Außer Atem: Das Berlinale Blog

Gediegene Kryptik ist halbe Filmkunst - 'El mar nos mira de lejos' im Forum

Von Thomas Groh
11.02.2017. Männer am Strand: "El mar nos mira de lejos" raunt viel beim Beobachten des rieselnden Sandes. Tartesso, wie bist Du doch ferne.


Das Forum der Berlinale verhilft den spröderen Formen der Filmkunst zu ihrem Recht. Das Unbeschlagene, das Vorsichtige, das Sperrige hat hier Raum und Platz. Oft sind die Tonspuren der Filme sehr offen für die Umwelt (Forumsfilme klingen "anders" als die Filme in den übrigen Sektionen) oder die Filme wurden mit sichtlich weniger Etat jenseits der Konventionen gedreht. Wer sich für ein Kino jenseits der zurecht gestanzten Formate, für ein Kino des wachen Blicks auf die Welt interessiert, wer das Kino tatsächlich (wie die Berlinale ursprünglich mal annonciert wurde) als "Fenster zur Welt" begreift, das neue Eindrücke bietet (im Gegensatz zu einem Kino, das einem immer nur bestätigt, womit man eh schon immer bloß gerechnet hat), der ist mit dem Forum jedes Jahr aufs Neue grundsätzlich zunächst einmal sehr gut beraten. Wer am Ende der Schmetterlingshatz, die so eine Berlinale auch darstellt, nicht mindestens zwei oder drei Forumsfilme unter den besten Filmen vorzuweisen hat, der hat wahrscheinlich ein eher mageres Festival erlebt. Das ist das eine, das Positive.

Das Negative allerdings besteht darin, dass sich mit den Jahren auch hier merklich eigene Konventionen herausgebildet haben, die ihrerseits auf Erfüllung und Wiedererkennung setzen. Eine Art Verkrustung gegenseitiger Erwartungen und Erwartungserwartungen - gediegene Kryptik ist halbe Filmkunst, so etwa das Motto. "Ein typischer Forumsfilm" ist im "word of mouth"-Soziolekt, der sich im hektischen Gewimmel rund um den Potsdamer Platz zwischen Spätzlestand, Berlinalepalast und Cinemax-Pressevorführung herausbildet, nicht immer als positives Etikett gemeint. Manuel Muñoz Rivas' "El mar nos mira de lejos", Sie ahnen es bereits, fällt schmerzlich in diese zweite Kategorie.



In einer amphibisch zwischen Fiktion und Dokumentarismus changierenden Form erkundet Rivas einen Strand an der spanischen Küste, wo in der Antike einst die sagenhaft prunkvolle Stadt Tartessos gelegen haben soll.  Heute ist das Leben in dieser Ecke von Armut geprägt: Alte Männer hausen in verfallenden Hütten und plündern das wenige, was die Natur an Ressourcen hergibt. Ab und an kommen Landvermesser vorbei oder Touristen fahren mit dem Bus am Strand entlang. Gesungen wird, dazwischen rieselt viel Sand.

Der Film raunt viel, man erfährt sehr wenig. Sehr viel erfährt man vom Kunstwillen Rivas'. Lange Einstellungen markieren Sensibilität und poetischen Weitblick, jede Einstellung erzählt immer auch ein bisschen von der Cleverness der Person hinter der Kamera, vom Bedacht, mit dem nun gerade dieser Lichtstrahl aufs Gesicht des knorrigen alten Mannes für die Kamera ausgekostet wird. Es geht um tendenz-heideggerianische Ursprünglichkeit des Lebens vom unbeschlagenen Menschen in der Witterung seiner Umgebung, vom Lauf der Zeit, der Allmächtigkeit des Sands, in dem alles verweht, alles untergeht, Tartessos, Geschichte, Männer, Gegenwart. Dazu gibt es absurd anmutende Bilder von Sandgrabungen - da hätte man gerne mehr gewusst. Darf man aber nicht, da ist das Bild vor: "El mar nos mira de lejos" will lieber Kunstfilm machen und spitzt dafür seine Bilder zu, kommt dem Kunstbedürfnis des anvisierten Publikums entgegen. Das hat in seiner Coffeetablebook-Artigkeit mitunter etwas Snobistisches, man könnte auch sagen: Ein Streberfilm. Was das Forum als Ort der Erprobung eines neuen Vokabulars des Kinos demselben im Laufe der Zeit zur Verfügung gestellt hat, nutzt "El mar nos mira de lejos" vor allem als Katalog - eine reflexionsentkernte Formcharade.

El mar nos mira de lejos, Spanien/Niederlande 2017. Regie: Manuel Muñoz Rivas. Buch: Manuel Muñoz Rivas, Mauro Herce. Kamera: Mauro Herce. 93 Minuten. (Alle Termine)