dazu nur ein Vergleich ein: Pasternaks "Doktor Schiwago". Sofi Oksanen verarbeitet in ihrem Familienroman die ganze tragische Geschichte Estlands im 20. Jahrhundert. Der Einmarsch der Russen 1940 und die beginnende Gleichschaltung, der Russlandfeldzug der Deutschen, den viele Balten unterstützten, weil es eben gegen die Russen ging. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden viele Esten deportiert. Darunter befanden sich auch solche, die sich an der Vernichtung der Juden beteiligt hatten. Dies alles und mehr packt Oksanen in ihren Roman, der in den Zeitabschnitten 1939 bis 1951 und 1991 bis 1992 spielt, erzählt Breitenstein. Die Hauptfiguren sind zwei Frauen, die auf ganz unterschiedliche Art traumatisiert sind. Doch sind es nicht einfach Opfer, sondern schuldbeladene Opfer. Breitenstein ist hoch beeindruckt, mit welcher Dichte Oksanen Szenen und Figuren beschreibt. Kein Wunder, war der Roman doch eigentlich zuerst ein Theaterstück. Von dieser Autorin erwartet Breitenstein jedenfalls noch "galaktische Ereignisse".
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