Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 8. Tag

Von Thekla Dannenberg, Ekkehard Knörer, Christoph Mayerl
15.02.2008. Gnadenloser Realismus der Laien: Lance Hammers "Ballast". Da freut man sich doch auf Elizabeth: Justin Chadwicks "The Other Boleyn Girl". Und untun druntur munkuln die Bässe: Dem einst so bedeutenden Regisseur Andrzej Wajda fehlen zum Katyn-Stoff heute die filmischen Mittel. Höllische Gemeinheit: Philippe Claudels "Il y a longtemps que je t'aime - I've Loved You So Long". Verhandelt einen Tempelberg an Komplexen: Amos Kolleks "Restless".
Gnadenloser Realismus der Laien: Lance Hammers "Ballast" (Wettbewerb)

Man sehnt sich nach ein bisschen Blues in diesem Film. Doch in Lance Hammers Mississippi gibt es keine Musik und schon gar keinen Trost. Hier herrschen winterlicher Dauerregen und klamme Kälte, Verlorenheit und Trauer. Es ist der unverhohlene Blick auf ein schwarzes Amerika, das durch keinen Blues, keinen Soul und keinen HipHop erträglicher gemacht wird. Wir sehen einen völlig zersiedelten Landstrich, dessen Felder brach liegen und in dem die Nachbarn so weit weg wohnen, dass man sie schon wieder zu schätzen weiß. Wenn man hier an seinem Kind hängt, schickt man es lieber nicht in die Schule.
 
In kühlen, fast farblosen Bildern erzählt "Ballast" die Geschichte von drei Menschen, die zusammenfinden, nicht weil sie es wollen, nicht weil sie sich mögen oder sich etwas davon versprechen. Sie schaffen es nur einfach nicht mehr allein. Da ist Lawrence, der nach dem Selbstmord seines Zwillingsbruders in hilfloser Trauer erstarrt; der zwölfjährige James, der sich gern mit den örtlichen Dealern eingelassen hätte, von denen aber übel ausgenommen wird. Mit vorgezogener Waffe holt er sich von seinem Onkel, was ihm sein Vater an familiärer Zuwendung nie gegeben hat. Seine Mutter Marlee hat schon wieder ihren Job verloren und weiß nicht mehr, wie sie für sich und ihren Sohn aufkommen soll. Sie müssen bei Lawrence unterkommen.
 
Lance Hammer hat den Film ausnahmslos mit Laienschauspielern aus dem Mississippi-Delta besetzt. Wie die es schaffen, einen mit ihrem kargen Spiel derart zu bedrücken, ist sagenhaft. Eine der eindrücklichsten Szene ist der Überfall auf Marlee und James. Die beiden sind so hin und hergerissen zwischen der Angst um sich selbst und der Sorge um den anderen, ist einfach bestürzend. Solch einen gnadenlosen Realismus hat man auch im unabhängigen amerikanischen Kino selten gesehen.
Thekla Dannenberg
Lance Hammer: "Ballast". Mit Micheal J. Smith, Jim Myron Ross, Tarra Riggs, Johnny McPhai. USA 2007, 96 Minuten. (Alle Termine)


Da freut man sich doch auf Elizabeth: Justin Chadwicks "The Other Boleyn Girl" (Wettbewerb)

Da kann man ja froh sein, dass in Deutschland die erste Bürgerin Angela Merkel heißt. Heinrich VIII. hätte die Republik schon längst ins Chaos gestürzt, wäre aus der Uno ausgetreten und hätte es sich mit China verscherzt. Und das alles wegen Natalie Portman!

Katharina von Aragon kann Heinrich VIII. keinen Sohn schenken - es gibt einige Geburten und Fehlgeburten während der zwei Stunden - und so will die ambitionierte Boleyn-Familie ihm die ältere Tochter Anne (Natalie Portman) als Geliebte empfehlen. Doch es ist Annes Tochter Mary (Scarlett Johansson), auf die Heinrich alias Eric Bana ein Auge wirft. Sie gebärt ihm sogar einen Sohn. Doch Anne feiert ein Comeback, verrät ihre Schwester und becirct den König so gründlich, dass er sie aus raffiniert unerwidertem Begehren schließlich vergewaltigt. Ach ja, zuvor annulliert er seine Ehe mit Katharina und bricht deshalb mit der römischen Kirche.



Das Ende ist bekannt. Als auch Anne keinen männlichen Erben produziert, sondern nur Elizabeth, die später die größte Königin Englands wird, ist sie protektions- und bald auch kopflos. Auch ihr Bruder musste dran glauben. Nur die blonde Schwester Mary überlebt. Die Familie aber ist ruiniert. Danke, Anne.



Der königliche Hof als Treffpunkt für ambitionierte High Potentials, als Talent Campus der Neuzeit, das hat Chadwick in "The Other Boleyn Girl" recht anschaulich dargestellt. Einen Platz an der Sonne zu ergattern, das war schon vor knapp fünfhundert Jahren ein Ziel, für das manche alles gaben. Ansonsten führt uns Chadwick die samtenen Meisterwerke der Hofschneider und die Wirkung früher Push-up-Techniken recht deutlich vor. Ein wenig steril wirkt der englische Hof aber trotz allem, man sieht, dass sich das Filmteam unter den Argusaugen der Verantwortlichen des National Heritage Trust bewegte, die jeden Fleck abgeplatzten Putzes mit ihrem Leben verteidigten.

Eric Bana scheint sich als König schrecklich unkomfortabel zu fühlen, Natalie Portman geht es in ihrer Rolle als ehrgeizige Intrigantin besser, und Scarlett Johansson ist einfach nur unschuldig, rein und verheult. Da freut man sich doch auf Elizabeth. Fortsetzung folgt.
Christoph Mayerl
Justin Chadwick: "The Other Boleyn Girl - Die Schwester der Königin". Mit Natalie Portman, Scarlett Johansson, Eric Bana, Kristin Scott Thomas, Mark Rylance, David Morrissey. USA Großbritannien, 2007, 115 Minuten. (Alle Termine)


Letzte-Lebenssekunden-Subjektive in Andrzej Wajdas "Katyn" (Wettbewerb)

Die Fakten sind in diesem Fall unumstritten, auch wenn man sie in Osteuropa jahrzehntelang nicht laut aussprechen durfte: Im Frühjahr 1940 haben die Sowjets über zehntausend polnische Offiziere und Zivilisten in einem Wald bei Katyn nahe Smolensk ermordet und in Massengräbern verscharrt. 1943 wurden die Gräber von Wehrmachtsoldaten entdeckt, aber die mit aller Brutalität in Polen durchgesetzte offizielle Sprachregelung lautete bis zum Ende der Sowjetunion, dass die Nazis die Täter waren. Historiker haben die Hintergründe des Massakers inzwischen aufgearbeitet. Und da es offenbar nicht nur hierzulande Kräfte gibt, die jeden wichtigen historischen Sachverhalt in die Form eines Historienfilms überführen zu müssen glauben, gibt es jetzt also Andrzej Wajdas "Katyn".



Wobei "Form" als Begriff ja fast schon zu viel der Ehre ist, nicht nur in hiesigen, in der Regel eher im Fernsehen auftretenden Fällen, sondern auch hier. Es werden eine Handvoll Schicksale ausgedacht, es werden heutige Darsteller in historische Kostüme gesteckt, es werden die Geschichten, die es zu erzählen gäbe, nach Maßgabe eines postulierten mittleren Zuschauerverstands aufs Exemplarische hin vereinfacht. Ein Qualitäts-Kameramann filmt das alles in gut ausgeleuchteten, schön anzusehenden Bildern, gelegentlich zur Unruheverdeutlichung mit der Handkamera. Es gibt Treue, Liebe und Tränen auf Seite der Deportierten wie der Verlassenen. Hin und her springt der Film zwischen dem Ehemann im Kriegsgefangenenlager und der zurückgelassenen Ehefrau in Krakau, die Nazis sind böse, die Sowjets auch, der Pole ist im Grund edel und gut oder im schlimmsten Fall als Verräter zum Selbstmord bereit.



Und untun druntur munkult dunkul dus Urchustur. Im tiefen Register streichen die Streicher, was solange der übliche musikillustrative Klischee-Schmarrn ist, bis es dann wirklich übel wird am Ende. Zuletzt nämlich will der vor langer Zeit einmal wichtige Regisseur Andrzej Wajda, der die filmischen Mittel dazu längst nicht mehr hat, doch noch hinein ins Herz der Finsternis. Minutenlang zeigt er die Erschießungsszenen im Wald von Katyn. Hier wackelt wieder die Handkamera, hier spritzt das Blut und einmal versteigt sich der Film gar zu einer letzte-Lebenssekunden-Subjektive eines Sterbenden. Der unbedarfte, aber ungemein fernsehtaugliche Historienfilm-Verkleidungs"realismus" schlingert nun endgültig über die Grenze, die das Dümmlich-Biedere vom Obszönen trennt. Auf die Bilder der Planierraupe, die die Gräber zuschüttet, folgen eine Schwarzblende und schwer sakrale Trauermusik.
Ekkehard Knörer
Andrzej Wajda: "Katyn". Mit Maja Ostaszewska, Artur Zmijewski, Andrzej Chyra, Jan Englert, Danuta Stenka. Polen 2007, 118 Minuten. (Alle Termine)


Höllische Gemeinheit: Philippe Claudels
"Il y a longtemps que je t'aime - I've Loved You So Long" (Wettbewerb)
Juliette hat ihren sechs Jahre alten Sohn getötet und dafür fünfzehn Jahre im Gefängnis gesessen. Kristin Scott Thomas spielt diese Frau, die nun entlassen und von ihrer jüngeren Schwester aufgenommen wird. Alles an ihr wirkt, als sei ihr im Gefängnis das Leben ausgesogen worden: Steinern und fahl ist ihr Gesicht, unter den schweren, müden Augen zeichnen sich Schatten ab. Ihre Gesten sind schlaff, unbeteiligt und abweisend. Familiäre Herzlichkeit geht ihr auf die Nerven, zu Kindern ist sie barsch. Kurz: Sie ist schweigsam und kalt.

Ihre Schwester ist das genaue Gegenteil: Lea lebt ihr Leben, wie man das eben so macht. Sie studiert, lernt ihren Mann kennen, findet einen Job und heiratet. Zwei Kinder hat sie auch, in Vietnam adoptiert: "Wir sind eine richtige kleine Benetton-Familie." Dass sie keine eigenen Kinder bekommen wollte, zeugt aber doch davon, dass Juliettes schreckliche Tat auch bei ihr traumatische Spuren hinterlassen hat. Die Eltern wollten nichts mehr mit Juliette zu tun haben, Lea haben sie verboten, Kontakt zu ihr Gefängnis aufzunehmen. Nun ist der Vater tot und die Mutter dement.



Bisher hat der Schriftsteller Philippe Claudel vor allem mit stimmungsvollen Romanen wie dem Genrebild "Die grauen Seelen" von sich reden gemacht. "Il y a longtemps que je t'aime" (Trailer) ist sein erster Film, und es geht ihm nicht um Kindstötung oder Muttermord. Er zeigt - leider muss man sagen, in der Qualität flacher Fernsehbilder -, wie eine Frau wieder zum Leben erweckt wird. Wie ihr Schwager allmählich die Angst verliert, sie mit seinen eigenen Töchtern allein zu lassen. Wie sie es schafft, Leere und Einsamkeit auszufüllen, wieder Kontakt zu anderen Menschen aufzunehmen. Anfangs ging sie sich eigentlich nur gern bei der Polizei melden. Hier muss sie niemanden etwas vormachen.

Es ist erstaunlich, wie Kristin Scott Thomas diese Juliette spielt, ihr das Leben erst aushaucht und dann allmählich wieder einhaucht. Das ist eine große Leistung. Umso wütender macht das Ende. Bis zum Schluss lässt einen der Film im Unklaren, wie und warum Juliette ihr Kind getötet hat. Und das war gut so. Nach fünfzehn Jahren im Knast hätte sie schließlich für jedes noch so niedere Motiv lange genug gebüßt. Doch wie Claudel in der Pressekonferenz nach dem Film erklärte, wollte er keinen Film für ein Spartenpublikum machen - und so erfahren wir im Film, dass Juliette völlig zu Unrecht ins Gefängnis gesteckt wurde. Wenn er eine miese Mörderin gezeigt hätte, meint Claudel, wäre dies ein Film für zehn Prozent des Publikums gewesen, er wollte aber ein größtmögliches Publikum erreichen. Was für eine höllische Gemeinheit gegenüber seiner eigenen Figur.
Thekla Dannenberg
Philippe Claudel: "Il y a longtemps que je t'aime - I've Loved You So Long". Mit Kristin Scott Thomas, Elsa Zylberstein, Serge Hazanavicius, Laurent Grevill. Frankreich, Deutschland 2007, 110 Minuten. (Alle Termine)


Verhandelt einen Tempelberg an Komplexen: Amos Kolleks "Restless" (Wettbewerb)

New York ist gar nicht die Hauptstadt der Psychiater, das wissen wir mittlerweile. Die Einwohner von Buenos Aires benötigen viel mehr Seelenklempner. Doch Woody Allen zählt mehr als dürre Zahlen, und so spielt "Restless" ganz zu Recht am Hudson. Denn dieser Film ist eine einzige Therapiesitzung. Auf der Couch finden sich nicht nur ein Vater und sein vernachlässigter Sohn, sondern ganz Israel, der Zionismus der Krieg und die besetzten Gebiete.

Wir lernen Moshe in keiner glänzenden Phase seines Lebens kennen. Vor zwanzig Jahren aus Israel nach New York gezogen, um es zu "schaffen", hat er gar nicht viel geschafft. Mit kleinen Gaunereien und noch kleineren Geschäften kann er sich gerade über Wasser halten. Und dann stirbt auch noch die Mutter seines einzigen Sohnes. Bei dessen Geburt war er verlassen geflohen. Moshes Sohn Tzach nimmt Kontakt zum unbekannten Vater auf. Tzach hat auch so seine Probleme. Mutter tot, Palästinenserkind niedergeschossen, Soldatenkarriere gescheitert, eigene Persönlichkeit in Trümmern.

Deshalb zeigt er seinem Vater wenig subtil, wie sehr er ihm die Abwesenheit übel nimmt (etwa mit dem freudianisch ergiebigen Familienfoto, aus dem Moshe ausgeschnitten ist). Moshe wird durch die Konfrontation mit seiner Vergangenheit aber nicht zerstört, sondern stimuliert. Plötzlich trägt er seine zornigen Gedichte vor wachsendem Publikum vor, sucht sich eine richtige Beziehung und aus dem kleinen Gauner wird ein sensibler Zuhörer. Am Ende kommt Tzach nach New York - und die Sitzung endet mit seinen karthatischen Tränen.

Sitzung beendet, Publikum erschöpft. Kollek bürdet seinem Film nicht nur einen Vater-Sohn-, sondern den ganzen Nahost-Konflikt auf. Es geht um verschiedene Generationen, Israels Sinnsuche, Patriotismus und die Berechtigung der Vaterlandskritik, um Verantwortung und Verzeihung, um gezielte Tötungen von Terroristen und gleich danach um nette Arabern, die ja eigentlich auch nur Spaß am Leben haben wollen.

Ein bisschen viel für einen Spielfilm. Der ist zwar solide gemacht, und Moshe Ivgy gibt seinem Namensvetter einen glaubwürdigen Hundeblick mit auf den Weg. Aber die Figuren bringt der Rucksack voller nationaler Probleme, den sie nie ablegen dürfen, fast zu Boden.

Vielleicht ist es heilsam für Kollek, diesen Tempelberg an Komplexen und Traumata zwei Stunden lang öffentlich zu verhandeln. Gut für den Film ist es leider nicht. Kollek ist mittlerweile von New York nach Israel gezogen, obwohl er die Stadt immer noch abgöttisch liebt, wie er sagt. Hoffentlich erdrückt ihn das Land und seine Traumata nicht ebenso wie es seinen Film erdrückt hat.
Christoph Mayerl
Amos Kollek: "Restless". Mit Moshe Ivgy, Ran Danker, Karen Young, Phyllis Sommerville. Israel, Deutschland, Kanada, Frankreich, Belgien 2007, 100 Minuten. (Alle Termine)