Außer Atem: Das Berlinale Blog

Die Heilkräfte des filmischen Mediums - Pressespiegel

Von Thomas Groh
22.02.2018. Die Zwei von der Tankstelle: Philip Gröning wagt sich in "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot" mit Heidegger munitioniert ins Kornfeld. Und der iranische Regisseur Mani Haghighi wirft in "Pig" seine Berufskollegen einem Serienmörder zum Fraß vor - der Festival-Mittwoch im Rückblick.
Ein Geschwisterpaar kurz vor dem Erwachsenenleben, eine Tankstelle, ein Kornfeld, die Alpen in Sichtweite, jede Menge philosophische Literatur, darunter Heidegger und Safranski, in Griffnähe und dann die Frage nach dem ersten Sex: Philip Grönings "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot" wagt sich im Wettbewerb mit fast drei Stunden Spieldauer an die große Metaphysik und jugendlich-schwärmerische Philosophie-Lektüren. "Nach anderthalben Stunden hat sich das totgelaufen", seufzt Anja Seeliger im Perlentaucher, doch "langweilig" ist der Film schlussendlich doch nicht: Denn plätzlich "dreht sich der Film. Das leicht Flirrende in der Beziehung des Geschwisterpaars, die Eifersucht Elenas auf die Freundin und die Konkurrenz, wer als erstes seine Jungfräulichkeit verliert - Elena wettet, sie wird es sein, noch dieses Wochenende -, schwappt vom leicht Seltsamen ins Unbehagliche."


"Der Firniss der Kultur ist dünn", mit diesem Fazit verlässt Cornelia Geißler von der Berliner Zeitung den Kinosaal, nachdem sich das Adoleszenz-Drama zu einem durchrüttelnden Finale zugespitzt hat: "Die feinen Gespräche verfliegen, aber die groben Bilder vom Schluss bleiben im Kopf." Filmemacher Gröning "geht hier aufs Ganze", schreibt Barbara Wurm in der taz, doch "das ist um einiges zu viel." Jedoch "ist es nicht die Langsamkeit, die zur Qual wird, sondern die Langeweile, die sich zwischen der großen These einstellt, falls sie denn überhaupt eine ist: Die Idee von der Anarchie des Menschen und seinem Gewalttrieb, im Zusammenhang mit Sein und Zeit und Deutschsein und Jungsein. ... Definitiv ein Bären-Anwärter, für einen der nervigsten Filme seit Langem." Wobei es darin immerhin "die bislang radikalsten Bilder bei den deutschen Wettbewerbsfilmen" zu sehen gibt. Behauptet zumindest Christiane Peitz im Tagesspiegel. Nämlich: "Szenen von einer Hyperrealität, die zu Heidegger passt und zur Pubertät, dem Ende der Kindheit." Im Tagesspiegel spricht Andreas Busche mit dem Regisseur. Für die FAZ hat sich Bert Rebhandl mit Hauptdarstellerin Julia Zange getroffen.


Ein Serienmörder geht um im Iran: Spezialisiert hat er sich auf Regisseure, was irgendwann den Neid des Filmemachers Hassan Kasmai auf sich zieht, da er von den Taten verschont bleibt, während seiner Ansicht nach weit weniger talentierte Regisseure als er reihum in Gras beißen. Mani Haghighis im Wettbewerb gezeigte Satire "Pig" ist "eine Farce voller Anspielungen auf die iranische Filmindustrie", schreibt Fabian Tietke in der taz entzückt und ist sich nach diesem Film sicher, "dass der Iran noch eine Weile lang zu den aufregendsten Kinematografien der Gegenwart gehören wird." Eine gelungene Komödie sah Anja Seeliger: "Sehr clever und sehr zeitgenössisch", schreibt sie im Perlentaucher.

Für den Tagesspiegel hat sich Christiane Peitz mit dem Regisseur unterhalten. Unter anderem konfrontiert sie ihn mit seiner Aussage, dass es im Iran eine Neigung gebe, als Verlierer aus einer Schlacht gehen zu wollen. Dies sei "tief in unserer Kultur verwurzelt. Wer immer bei uns über seine Probleme redet, stellt sich gerne als Opfer dar. Schau, wie schlecht ich behandelt werde: Mit dieser Strategie wirbt man um Sympathie. Ich hasse es, wenn Leute dieses Register ziehen. Sie machen sich schwach, um die Starken kritisieren zu können. Ich ziehe es vor, im Kampf mit Unterdrückung, mit der Zensur und den Behörden gewinnen zu wollen. Ich bin lieber Sieger als Opfer. "

FR-Kritiker Daniel Kothenschulte fand Cédric Kahns "La prière" sehr überzeugend: Dessen "klassischer Modernismus tut das, was Robert Bresson gemacht hätte, wenn auch nicht ganz mit dessen Strenge: Er setzt eine Gleichung zwischen dem Heilungsprozess und den Heilkräften des filmischen Mediums, der immanenten Schönheit puristischer Kameraarbeit. Dabei spielt die spirituelle Ebene in dieser Entwicklung nur eine Rolle unter vielen, was der Kirche wohl zu wenig wäre."

Besprochen wird außerdem Steven Soderberghs außer Konkurrenz gezeigter, auf einem iPhone gedrehter Psychothriller "Unsane" (Perlentaucher, Berliner Zeitung, Kinozeit).

Weitere Artikel: Claudia Lenssen spricht für die taz mit Julian Pörksen über dessen in der Perspektive Deutsches Kino gezeigten Film "Whatever happens next". Für die taz war Lea Wagner bei eine Veranstaltung der Initiative Pro Quote Film.

Besprochen werden Lutz Pehnerts, Matthias Ehlerts und Adama Ulrichs Dokumentarfilm "Partisan" über die Castorf-Jahre an der Volksbühne (Tagesspiegel), Kim Ki-Duks "Human, Space, Time and Human" (taz, Kinozeit), Hu Bos "An Elephant Sitting Still" (Tagesspiegel), Corneliu Porumboius "Fotbal Infinit" (Tagesspiegel), Kristina Konrads "Unas Preguntas" (taz), Ludwig Wüsts "Aufbruch" (taz) und Aminatou Echards "Djamila" (Tagesspiegel, Perlentaucher).

Weiteres in aller Kürze vom Festival im Kritikerspiegel von critic.de und in den Festival-SMS von Cargo, sowie natürlich mehrfach täglich aktualisiert in unserem Berlinale-Blog.